Klang, Sound

Sound


Es fällt auf, wie sehr es dem Popbereich um Klang - „Sound” - zu tun ist - und wie ihn die Welt der Klassik gelegentlich als unerheblich verachtet. Sicherlich hat der Cellist und der Geiger eine Vorstellung davon, wie sein Instrument „klingen” soll, gerade in die Bogentechnik wird viel Mühe investiert. Auch die Rede vom „kultivierten Anschlag” beim Klavierspieler hebt die Rolle des Klanges hervor. Dennoch bekommt Klang nur selten eine strukturelle, d.i. inhaltliche Bedeutung verliehen. Wenn Musiktheoretiker über „Klassik” sprechen, ist viel von Formverläufen, Agogik, Techniken der Polyphonie und des Satzes etc. die Rede. Der klangliche Aspekt spielt erst dann eine Rolle, wenn es um die konkreten Musiker geht („schöne Stimme” etc.).

Umgekehrt ist im Pop Sound alles. Ich kenne keine Analyse, die sich mit strukturellen Dingen in dieser Musik beschäftigt, dagegen eine Vielzahl popkultureller Versuche, sich über den Sound dem Wesen einer bestimmten Band, einer bestimmten Stilrichtung, gar einer ganzen Epoche zu nähern.

In meiner Zeit im Jazz habe ich mich ständig mit „Sound” beschäftigt; es ging darum, die besten Saiten für den besten Bass zu finden, ich habe mit Verstärkeranlagen und Effektgeräten, später auch mit Synthesizern und Samplern experimentiert.

Ich erinnere mich an einen (sehr langen) Abend, an dem ich mit einem Freund an den Synthesizern neue Sounds programmierte. Mit einem bestimmten Klang im Sinn drehten wir an den Knöpfen, und hörten immer wieder dieselben Töne vom Sequencer. Nach Stunden, in denen wir uns gegenseitig wieder und wieder bestätigten, das wir der Vorstellung immer näher kämen, merkten wir plötzlich, daß wir an den Knöpfen eines anderen Synthies drehten, einem, der gar nicht über die Anlage zu hören war (wir waren einen Moment total verblüfft - und fanden das kurz darauf brüllend komisch).

Eine ähnlich gelagerte Geschichte habe ich mit einem - guten, ausgebildeten - Sänger erlebt, der darauf beharrte, daß ich ihn ausschließlich mit dem Klavier begleite. Irgendwann hat er ein Beispiel vorgespielt, wie er sich das „Piano-only” vorstellt: eine komplette Band, akustische und elektrische Gitarren, Schlagzeug, Holzbläser, das komplette Programm, freilich getragen von einem im Vordergrund stehen Klavier. Der Mann war völlig überrascht, als ich ihm die Klangstruktur des Stückes nach und nach zeigte: er hatte all das tatsächlich nicht gehört. Ein guter, ausgebildeter Musiker.

Einverstanden: das erste Beispiel ist etwas besser, weil es über die Wahrnehmung nur von Klang berichtet. Der Punkt, daß man lediglich jene Aspekte von Musik hört, von denen man weiß, bezieht sich auf alle Ebenen, auch auf die strukturelle. Ich denke aber, daß die klangliche Ebene die subjektivste von allen ist, weil auch bei gut ausgebildeten Musikern das Ohr zuweilen Dinge tut - Sachen zurecht-rückt und -hört -, die komplett am Bewußtsein vorbei laufen.



Natur


Klang ist der rohe, ungeformte Bereich von Musik. Sein Begriff beschreibt jene Ebene, die vor der Komposition steht, und zu der eine Komposition letztlich wieder wird. In gewisser Weise ist er der Urgrund oder die Natur alles Hörbaren, welche durch menschliche Arbeit geformt und zu Musik gemacht wird.

Wenn man vom „Klang einer Geige” spricht, meint man damit keine bestimmte, sondern jede Musik, sofern diese von eben diesem konkreten Instrument gespielt wird. Auch hier bezeichnet die Kategorie etwas un- oder, genauer, übermusikalisches. Sie steht vor der Entstehung von Musik, gleichzeitig ist sie deren Resultat.

