12.3.2012

Hiob und die Freiheit

(Themenanfang)

Wenn man nach "Hiob Freiheit" (o.ä.) googelt, landet man recht häufig bei einem Link auf mein Essay zum Freiheitsbegriff; bei meiner Deutung der Figur Hiobs. Ich google gelegentlich selber nach dem Thema, finde aber keine wirklich überzeugende Argumente gegen meine Darstellung, oder auch nur Belege dafür, daß sie sich nicht recht halten ließe; vielleicht außer diese (die meinen Standpunkt letztlich nur ergänzt):

Aber kann man Auschwitz und all die anderen Morde und Massentötungen allen Ernstes Gott anlasten? […] Wenn sich Böses nur auf Sünde und Schuld reduzieren ließe, könnte man die Probleme des schuldlosen Leidens leicht beiseite schieben. Im August 1999 starb in Tel Aviv im Alter von 56 Jahren der israelische Dramatiker Hanoch Levin.[…] Wie fast jedes seiner Dramen sorgte sein Mitte der 80er Jahre uraufgeführtes Stück "Das Leiden des Hiob", in dem er den Propheten nackt auf der Bühne agieren und schließlich aufspießen ließ, für Empörung und bescherte dem Autor den Zorn der Orthodoxie.

[…]

Das Zentralthema von Elie Wiesel (Jg.1928) ist seit seiner Befreiung aus dem KZ-Lager Auschwitz, das er als einziger seiner Familie überlebte, das Bezeugen und Deuten des Holocaust. […] An einer Stelle sagt Wiesel: Hiob hätte sich nicht unterwerfen sollen. Er sei wohl kaum eine historische Gestalt, nicht einmal ein Jude und dennoch von derart herausragender Bedeutung in der Bibel. Wiesel zieht daraus die Konsequenz: Falls Hiob kein Jude war, wird er es.

Ursula Homann (Hervorhebung von mir)

25.9.2011

Zur Rede des Pabstes vor dem Deutschen Bundestag

Die Rede des Papstes vor dem Deutschen Bundestag finde ich mehr als bemerkenswert:

Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.

Alles was recht ist: Benedikt XVI ist ein Poet (und das ist keinesfalls despektierlich oder ironisch gemeint). Die Fragen, die er aufwirft, stellt er nicht allein – und schon die Chupze, dies immer wieder zu tun, unbeirrt von Anfeindungen von so ziemlich allen Seiten der Gesellschaft, verlangt meinen Respekt.

[Kelsen] hatte gesagt, dass Normen nur aus dem Willen kommen können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten, wenn ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hat. Dies wiederum würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Natur miteingegangen ist. "Über die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig aussichtslos", bemerkt er dazu. Wirklich? - möchte ich fragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt?

Hier begegnet meine Sicht jener des Papstes: es gibt keine Normen, die die Naturwissenschaften (der „Positivismus“, in dessen Vokabular) vermitteln könnten – es gibt eben keine „objektive Moral“. Hier trennen sich dann auch die Wege: aus meiner Sicht kommt man auch ganz gut ohne solch ein Konstrukt aus.

Dem jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz - die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.

Der Appell, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, kommt mE. vom Mephisto höchstpersönlich. Wie man aus der Bibel lernen kann, hat diese Attitüde Gott selbst explizit in Frage gestellt.

(Bei „wallflowers zine“ gibt es eine lesenswerte Analyse des Papstbesuchs)

14.9.2011

Grundzüge der Volkswirtschaftslehre

Eigentlich war ich davon ausgegangen, daß es Sinn macht, Grundlagen der Mainstream-Volkswirtschaft zu lernen – und zwar aus der Perspektive, die Argumente jener zu verstehen, die meinen eigenen Einschätzungen diametral entgegen laufen.

Ich bin gelegentlich in der Lage, Meinungen anzuhören, die nicht meine eigenen sind, und kann mich zumindest solange für sie interessieren, bis ich sie verstanden habe. Ich habe also die Volkswirtschaftslehre von Mankiw & Taylor gekauft – ein Werk, das ein verbreiteter Standard für die Einführung im Studiengang Volkswirtschaft zu sein scheint – und hatte mir vorgenommen, mich dort hartnäckig durchzubeißen, bevor ich Kritik formuliere.

Ich bin bei dem Vorhaben nach der Lektüre von knapp zwanzig Seiten gescheitert.

