Handwerker & Genies

Nach Wagners Tod schrieb Franz Liszt in einem Brief:

Die Zeitungen sind voll von Notizen über den Tod des großen Dichterkomponisten […], des unübertrefflichen Gestalters eines Ideals, das vor ihm in der Gesamt-Kunst, Dichtung, Musik und Theaterdarstellung, nicht verwirklicht wurde […] Wagner nur als eine berühmte oder ausgezeichnete Persönlichkeit anzusehen scheint mir eine, wenn auch noch so wenig, törichte Täuschung zu sein. Die Verästelungen seines Geistes kommen aus tiefsten Wurzeln hervor. In Ihm überwiegt das Übermenschliche.

(Quelle)



Die Computer-Musiker von „Snap!” im Interview:

SZ: Ihre Hits sind am Computer entstanden, ohne ein Instrument – woraufhin Ihnen Zeitungen wie diese vorgeworfen haben, man müsste Ihnen Ihr gefährliches Handwerk legen!

Münzing: Unser Kollege Klaus Schulze, ehemaliges Mitglied von Tangerine Dream, entgegnete auf solche Vorwürfe: »Eine Geige wächst auch nicht auf dem Baum.« Musikinstrumente sind immer von Menschenhand gemacht. Was ist an einer Geige besser als an einem Computer?

(Quelle)



Handwerk


In seinem Roman „Lea” beschreibt Pascal Mercier den Werdegang eines elfjährigen Mädchens zur gefeierten Geigerin. Ganz am Anfang, als Lea einer Straßenmusikerin beim Geigespielen zugehört hat und sich auf Anhieb in das Instrument verliebt, heißt es:

Lea nämlich hatte […] über ganz praktische Dinge nachgedacht: wie [die Geigerin] wissen konnte, wo sie Halt machen mußte, wenn sie mit der Hand den Geigenhals hinauf- und hinunterrutschte. (S.40)

(Pascal Mercier. Lea. S.40)

Nach einigen Jahren ausdauernden Übens hat sich dieses Nachdenken aufgelöst:

Daß jemand nach so kurzer Zeit in allen Lagen zu Hause war, hatte [Leas Lehrerin] in den vielen Jahren des Unterrichtens noch nie erlebt, und Lea konnte Tränen lachen, wenn ich sie daran erinnerte, wie sehr es sie beschäftigt hatte, daß [die Geigerin] so genau wußte, wo sie beim Lagenwechsel mit dem Gleiten der Hand Halt machen mußte.

(AaO, S.69)

Wie kommt es, daß eine einst ernsthaft gestellte Frage im Rückblick nur noch ein Lachen auslöst? Sicherlich liegt das nicht daran, daß Lea sie plötzlich beantworten könnte. Was ihr anfangs erklärungsbedürftig erschien, wurde selbstverständlich, und sie hat keine Ahnung mehr, warum sie die Frage einst gestellt hatte - sie hat völlig vergessen, was ihr damals Anlaß zum Staunen gab.

Wie gesagt: die Frage könnte sie noch immer nicht beantworten: sie weiß nicht, wie sie es hinbekommt, die Hand immer an die exakt richtige Stelle zu bewegen, aber sie kann das. Wenn man etwas kann, wundert man sich gelegentlich, warum ein Anderer dies eben nicht kann und womöglich nachfragt, wie dieses Können denn möglich sei. Eine nachträgliche Analyse fällt dann aber außerordentlich schwer. Wenn man sie dennoch versucht, geht es einem womöglich wie dem Tausendfüßler, der, danach gefragt, wie er denn seine vielen Beine koordiniere, ins Sinnieren gerät und darüber dann auch gleich ins Stolpern.

Tatsächlich ist das, was feinmotorisch beim Geiger beim Lagenwechsel abläuft, eine außerordentlich diffizile Angelegenheit. Wenn er nur Bruchteile eines Millimeters daneben greift, kann man das augenblicklich deutlich hören. Ein erfahrener Spieler greift aber überhaupt nicht mehr daneben (wenn, dann sind das meist deutlich gröbere Fehler, die nicht auf ein Versagen der Feinmotorik, sondern des Gedächtnisses für das Stück hindeuten). Dabei kommt es zu solcher geradezu unfehlbaren Sicherheit erst nach vielen Jahren ausgedehnten Übens. Man kontrolliert dabei aber die Feinmotorik nicht dadurch, daß man sie bewußt zu steuern lernt. Der „Sollwert” für einen präzisen Lagenwechsel ergibt sich nicht aus der Kraft, mit der sich die Hand bewegt, sondern vielmehr am Resultat, dem exakt intonierten Ton.