Klang ist übrigens viel eher der Naturgrund von Musik, als der dort häufig angesiedelte Rhythmus. Wer die vermeintliche Archaik des Rhythmischen betont, sieht den ekstatisch tanzenden Menschen, und bringt dessen Ekstase mit der Musik in Verbindung. Beim Tanzen passiert jedoch dasselbe wie beim Laufen, beim (Ausdauer-)Sport: der Körper genießt die Glücksgefühle des Runner's High. Die Ursache ist der menschliche Körper, die Musik allenfalls äußerlicher Umstand.

Beim Hören ist zunächst der Verstand damit beschäftigt, aus dem Urzustand der klanglichen Ebene die Strukturen herauszuarbeiten, die musikalischen Sinn konstituieren. Das bedeutet nicht, daß der Hörende mit beständig wachen Sinnen stets am Analysieren wäre. Wo sich ein Fahranfänger mittels einer Analyse der Bewegungsabläufe das Schalten verdeutlichen muß (nur um den Motor trotzdem immer wieder abzuwürgen), da muß ein ungeübter Hörer den rohen Klang analysieren, um in ihm musikalischen Sinn zu finden. Wie aber ein erfahrener Autofahrer mit unbewußter Selbstverständlichkeit die Kupplung tritt und die Gänge wechselt, so ordnet der geübte Hörer Themen und harmonische Verläufe in die musikalische Struktur, ohne denken zu müssen.

Wenn man eine historische Plattenaufnahme hört – etwa noch in Schellackzeiten entstanden, monophon, entsprechend verknackst und verrauscht –, macht man etwas, was das Ohr ohnehin immer tut: man hört sich Dinge zurecht. Das Ohr hat nämlich die bemerkenswerte Fähigkeit, Dinge zu hören, die gar nicht da sind (über das ebenso erwähnenswerte Überhören von Dingen hatte ich schon gesprochen). Auf der historischen Aufnahme wird man nicht ernsthaft den Klang eines Orchesters finden – dennoch ist man in der Lage, genau solch ein Orchester zu hören, und zwar sogar mit Genuß. Der Hörer holt die benötigten Informationen in diesem Fall eben nicht aus dem Klangerlebnis, sondern aus der Erinnerung. Um Musik genießen zu können, braucht es eben nicht der klanglichen Ebene; dazu reicht vielmehr, die Formen und Strukturen erkennen zu können.

In letzter Instanz sind das, was klingend Musik heißt, und die Realität des Klanges in der physikalischen Welt, einander völlig fremd.



HiFi


Wenn man Musik hören will, tut man das am besten im Konzertsaal. Nur dort bekommt man wirklich einen Eindruck von den Feinheiten des Klanges akkustischer Instrumente - vom Umfang der Dynamik ganz zu schweigen, die gerade bei einem großen romantischen Orchester alles übersteigt, was auf CD darstellbar wäre (selbst wenn das ginge, bräuchte man äußerst tolerante Nachbarn). Ganz ungetrübt ist das Vergnügen leider auch hier nicht: über das Leiden an Konzertbesuchern neben und hinter mir, die mit dem Programmheft oder gar der Zelluphanhülle ihrer Bonbons knistern, könnte ich lange lamentieren.

Meistens höre ich Musik zuhause. Dabei gehöre ich weder jener Fraktion an, die keinen Wert auf die Stereoanlage legt und völlig glücklich mit billigstem Equipment lebt, noch jener, die Zehntausende in ihre HiFi-Anlage steckt: auf meinem Schreibtisch stehen zwei (aktive) Studiomonitore, die die CD sehr exakt so wiedergeben, wie sie aufgenommen wurde. Teures HiFi-Gerät hat m.E. immer die Tendenz, den Klang zu „verschönern” –- manchmal, indem sie Bässe und Höhen hinzufügt, um den Klang brillianter zu machen, manchmal, indem sie bestimmte Mittenbereiche künstlich anhebt, die für eine künstliche „Wärme” sorgen (das ist typisch für viele Marken aus UK). Für Studios konzipierte Monitore versuchen hingegen, so trocken und objektiv zu sein, wie dies nur möglich ist: sie dienen schließlich dazu, dem Tontechniker Kontrolle zu geben.