Die Volkswirtschaftslehre verbindet die Stärken von Politik- und Naturwissenschaft. Sie ist im Wortsinne eine Sozialwissenschaft. Ihr Hauptgegenstand ist die Gesellschaft – wie Menschen über ihre Lebensführung entscheiden und wie sie zusammenwirken. Gleichwohl geht sie leidenschaftslos wie eine Naturwissenschaft zu Werke. Durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf politische Fragen sucht die Volkswirtschaftslehre bei den grundlegenden Herausforderungen voranzukommen, denen alle Gesellschaften gegenüberstehen.

Leidenschaftslos ist hier das Stichwort – als wenn Naturwissenschaftler je leidenschaftslos wären, und als wenn deren emotionaler Zustand irgendein Kriterium für die Qualität ihrer Forschung wäre. Schon an dieser Stelle (wo der Wert des wissenschaftlichen Ansatzes sich anscheinend daran bemisst, wieweit man es ablehnt, Subjekt im Erkenntnisprozeß zu sein) hätte ich die Lektüre besser abgebrochen.

Ökonomen gehen in der Regel davon aus, dass sich die Menschen rational verhalten. Rationale Menschen setzen unter den gegebenen Möglichkeiten systematische und zielstrebig alle Fähigkeiten und Fertigkeiten ein, um ihre Ziele zu erreichen.

Tatsächlich taucht in der Philosophiegeschichte immer wieder die Idee auf, daß man den Menschen als rational handelndes Wesen denken muß. Dabei ist man dort aber immer mit dem Versuch einer Erklärung zugange, warum er sich in der Historie in zahllosen Situationen eben nicht rational verhalten hat. Letztlich scheitert man dabei wieder und wieder – es bleibt bei einem Appell, es beim nächsten Versuch besser zu machen. – Als Ausgangspunkt für eine „wissenschaftliche“ Theorie der sozialen Verhältnisse ist das bestenfalls untauglich, wohl eher unbeholfen-lächerlich.

In seinem 1776 erschienenen Buch „The Wealth of Nations“ machte Adam Smith die berühmte und höchst bedeutsame Aussage: Haushalte und Unternehmen wirken auf Märkten zusammen, als ob sie von einer „unsichtbaren Hand“ geführt würden. Eines unserer Ziele mit dem vorliegenden Buch besteht darin, verständlich zu machen, wie die unsichtbare Hand ihren Zauber entfaltet.

...und spätestens hier verlasse ich dann die Veranstaltung. Es wird sehr mühsam, im Detail nachzuweisen, was hier alles prinzipiell falsch läuft:

Mankiw nennt drei Gründe, warum die „unsichtbare Hand“ manchmal versagt: Marktversagen entstehe durch „sogenannte Externalitäten“:

Eine Externalität ist die Wirkung der Handlungen einer Person auf die Wohlfahrt eines unbeteiligten Dritten. Das klassische Beispiel ist die Luftverschmutzung.

Eine zweite Ursache von Marktversagen liege in der Entstehung von „Marktmacht“, Monopolen.

Drittens:

Noch weniger befähigt ist die unsichtbare Hand dazu, den ökonomischen Wohlstand gerecht zu verteilen.[...] Die unsichtbare Hand garantiert nicht, dass jedermann genug zu essen, Kleidung und die notwendige ärztliche Betreuung hat.

Das benennt zumindest explizit, warum die Wirtschaftswissenschaften derzeit komplett versagen: wie man es hinbekommt, daß „jedermann” genug zu essen hat, interessiert hier niemand.

(Alle Zitate: Mankiw/Taylor. Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Stuttgart 2008.)

4.9.2011

Lass, Fürstin, noch einen Strahl



Im Werk J.S.Bachs gibt es einige Kantaten und Motetten, die für Begräbnisgottesdienste geschrieben wurden. Eine der berühmtesten ist vielleicht die anläßlich des Todes der Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, Christiane Eberhardine, geschriebene Trauerode BWV 198, „Lass, Fürstin, noch einen Strahl“ (ich höre gerade eine Aufnahme beim Schreiben).

