Klang, Sound (8) - Thomas Mann, „Doktor Faustus”
Thomas Mann spekuliert im „Doktor Faustus” über das Verhältnis von Klang und Struktur in der Musik, wobei er von der Beobachtung ausgeht, daß längst nicht jeder Aspekt einer Partitur hörbar zu machen sei. Vieles dort sei ausschließlich dem Auge nachvollziehbar, kontrapunktische Spielereien etwa, wo von zwei Stimmen eines Satzes die eine der Krebs der anderen ist, oder bestimmte Zahlenspiele in der Barockmusik. Musik erschöpfe sich keinesfalls in der Sinnlichkeit des Klangs, sondern habe eine weitere, visuelle Ebene.
Er geht einen Schritt weiter und vermutet, daß Musik die geistigste aller Künste sei, wobei ihr klanglicher Aspekt gelegentlich sogar ein unerwünschter, gleichwohl notwendiger Nebeneffekt ist. Sie habe eine „heimliche Neigung zur Askese”, und strebe auf einen Zustand, wo sie bar jeder sinnlichen Verwirklichung ist, „Musik schlechthin, Musik in reiner Abstraktheit”.
Thomas Mann erzählt in indirekter Rede von einem Vortrag des Lehrers von Adrian Leverkühn, Kretzschmar:
Vielleicht, so Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemüts, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, einer Kundry, die nicht wolle, was sie tue, die weichen Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge[1].
Aus diesem Zusammenhang erklärt Thomas Mann seine Wertschätzung von reiner Klaviermusik, die seinem Ideal von vollständiger Abstraktion wohl am nähesten kommt. Das Klavier sei - weil ihm jede Möglichkeit der Modulation oder Lautstärkenveränderung eines einmal angeschlagenen Tones fehlt - am ehesten in der Lage, die „Musik gleichsam ohne sinnliches Medium”, in „geistiger Reinheit” zu transportieren. Thomas Mann erzählt eine kurze Begebenheit aus dem Leben des greisen Wagners, der, als er nach langer Zeit die Hammerklaviersonate Beethovens noch einmal gehört hatte, ausgerufen haben soll: „So etwas ist aber auch nur für Klavier zu denken! Vor der Menge zu spielen - barer Unsinn!”.
Nach allem, was ich bisher (im Klang-Baukasten) gesagt habe, dürfte klar sein, daß ich diese Position nicht teile. Musik besteht nicht bloß aus einer Verteilung von Note-On-Befehlen, die sich zu einer abstrakten Ordnung fügen. So sind beispielsweise Kontraste oder Übergänge von Lautstärken konstituierend nicht nur für die klangliche Wirkung, sondern ebenso für die formale Struktur. Auch der Klang eines Instrumentes ist nicht bloß ein abiträres Beiwerk, eine Farbe etwa, die beliebig ist und durch eine andere problemlos ersetzbar wäre. Gerade im Werk Wagners finden sich zahlreiche Stellen, wo Klangfarben strukturelle Bedeutung haben - von der zeitgenössischen Musik ganz zu schweigen, deren Struktur sich gelegentlich komplett durch den Klang konstituiert[2].
- [1] Den „Doktor Faustus” kann man vielleicht nur dann verstehen, wenn man sich mehr als nur ungefähr im Werk Richard Wagners auskennt: Kundry ist die mystische Frauengestalt, die, von Klingsor gezwungen, den „reinen Toren” - Parzifal - zu verführen und seiner Unschuld zu berauben sucht. - Hinter dem zitierten Satz verbirgt sich eine ganze Armada von unausgesprochenen Konnotationen, von denen man heute, 66 (Niederschrift des Doktor Faustus) bzw. 127 (Uraufführung des Parsifal) Jahre später, kaum noch eine Ahnung hat.
- [2] Auch Thomas Manns Einschätzung, daß reine Klaviermusik die Königsgattung in der abendländischen Kunstmusik sei, mag ich nicht recht teilen. Das Klaviersolo steht zwar auch auf meiner virtuellen Liste recht weit oben, wird aber deutlich geschlagen - nicht von der Sinfonie oder der Oper, sonderm vom Streichquartett. Die Komponisten können hier, wie für das Klavier, nur wenig tun, um die Klangfarben zu variieren. Sie müssen aber mit genau vier Stimmen auskommen, und haben nicht die Möglichkeit, mal eben - wie auf dem Klavier - einen Akkord aus dem Nichts zu zaubern. Dabei steht ihnen immer noch ein großer Tonraum aus ca. fünf Oktaven zur Verfügung, sowie weitreichende Möglichkeiten zur dynamischen Gestaltung, welche weit ausgreifende Formverläufe erlauben - aber wie gesagt: mit nur vier Stimmen. Es gibt viele Komponisten, die große Musik für das Klavier geschrieben haben. Jene, denen gleiches für das Streichquartett gelang, kann man an zwei, drei Händen abzählen.