Auch mein „Studioansatz” funktioniert natürlich nur dann, wenn die Technik während der Aufnahme mitspielt. Es gibt da große Unterschiede, selbst wenn man meinen könnte, mit der heute zu erschwinglichen Preisen verfügbaren digitalen Hard- und Software würde sich das nivellieren. Entscheidend ist aber nicht die Technik, sondern der Techniker. Es gehört viel Know-how und Erfahrung dazu, die Mikrophone so zu positionieren, daß hinterher die Räumlichkeit wieder hergestellt werden kann; dasselbe gilt für Verfahren, via Kompression wenigstens die Illusion ungeschmälerter Dynamik zu erzeugen. – Ich habe nur eingeschränkten Einblick in die Arbeit von Toningenieuren, gerade genug, um diese zu bewundern (hörend kann ich sehr wohl zwischen Genie und Stümper unterscheiden - ich kann es bloß selbst mit dem Stümper handwerklich nicht aufnehmen).

Es müßte deutlich sein, daß ich großes Gewicht auf klangliche Exzellenz lege – für mich ist das Erlebnis von Musik unbefriedigend, wenn ich auf einer Metaebene mitbekommen muß, wie mein Ohr immer wieder berichtigt und Dinge zurecht hört. Zufrieden bin ich erst dann, wenn mein Kopf nichts mehr zu tun hat.



Struktur


Klang läßt sich schwer objektivieren. Warum man – als Beispiel – eine Stimme schöner findet als eine andere, läßt sich kaum begründen. Man kann allenfalls technische Begriffe wie Sicherheit der Intonation, Tonumfang, gleichmäßige Durchschlagskraft über den gesamten Tonumfang u.ä. anführen, und hat dabei aber noch kein Wort über die „Schönheit” einer Stimme gesagt oder das „Berührtsein” durch sie.

Dennoch scheinen objektive Kriterien zu existieren, die über die Qualität von Klang Auskunft geben, denn es ist bemerkenswert, wie einig sich in der Regel Hörer sind, wenn sie ihr Urteil abgeben (ich rede jetzt von Hörern mit einer musikalischen Ausbildung und mit vergleichbarer Erfahrung).

Ich versuche es mit einem Umweg: vor einiger Zeit fand im Usenet eine (erbitterte) Debatte statt, in der es um die Zuordnung von Johannes Brahms als „Traditionalisten” oder „Fortschrittlichen” ging. Die eine Fraktion argumentierte, daß dem „Gefühl” nach Brahms eher an Beethoven erinnere, und sich gegen Wagner oder Liszt als nicht sonderlich zukunftsorientiert erweise. Die andere (größere) Fraktion analysierte Brahms Technik, aus winzigen Motiven ganze Sätze, ja ganze mehrsätzige Werke abzuleiten, als ein Verfahren, auf das auch Arnold Schönberg in seiner Rede „Brahms, der Fortschrittliche” verweise.

Nun kommt man in einer Usenet–Diskussion nicht sonderlich weit, wenn man sich auf sein „Gefühl” beruft – man wird da mit wenigen Handgriffen auseinander genommen und nicht wieder zusammengesetzt. Trotzdem war bemerkenswert, wie sehr auf diesem „gefühlten” Klassizismus Brahms gepocht wurde – einer der Teilnehmer konnte einfach nicht begreifen, warum ihn die anderen nicht verstehen, obwohl er keine Argumente mehr hatte. – Ich glaube, daß ich diesen Dissens mittlerweile auf seine Begriffe bringen kann: die eine Hälfte diskutierte über Strukturen, die andere über Klang.