In Johann Christoph Gottscheds Text heißt es : „Wie starb die Heldin so vergnügt!/ Wie mutig hat ihr Geist gerungen,/ Da sie des Todes Arm bezwungen,/ Noch eh er ihre Brust besiegt.“ - Bachs Musik auf den Text ist eine Arie in heiterer Melancholie

Heute redet man nicht vom Tod. Man nimmt vielleicht noch Anteil am Schicksal jener, die um den Verlust (sic!) von Menschen trauern, die ihnen nahe gestanden haben. Wenn es um den eigenen Tod geht, guckt man möglichst cool, und tut so, als hätte man sich – als Mensch der Moderne, dem eh jeder Gottesbezug abhanden gekommen ist – mit dem Unvermeidlichen abgefunden, und würde sich keine weiteren Gedanken machen. Im Nachhaken wird allenfalls noch eine Patientenverfügung zum Thema, in der dann festgehalten wird, daß man ein Koma mit allerlei Apparaten nicht künstlich verlängert lassen will. Man redet dann darüber, wo man persönlich die Grenze zwischen Leben und Tod gezogen hat – wo das eigene Leben noch lebenswert ist, bzw. wo man lieber gewiß tot wäre, als noch jene Maßstäbe der Medizin zu akzeptieren, die in einer Grauzone in der Definition von „Leben“ lavieren.

Auch im Barock jedoch – also in einer Zeit jenseits aller Zweifel an der Existenz Gottes – hat man jemanden hoch gepriesen, der selbst im Angesicht des nahenden Todes das Vertrauen an Gott nicht verlor. Die Fürstin, die in der Gewißheit stirbt, gleich vor Gott zu stehen, muß man dafür loben, daß sie „vergnügt“ ist – und muß sie immer noch weltlich trösten: „Doch, Königin! du stirbest nicht,/ Man weiß, was man an dir besessen;/ Die Nachwelt wird dich nicht vergessen,/ Bis dieser Weltbau einst zerbricht.“ - Das hört sich keinesfalls so an, als stehe für den Dichter dieser Verse eine Existenz nach dem Tod vollkommen sicher außer Frage.

Wo stehen wir heute? Wir denken über diese Fragen keine Minute mehr nach – bis sie uns selber treffen. Dann allerdings übernimmt nicht der von Gottsched gelobte „Geist“, der mit dem Tode ringt, sondern allein unser Körper, der bis zum letzten Atemzug sich nicht damit abfinden kann, daß etwas endet, was von Anfang an auf dieses Ende ausgerichtet war.

3.8.2011

Sinnzusammenbrüche

Schlomo schreibt:

Denke an die Mythologie, an die Heldenepen: Die Helden hatten entweder ein Ideal oder ein Schicksal, dass sie auf ihrem Weg begleitete, hervorgerufen von einer göttlichen Ordnung.

Es fragt sich ob solche Helden in der modernen Literatur- und Filmgeschichte nicht eher die Ausnahme als die Regel sind.

[...]

Die Erkenntnis: Wir haben nur uns - Wer wird sich da erheben? Damit gehen unsere "Pophelden" um. Der moderne Held hat es nicht leicht: Er wird entweder monströs oder lächerlich.

Ich kann da nur zustimmen, so wenig ich diese Bestandsaufnahme auch mag.

Die Helden, mit denen man es in den TV-Shows zu tun hat, sind auf den ersten Blick ja ganz anders gestrickt als jene der antiken Überlieferung. Besonders der third wave feminism in Buffy (graduell auch in Charmed) verbiegt das Heldenmythos auf eine Weise, die mir nur sympathisch ist – so sollten, in meiner Wahrnehmung, Helden der Moderne aussehen. Sie sind nicht mehr Übermenschen, die gegen die Bedrohung der Natur angehen, sondern Spiegelbilder von uns selbst, die mit Nöten zu tun haben wie wir selber. Mit ihren „Powers” gehen sie immer dann am besten um, wenn sie sich gegen jene Monster wehren, die verhindern, daß sie ein „normales” Leben führen. Buffy will nur ein Highschool-Girl sein, und die Hexen in „Charmed“ wollen eine Familie. Selbst Superman in „Smallville“ ist nur ein Highschool-Schüler, der mit seinen Powers hadert, und mit dem Wertekanon seiner Eltern mehr beschäftigt ist als mit seiner Fähigkeit, eine Eisenbahn vor dem Absturz in die Tiefe zu retten, indem er sie einfach auffängt.

In allen drei erwähnten TV-Shows gibt es je eine Folge, in denen die Protagonisten mit der Realität auf denkbar brutalste Weise konfrontiert werden: sie landen in einer parallelen Realität im Irrenhaus, wo ihnen beigebracht wird, daß ihr Heldentum auf einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung beruht.

