Notiz - Technologische Neuerungen
Die Reaktion auf technische Neuerungen folgt in Medien und Privatleben ähnlich vorgezeichneten Bahnen. Das erste, noch ganz reflexhafte Zusammenzucken ist das »What the hell is it good for?« (Argument eins), mit dem der IBM-Ingenieur Robert Lloyd 1968 den Mikroprozessor willkommen hieß. Schon Praktiken und Techniken, die nur eine Variante des Bekannten darstellen – wie die elektrische Schreibmaschine als Nachfolgerin der mechanischen –, stoßen in der Kulturkritikbranche auf Widerwillen. Noch schwerer haben es Neuerungen, die wie das Telefon oder das Internet ein weitgehend neues Feld eröffnen. Wenn es zum Zeitpunkt der Entstehung des Lebens schon Kulturkritiker gegeben hätte, hätten sie missmutig in ihre Magazine geschrieben: »Leben – what is it good for? Es ging doch bisher auch so.«
(Kathrin Passig im Online-Merkur)
Vielleicht auch, weil mir das aufdringliche Lobbying, das unkritische Glorifizieren und ebenfalls reflexhafte Verteidigen von Web2.0-Technologien durch die Gruppe um Lobo/Passig etwas auf den Zeiger geht, hat mir dieser Text gar nicht so gut gefallen. Er liest sich wie eine Rechtfertigung für die Benutzung von Twitter und Co. Natürlich hat sie recht, dass viele Menschen Veränderung schwer akzeptieren und sich bei der Ablehnung wiederkehrende Argumentationsmuster identifizieren lassen. Aber sie zählt natürlich nur Beispiele auf, wo sich die Skeptiker irrten. Und sie zitiert auch nur diejenigen Skeptiker, die in ihre identifizierten Muster verfallen. Mit etwas Mühe könnte man wohl auch die Lobbyisten neuer Technologien, die gescheitert sind (und die meisten scheitern) ebenfalls nach Argumentationsmuster kategorisieren.
Sascha Lobo und Kathrin Passig sollte man mE nicht im gleichen Satz nennen. Beide arbeiten zwar seit langer Zeit zusammen, und beide haben auch eine sehr vergleichbare Genialität im Umgang mit Sprache. Der eine ist aber letztlich ein Mann der Werbewirtschaft, die andere Trägerin des Bachmann-Preises – und das sind keine zufälligen Unterschiede, sondern zeigen schon das unterschiedliche Gewicht (der Bachmann-Preis war Resultat eines Witzes, ich weiß. Die Werbetätigkeit Lobos ist dies aber eben nicht).
Was die Analyse Passigs angeht: hast Du denn ein Beispiel, wo die Kulturpessimisten Recht behalten hätten? (Orwell gilt nicht – 1984 ist in einem Ausmaß wahr geworden, daß Orwell nicht prognostizieren konnte, was noch dadurch übertrumpf wird, daß die Zeitgenossen überhaupt nicht mehr über das Radar oder die Begriffe verfügen, dies wahrzunehmen.) Über Twitter müssen wir dabei nicht reden - das bleibt wahrscheinlich aus genau demselben Grund am Leben, der auch SMS unsterblich macht (wobei ich den Grund nicht kenne).
Das Amphibienfahrzeug? Das papierlose Büro? Das Video-Telefon? Das Klonen von Menschen? Jedes Jahr verschwinden hunderte von Startups mit revolutionären Ideen, deren Zeit nie kam (oder auch manchmal auch doch, dann aber zu spät für die Erfinder). Ich habe selbst in einem Unternehmen gearbeitet, dessen Gründer glaubten, dass Streaming Media die Welt erobern würde und sich schon als Cisco-Nachfolger wähnten.
Ich mag Kulturpessimisten auch nicht, besonders wenig die befangenen. Aber die befangenen Lobhudler halt auch nicht. Beide sind irgendwie blind und verhindern differenzierten Umgang mit Veränderungen.
Was Twitter betrifft, glaube ich, wird es ähnlich wie mit Blogs: es gibt momentan mehr, die reden wollen reden als Zuhörer. Es gibt mehr Verkäufer als Käufer. Deswegen hat es Züge einer Modeerscheinung, die ein bisschen an Kettenbriefe erinnert. Für ein paar wenige wird es vielleicht ein Sprungbrett in die Medienwelt. Für mich persönlich ist es sinnvoll, um sehr gezielt Kontakte knüpfen zu können in der Nische, in der ich mein Unternehmen gründen will. Aber wer weiss, ob es dazu nicht bald ebenfalls geeignetere Tools geben wird.
Du hast sicher recht. Ich habe wahrscheinlich in der letzten Zeit zu viele Texte von Kulturpessimisten gelesen, und war ganz froh über die Kontrastveranstaltung. Dabei habe ich nicht den Eindruck, daß Passig z.B. Twitter oder andere, eher fragwürdige Neuerungen hochreden will - sie sammelt ein paar Argumente, warum selbst dann, wenn eine Neuerung letztlich schon die Runde gemacht und von einer relativ breiten Öffentlichkeit akzeptiert und benutzt wird, die Nörgler trotzdem nicht stille werden. Tatsächlich scheint es so etwas wie ein Pattern zu geben, nach dem selbst 15 Jahre nach Einführung einer neuen Technologie immer noch Einwände vorgebracht werden - ein wiederkehrendes Muster, dessen Kenntnis durchaus hilfreich ist, wenn man sagen will: gähn, Argument schon längst bekannt und tausendmal durchgekaut.
>>>Es gibt mehr Verkäufer als Käufer.
Das sehe ich genauso. Gutes Argument.
Zum Thema, eine ganz witzige Erwiderung auf Passigs Artikel: http://www.struppig.de/vigilien/?p=2152
;-)