Wenn man sich eine Klaviersonate von Beethoven anhört, danach eine von Brahms, dann ist der Sound recht ähnlich, beides ist „klassisches Klavier”, wie selbst ein unbewanderter Hörer sofort assoziieren würde. Wenn ich hier eine von Wagner dagegenstellen will, stecke ich in der Falle – Wagner hat eben nichts für Klavier oder irgend eine andere kammermusikalische Besetzungen geschrieben. Der typische Wagnersound ist ohne großes Orchester überhaupt nicht denkbar, er braucht die tremolierenden Violinen, Harfen, und tiefen Hörner (um das mal auf sein Klischee zu reduzieren).

Das Gegenexempel kann man übrigens auch finden: H.W.Henze hat die Wesendonck–Lieder Wagners neu instrumentiert[1]. Das ist Note für Note Wagner – und hat mit dem überhaupt nichts zu tun. Statt spätromantischem Riesenorchester begegnet man einem von zahllosen Schlaginstrumenten, Xylophonen und Marimbaphonen dominierten Orchester, welches den Hörer unversehens in die Klangwelt des ausgehenden 20. Jahrhunderts buxiert und kaum eine Assoziation mit Tristan–Sehnsucht weckt, für die diese Lieder ja Vorversuche anstellen.

Struktur ist die Seite der Musik, Klang die Seite ihrer Wahrnehmung, und wenn man beides in einen Topf rührt, gerät man in Streit, weil man aneinander vorbeiredet. Das ist natürlich kein Vorrecht von Musikenthusiasten – und damit meine ich jetzt nicht die Lust, den anderen nicht verstehen zu wollen, sondern das Vorrecht auf den Fehler, die Sache nicht von ihrer Wahrnehmung zu unterscheiden.

  1. [1] Keine CD–Referenz, leider. Ich habe eine Aufführung irgendwann im Fernsehen gesehen. Nachtrag: Mittlerweile habe ich doch noch eine Aufnahme gefunden.
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Klang


Wenn ich die Wahl habe, ist es leicht: dann gehe ich in die Hamburger Musikhalle und höre ein Orchester oder einen Pianisten live. Meistens habe ich diese Wahl aber nicht, und bin auf eine Konserve im Wohnzimmer angewiesen.

  • Musik findet statt in den Köpfen; sie hat aber ihren Ausgangspunkt im Raum - dort, wo der Klang entsteht.
  • Partituren sind Hilfsmittel (und dies auch nur in der abendländischen Musiktradition, keineswegs universell), nicht Zweck: Musik erklingt; alles, was davor (Schreiben von Partituren) oder danach (Kritik) erfolgt, ist sekundär, Ursache oder Folge, nicht das, um das es letztlich geht.
  • Musik ist Klang in der Zeit.
  • Musik ist Klang.

Mit Kant müßte ich jetzt darauf hinweisen, daß diese scheinbar objektive Ebene nur existiert, weil es einen Beobachter gibt, der sie subjektiv, in sich, vermittelt. Es gibt kein Klavier, das sich selber spielt; und darüber hinaus - und dies ist eine keinesfalls triviale Erkenntnis - gibt es immer jemanden, der dabei zuhört. - Aber das ist ein völlig anderer Aspekt desselben Themas.

Nochmals: Musik ist Klang, welcher von der abstrakt gemalten Partitur bestenfalls vertreten, niemals ersetzt werden kann. Wenn ich Musik erlebe, sind meine Ohren weit geöffnet: ich höre hin; ich weigere mich, die Dinge zurecht zu hören, ich instiere da auf das, was erlebbar ist.

Die Hüsteleien der Konzertbesucher kann ich ebensowenig "weghören" wie die Unzulänglichkeiten in der technischen Reproduktion von Musik durch CD-Player, Boxen, usf. "Historische Aufnahmen" mögen interessant sein: sie sind nicht "anhörbar" für den, der seine Sinne nach außen richtet - der die Dinge wahrnimmt, wie sie sind, und nicht so, wie sie seinem Vorurteil gemäß erscheinen sollen.



Analyse


Links sieht man einen simplen d-moll Akkord - nichts geheimnisvolles also, und in einer harmonischen Analyse jederzeit eindeutig einem Zusammenhang zuzuordnen - so sollte man meinen.

Wenn man den höchsten Ton eine Oktave nach unten transponiert, ergibt sich eine Umkehrung dieses Akkords - den sog. Quart-Sext-Dreiklang in diesem Fall.