Ich habe vor, mir diese Episoden mal genauer anzuschauen.

[Wird fortgesetzt]

29.4.2011

Themensammlung: Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie (4)

(Themenzusammenhang)

- 10 -

Die Grundprämisse des Radikalen Konstruktivismus lautet, daß Realität nur existiert, wenn es jemanden gibt, der sie beobachtet. Das Einzige, was man als gegeben annehmen kann, sei das Feuern der Neuronen im Gehirn. Alles andere, inklusive der Wahrnehmung der Sinne, sei ein Konstrukt, und alles, was uns als Objektivität entgegentritt, lediglich eine Projektion des subjektiven Bewußtseins. Erstaunlicherweise stammt diese Sichtweise von Vertretern der sog. „harten“ Naturwissenschaften, u.a. Kybernetiker und Physiker (Heinz von Förster), Mathematiker (Ernst v. Glaserfeld) und Biologen (Humberto Maturana). Damit ist dies ein erkenntnistheoretischer Ansatz, der die scheinbar unvereinbaren Welten von „harten“ Naturwissenschaften und „weichen“ Geisteswissenschaften unter einem gemeinsamen Dach zusammenzubringen verspricht.

- 11 -

Der sog. „gesunden Menschenverstand“ steht vor diesem Konzept zunächst mit tiefstem Mißtrauen: wenn alles nur noch Konstrukt ist, wo bleibt dann die Wirklichkeit?

Dabei ist der Konstruktivismus lediglich eine weitere Stufe in der beständigen Demütigung des Menschen durch Theorien, die ihn immer weiter aus dem Zentrum der von ihm nur scheinbar beherrschten Welt drängen. Anfangs stand die Erde im Zentrum des Weltalls, und der Mensch war Ebenbild Gottes; bald darauf war die Sonne im Mittelpunkt eines Sternensystems am Rande der Milchstraße, und im 20.Jh befand man sich schließlich in einer unbedeutenden Galaxie unter Milliarden anderer. Auch das Selbstbewußtsein, das garantierte, daß der Mensch zu freiheitlichem, selbstbestimmten Handeln in der Lage war, rückte an den Rand: Freud zeigte, daß das „Ich“ keinesfalls „Herr im eigenen Haus“ ist, sondern von triebgesteuerten und gesellschaftlich vermittelten Instanzen geradezu in die Zange genommen wird.

- 12 -

Konstruktivismus, Systemtheorie und linguistic turn vollziehen einen grundlegenden Bruch mit der Idee einer wie auch immer beschreibbaren „Objektivität“; damit auch der Idee einer wie auch immer erreichbaren „Wahrheit“; auch der letzte Versuch, hier noch etwas zu retten, Kants Wort vom „Ding an sich“, erweist sich als überflüssige Metaphysik.

- 13 -

Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie ist für die Naturwissenschaften letztlich nur insofern interessant, als er ihren Gültigkeitsbereich – ein weiteres Mal – in die Schranken verweist. Für die Theorie der Gesellschaft stellen sich aber zwei grundlegende Fragen: wenn die Erkenntnisse nicht Spiegel der objektiven Welt sind: für wen sind sie? und aus welchem Grund, bzw genauer: aus welchem Interesse?

Luhmanns Theorie der sozialen Systeme stellt m.E. ein gutes Beispiel dar, wohin man kommt, wenn man einerseits zu wissen behauptet, daß jeder Beobachter der Gesellschaft nie neutral, sondern immer gleichzeitig ein Teil von ihr ist, andererseits aus einer professoralen Distanz die Dinge betrachtet: da entsteht eine vermeidliche Neutralität, die die Verhältnisse affirmativ fortschreibt, statt sie kritisch, d.h. in der Suche nach Alternativen, zu hinterfragen.