Ich denke, um das Kriterium „Musik gleichsam ohne sinnliches Medium”, in „geistiger Reinheit” zu erfüllen, eben aufgrund der Beschränktheit der Technik, wie beim Klavier eben, den Ton nach einmaligem Anschlag nicht mehr variieren zu können, ist die Orgel eigentlich besser geeignet - In der Organistenpraxis hat man in der Interpretation eigentlich nur das Mittel der Agogik und das der Artikulation. Das Klavier verfügt zusätzlich über Anschlagstechnik und Dynamik. Obwohl ich sagen muss, diese Diskussion ist müßig... Die Kunst der Musik besteht doch darin, neben dem höchsten Abstraktionsgehalt (den sie meiner Meinung nach hat, da die Reflexion des Gehörten gleichzeitig zum neuen Aufnehmen erfolgen muss), auch eine emotionale Ebene zu beinhalten. Für mich kann ein Stück auch inhaltlich nur überzeugend sein, wenn die Emotionalität konsequent das Inhaltliche unterstützt. Ich meine das eigentlich so, dass die Wichtigkeit bestimmter Passagen auch inhaltlich herausgehoben werden muss. Man kann hier womöglich Schostakowitschs 7. Sinfonie ersten Satz anfügen: Die ewig hingestreckte Apotheose des Invasionsmotiv, die dadurch keine mehr sein kann und sich selber infragestellt.) Eine bloße Wiederholung des Invasionsmotivs hätte das nicht bewerkstelligt. Die dauerhafte (ca. 20min der 35 des ersten Satzes) Bemühung der emotionalen Aufnahmekraft des Hörers ist für den Inhalt unerlässlich. Was ich damit sagen will, ist, dass Reinheit, im Sinne von Größtmöglicher Entfernung von der emotionalen Ebene, nicht oder nur selten in Kompositionen funktioniert.
Noch ein anderer Kommentar zu der Wertung nach Klavier- und Streichquartettkompositionen: Das ist nicht richtig, besonders da der Komponist, der, denke ich, einer reinsten und vollkommensten war, nämlich Bach für beides nicht schreiben konnte, da die Besetzung schlicht nicht vorhanden war (Ich gehe hier davon aus, das das Klavier zu Bachs Zeiten nicht mit dem in Doktor Faustus gemeintem Klavier zu vergleichen ist). Die Güte in handwerklicher Sicht eines Komponisten kann man doch nur danach beurteilen, inwiefern er mit möglichst vielen Besetzungen klar kam. Für mich kommen da nur die drei großen Gattungen infrage: Orchester-, Kammer- und Opernmusik. Die Komponisten, die in diesen allen erfolgreich waren, kann man wirklich mit drei Fingern abzählen: Händel, Mozart, Strauss...
Orgel: guter Punkt – die hat keine Anschlagsdynamik. Dabei kommt aber der Möglichkeit eine große Bedeutung zu, mit den Registern zu arbeiten, und das erinnert mich eher an die Fülle eines Orchesters.
„Was ich damit sagen will, ist, dass Reinheit, im Sinne von Größtmöglicher Entfernung von der emotionalen Ebene, nicht oder nur selten in Kompositionen funktioniert.“
Ich glaube, ehrlich gesagt, weder an Reinheit, noch an Emotionalität in der Musik. Es gibt einerseits die Ebene des Klangs, die genau diese Emotionalität zu transportieren scheint, obwohl einem niemand sagen kann, wie genau das funktioniert. Zum anderen gibt es die Ebene der Struktur (=Reinheit), die ohne Klang lediglich ein abstraktes Gebilde ist, das man aus der Partitur herauslesen kann, wobei das noch lange keine Musik ist.
Zu Bach und dem Streichquartett: meine Anmerkungen (und wohl auch die T.Manns) bewegen sich auf einer komplett abstrakten Ebene – wenn man sich konkrete Werke anschaut, die geradezu gesättigt von Struktur sind, ist man bei Bach sicherlich Bestens aufgehoben...