Das Ohr nimmt dieses Konstrukt nicht mehr ohne weiteres als in sich ruhenden Dreiklang war. Vielmehr hört sich dies nach einem doppelten Vorhalt an - einem Spannungsgebilde also, das sich erst auflösen muß. So kennt dies auch die klassische Harmonielehre, und bezeichnet es auch so: als Quart-Sext-Vorhalt - Gleiche Noten ergeben also keinesfalls eine identische klangliche Wirkung.

Nun sind die Noten in diesen Beispielen ja keineswegs exakt die gleichen, sondern unterscheiden sich ausgerechnet im tiefsten Ton. Tatsächlich spielt der Baß eine entscheidende Rolle für das harmonische Fundament - was sich auch leicht erklären läßt: die Obertöne [1] aller Töne in einem Akkord spielen eine große Rolle für die klangliche Wirkung, sie überlagern sich mit den „tatsächlichen” notierten Tönen zu einem Gemisch, das in einer Spektralanalyse deutlich sichtbar wird. - Dort sieht man dann, daß von der Baßnote „A” ein A-Dur-Dreiklang ausgeht, in dem das „D” und das „F” des d-moll als dissonierende Töne erscheinen.

Worauf ich hinaus will: diese Überlagerungen werden in einer Spektralanalyse deutlich, nicht jedoch in der Lektüre des Notentextes. - Zunächst ist der simple Fall eines Quart-Sext-Vorhalts der Theorie ja sogar durchaus bekannt, so daß sie ihn idR auch richtig einordnen kann. Meistens.

Links ist dies immer noch derselbe d-moll-Akkord, diesmal aber über mehr als vier Oktaven verteilt, und mit einer derart tief gesetzten Baßnote versehen, daß sie auf einem Klavier schon geräuschhaft klingt. Das hört sich (nach einem kurzem Lauf) so an (MP3, 80kb), und taucht in dieser Form im langsamen Satz von Schuberts Klaviersonate D 959 auf. Das ist nicht mehr als Dreiklang erkennbar, erschließt sich in keiner harmonischen Funktion, sondern erscheint als härteste Dissonanz - tatsächlich ist diese Stelle die äußerste Steigerung einer Passage, die mit verminderten Septimakkorden überhaupt beginnt

Spätestens hier ist die klassische Analyse harmonischer Verläufe am Ende - und wir schreiben gerade mal das Jahr 1825.

  1. [1] Zum Thema „Obertonreihe”: in der Wikipedia ist das Thema reichlich stiefmütterlich behandelt, und der von Google präferierte Link erklärt das Phänomen zwar ganz richtig und anschaulich, zieht aber eine Schlußfolgerung, die man kaum so stehen lassen kann („Der Dur-Akkord ist somit naturgegeben”). - Ich habe mittlerweile zu dem Thema einen eigenen Glossar-Eintrag geschrieben.


Konzertflügel


Das Steinway-Haus war lange Jahre mitten in der Hamburger Innenstadt beheimatet. Als es vor einigen Jahren in den Norden Altonas umzog, war das für mich ein echter Verlust, weil ich dort meinen Bedarf an Notenmaterial gedeckt hatte. Es gibt zwar Alternativen - aber die ersetzten nicht jene Aura, die entstand, als ich die Treppen zur Notenabteilung im Untergeschoß hinabstieg, nachdem ich zuvor im Verkaufsraum der Versammlung von Klavieren und Flügeln begegnet war.

Freitagabend war ich zum ersten Mal anläßlich eines Konzerts in den neuen Räumen. Da ich deutlich zu früh angekommen war, bin ich ehrfürchtig an den großen Konzertflügeln vorbeigebummelt - bis ich es nicht mehr aushalten konnte und fragte, ob man denn die Instrumente anspielen könne. Das war selbstverständlich möglich, und als ich ein paar Akkorde im Stehen gedrückt hatte, kam jemand (die Leiterin des Hauses, wie sich später herausstellte), und brachte mir eigens einen Klavierhocker.