26.4.2011

Themensammlung: Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie (3)

(Themenzusammenhang)

- 8 -

Ohne Sprache gibt es kein Denken, kein Erinnern, kein Planen für die Zukunft. Dabei gibt es sehr wohl eine Wirklichkeit ohne Sprache, gewissermaßen vor bzw. jenseits menschlichen Denkens. Es gibt eine Ebene der kreatürlichen Erfahrung, für die es keine Sprache gibt, ja geben kann. In erster Linie meine ich hier die Erfahrungen von Schmerz und Hunger, die stattfinden, bevor man über sie spricht, und die im Verlauf der Diskurse eine merkwürdige Entfremdung erfahren: ein Opfer von Gewalt wird sich in all den Diskursen, die man über seine Erfahrung führt, nicht wiederfinden. In zweiter Linie geht es mir um bestimmte Fähigkeiten, die man erlernen kann, ohne daß man verstehen könnte, wie. Gemeint ist hier z.B. das motorische Vermögen, das man braucht, um Geige zu spielen, oder ein Motorrad zu fahren: man kann das, aber man kann nicht erklären, wie das geht.

- 9 -

Eine Definition von Kommunikation, die darauf verzichtet, den Begriff der Herrschaft mitzuführen, greift entscheidend zu kurz. Zum einen ist herrschaftsfreie Kommunikation eine Utopie, ein bloßer Sonderfall all jener Diskurse, in denen ein Herrschaftsgefälle, ein Machtungleichgewicht existiert. Auch ein Befehl, der verstanden wird, ist, Luhmanns Definition zufolge, Kommunikation. Wenn man darüber hinweggeht und darauf verzichtet, die genaue Stelle zu beschreiben, in denen ein bestimmter Diskurs zwischen den Extremen „herrschaftsfreie Kommunikation“ auf der einen und „Befehl und Gehorsam“ auf der andere Seite stattfindet, blendet man die alles entscheidende Dynamik aus. - Zum anderen reproduzieren die Diskurse nicht einfach die sozialen Systeme, sondern bestätigen und verfestigen auch die Strukturen von Herrschaft. Dies geschieht (zumal in der Moderne) zum einen in den Diskursen um das Recht, in denen maßgeblich die Regeln für die konkrete Ausübung der Macht festlegt und durchgesetzt werden; zum anderen in all jenen Debatten, die sich um die Legitimität der jeweiligen Form von Herrschaft kümmern (und sich in erster Linie um Fragen der Moral drehen).

24.4.2011

Themensammlung: Konstruktivismus und Gesellschaftstheorie (2)

(Themenzusammenhang)

- 6 -

Es gibt ebenso viele Beschreibungen eines Sachverhalts, wie es Beobachter gibt. Eine Beschreibung kann in sich konsistent, logisch in ihrem Verhältnis zum Gegenstand sein, etc. - sie wird niemals „wahr“ in Bezug auf den Gegenstand sein, sondern allenfalls „richtig“ in Bezug auf das Interesse des Beobachters. - Die Beschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse aus den Augen eines Gewerkschafters unterscheidet sich erheblich von jener aus unternehmerischer Sicht. Trotzdem ist nicht die eine Sicht wahr, und die andere unwahr. Vielmehr – sofern es sich um jeweils ehrliche Analysen handelt, und nicht etwa um Statements im Sinne von politischer Lobbyarbeit für die Durchsetzung der eigenen Interessen – sind beide Positionen gleichermaßen richtig. - In der Praxis findet man nicht selten einander widersprechende Beschreibungen ein und desselben Sachverhalts durch verschiedene Beobachter, die gleichermaßen logisch, in sich konsistent etc. sind. Um Stellung zu beziehen, erklärt man sich mit einem der Beobachter solidarisch. Man teilt dessen Interessen.

- 7 -

Es gibt Beschreibungen desselben Sachverstands, die sich im historischen Bezug unterscheiden. Dabei ist die historisch jüngere Position nicht „wahr“, und die ältere nun „unwahr“ und widerlegt. Sie sind beide immer nur „richtig“, und zwar in Bezug auf ihr historisches Koordinatensystem. - Die Beschreibung der Himmelsmechanik durch Keppler ist in sich konsistent, logisch etc.; sie ist jedoch nicht „wahr“ im Sinne von „wahr für alle Ewigkeit“; sie ist „richtig“ in Bezug auf Keppler und den Stand der Möglichkeiten bei der Beobachtung des Himmels, des Standes der Theorie etc., zu seiner Zeit. Dasselbe trifft zu für Einsteins Theorie – sie ist ein gutes Beispiel, wie eine wissenschaftliche Theorie ihren Vorgänger nicht einfach ersetzt, sondern entscheidend bereichert.


Start - Neuere Einträge - Ältere Einträge
(Seite 1 von 17 / 133 Einträge)