Ich habe noch nie in meinem Leben vor einem echten, großen Konzertflügel gesessen. Gehört habe ich sie schon oft, von unterschiedlichsten Herstellern und von verschiedenen, auch großen Pianisten gespielt, und ich kann z.B. den Klang eines Bösendorfers von dem eines Steinways unterscheiden. Aber ich habe halt noch nie selber gewissermaßen Regie über den Klang eines solchen Instruments geführt - und wenn man dazu die Gelegenheit bekommt, ist das schon eine ganz erstaunliche Erfahrung.

Wenn man einen Ton im Baßbereich anschlägt und die Taste gedrückt hält, muß man große Geduld aufbringen, bis der Ton endgültig zuende geht - über solch ein langes Sustain verfügt nicht einmal eine verzerrte, stark komprimierte E-Gitarre. Die Klangfülle, die sich selbst bei hauchzart angeschlagenen Akkorden entfaltet, kann mir die Tränen in die Augen treiben, von dem ganz zu schweigen, was einem entgegenkommt, wenn man wirklich in die Tasten haut. Dabei klingen auch solche brutal-laut gespielten Klänge immer noch kultiviert und fordern geradezu dazu heraus, innerhalb des Fortissimos nach den Nuancen zu suchen und den Anschlag leicht zu variieren. In den tiefen Registern kann man Dissonanzen in den Akkorden verstecken, die auf keinem Klavier der Welt noch durchhörbar wären, auch nicht mit noch so aufwändig gemachten Samples, beim Versuch einer Simulation im Computer. Aber auch die allerhöchsten Lagen sind kontrolliert brauchbar, und bieten eben nicht diesen perkussiven und geräuschbehafteten Klang, den man von einfachen Klavieren gewohnt ist.

Die ca. 80.000 Euro, die man in solch ein Instrument investieren muß, würde ich wahrscheinlich irgendwie finanziert bekommen, und es ist gut möglich und ich ginge schon morgen zur Bank - wenn es nicht ein Problem gäbe, das sich definitiv nicht lösen läßt: der Wohnraum, den ein Flügel für sich in Anspruch nimmt, fordert einen Lebensstil, bei dem der Preis für das Instrument eine untergeordnete Rolle spielt.

Ich schildere dieses Erlebnis so ausführlich, weil es ein Problem im systemtheoretischen Umfeld betrifft, mit dem ich augenblicklich beschäftigt bin. Man kann ja das System, das der Spieler und das Klavier bildet, relativ einfach beschreiben: es gibt den primären Regelkreis, bei dem die Hände des Pianisten mittels der Tastatur und einer mit ihr verbundenen Mechanik Saiten zum Schwingen bringen, wodurch Klang entsteht. Der sekundäre Regelkreis, der den primären steuert, besteht einfach aus den Ohren (Sensor) und dem Bewußtsein/Unterbewußtsein (Regler), die miteinander verdrahtet sind. Das große Problem ist hier aber die Frage nach dem Sollwert, den das System annehmen soll. Den 20 Grad, auf die eine automatische Heizungsanlage eingestellt wird, entsprechen im Mensch-Klavier-System die Kategorie von der größtmöglichen „Qualität des Klangs”.

Spätestens hier muß man die Einfachheit von mechanischen Beschreibungen verlassen, wenn man das Phänomen systemtheorisch beschreiben will.



Doktor Faustus


Thomas Mann spekuliert im „Doktor Faustus” über das Verhältnis von Klang und Struktur in der Musik, wobei er von der Beobachtung ausgeht, daß längst nicht jeder Aspekt einer Partitur hörbar zu machen sei. Vieles dort sei ausschließlich dem Auge nachvollziehbar, kontrapunktische Spielereien etwa, wo von zwei Stimmen eines Satzes die eine der Krebs der anderen ist, oder bestimmte Zahlenspiele in der Barockmusik. Musik erschöpfe sich keinesfalls in der Sinnlichkeit des Klangs, sondern habe eine weitere, visuelle Ebene.

Er geht einen Schritt weiter und vermutet, daß Musik die geistigste aller Künste sei, wobei ihr klanglicher Aspekt gelegentlich sogar ein unerwünschter, gleichwohl notwendiger Nebeneffekt ist. Sie habe eine „heimliche Neigung zur Askese”, und strebe auf einen Zustand, wo sie bar jeder sinnlichen Verwirklichung ist, „Musik schlechthin, Musik in reiner Abstraktheit”.

Thomas Mann erzählt in indirekter Rede von einem Vortrag des Lehrers von Adrian Leverkühn, Kretzschmar:

Vielleicht, so Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemüts, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, einer Kundry, die nicht wolle, was sie tue, die weichen Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge[1].

Aus diesem Zusammenhang erklärt Thomas Mann seine Wertschätzung von reiner Klaviermusik, die seinem Ideal von vollständiger Abstraktion wohl am nähesten kommt. Das Klavier sei - weil ihm jede Möglichkeit der Modulation oder Lautstärkenveränderung eines einmal angeschlagenen Tones fehlt - am ehesten in der Lage, die „Musik gleichsam ohne sinnliches Medium”, in „geistiger Reinheit” zu transportieren. Thomas Mann erzählt eine kurze Begebenheit aus dem Leben des greisen Wagners, der, als er nach langer Zeit die Hammerklaviersonate Beethovens noch einmal gehört hatte, ausgerufen haben soll: „So etwas ist aber auch nur für Klavier zu denken! Vor der Menge zu spielen - barer Unsinn!”.

Nach allem, was ich bisher gesagt habe, dürfte klar sein, daß ich diese Position nicht teile. Musik besteht nicht bloß aus einer Verteilung von Note-On-Befehlen, die sich zu einer abstrakten Ordnung fügen. So sind beispielsweise Kontraste oder Übergänge von Lautstärken konstituierend nicht nur für die klangliche Wirkung, sondern ebenso für die formale Struktur. Auch der Klang eines Instrumentes ist nicht bloß ein abiträres Beiwerk, eine Farbe etwa, die beliebig ist und durch eine andere problemlos ersetzbar wäre. Gerade im Werk Wagners finden sich zahlreiche Stellen, wo Klangfarben strukturelle Bedeutung haben - von der zeitgenössischen Musik ganz zu schweigen, deren Struktur sich gelegentlich komplett durch den Klang konstituiert[2].

  1. [1] Den „Doktor Faustus” kann man vielleicht nur dann verstehen, wenn man sich mehr als nur ungefähr im Werk Richard Wagners auskennt: Kundry ist die mystische Frauengestalt, die, von Klingsor gezwungen, den „reinen Toren” - Parzifal - zu verführen und seiner Unschuld zu berauben sucht. - Hinter dem zitierten Satz verbirgt sich eine ganze Armada von unausgesprochenen Konnotationen, von denen man heute, 66 (Niederschrift des Doktor Faustus) bzw. 127 (Uraufführung des Parsifal) Jahre später, kaum noch eine Ahnung hat.
  2. [2] Auch Thomas Manns Einschätzung, daß reine Klaviermusik die Königsgattung in der abendländischen Kunstmusik sei, mag ich nicht recht teilen. Das Klaviersolo steht zwar auch auf meiner virtuellen Liste recht weit oben, wird aber deutlich geschlagen - nicht von der Sinfonie oder der Oper, sondern vom Streichquartett. Die Komponisten können hier, wie für das Klavier, nur wenig tun, um die Klangfarben zu variieren. Sie müssen aber mit genau vier Stimmen auskommen, und haben nicht die Möglichkeit, mal eben - wie auf dem Klavier - einen Akkord aus dem Nichts zu zaubern. Dabei steht ihnen immer noch ein großer Tonraum aus ca. fünf Oktaven zur Verfügung, sowie weitreichende Möglichkeiten zur dynamischen Gestaltung, welche weit ausgreifende Formverläufe erlauben - aber wie gesagt: mit nur vier Stimmen. Es gibt viele Komponisten, die große Musik für das Klavier geschrieben haben. Jene, denen gleiches für das Streichquartett gelang, kann man an zwei, drei Händen abzählen.

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