Man trainiert die Muskeln, steuert sie aber über das Ohr.



Musikinstrumente


Jedes Musikinstrument stellt einen Musiker vor ganz eigene Schwierigkeiten, und es wäre beispielsweise unsinnig zu sagen, ein Geiger habe mit größeren Problemen zu kämpfen als ein Klavierspieler. Dennoch kann man feststellen, daß die Barrieren für einen Neueinsteiger unterschiedlich hoch liegen. Wenn man sich vor ein Klavier setzt, hat man keine Probleme mit der Intonation, und wenn man eine Taste drückt, erklingt sofort ein Ton. Auf einer Geige hingegen erzeugt ein Anfänger zunächst kläglich kratzende Geräusche, die an einen musikalischen Ton allenfalls erinnern, und sich auch kaum eindeutig einer bestimmten Tonhöhe zuordnen lassen.

Beim Klavier hat man eine klar definierte Mechanik, die den Weg der Hämmer zu jeweils bestimmten Saiten festlegt. Bei der Geige sind nur die vier Leersaiten definiert - alle anderen Töne muß die linke Hand greifen. Hinzu kommt der Bogen in der rechten Hand, dessen raue Bespannung über die Saiten streicht und sie so zum Schwingen bringt. Hier wird die Mechanik durch die linke Greifhand sowie den rechten, den Bogen führenden Arm ersetzt - beides jeweils ohne irgendeine mechanische oder optische Hilfestellung oder Möglichkeit der Kontrolle. Ein Geigenspieler muß sich über das erzielte Klangergebnis an seine Technik herantasten. Ein Klavierspieler hingegen kann die Tonhöhen vor sich auf der Tastatur sehen.

Einen ähnlichen Gegensatz findet man bei den Blasinstrumenten zwischen den Holzbläsern auf der einen, und den Blechbläsern auf der anderen Seite. Bei Flöte, Klarinette etc. ist die reine Tonerzeugung zwar nicht ganz so einfach wie auf einem Klavier - trotzdem sind die Probleme einigermaßen rasch in den Griff zu bekommen. Die unterschiedlichen Tonhöhen lassen sich durch das Öffnen und Schließen von Klappen und Bohrungen relativ einfach abrufen. Auch dies ist nicht so simpel wie auf dem Klavier, nach einiger Übung aber zuverlässig abrufbar. Bei Trompete, Posaune etc. hingegen gelingt die Tonerzeugung keinesfalls selbstverständlich. Man muß die Lippen in einer bestimmten Weise spannen, damit zunächst ein erster, verrauschter und ungleichförmiger Ton erklingt. Die Tonhöhen werden nur sehr begrenzt durch Ventile (bzw. den Zug an der Posaune) vorgegeben - bei Blechblasinstrumenten geht es darum, die durch die Länge des Blasrohrs definierte Obertonreihe durch Variation der Spannung der Lippen zu durchwandern. Dabei dienen die Ventile lediglich dazu, unterschiedliche Basistöne zur Verfügung zu stellen, deren Obertöne dann benutzt werden.

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Werkzeug


Ein Musikinstrument ist ein Werkzeug, mit dem man musikalische Töne erzeugen kann.

Sofern man dieser sehr allgemein gefaßten Definition zustimmt, muß man - neben Geige, Klavier, Flöte etc. - zwei weitere Quellen von Tönen als Musikinstrumente ansehen, die hier dann die extremen Pole bilden: den Computer[1], und die menschliche Stimme.

Die Geige[2] und das Klavier unterscheiden sich durch den Grad der Mechanisierung, sowie das Maß, in dem der menschliche Körper in die Mechanik integriert wird. Während der Klavierspieler vor seinem Instrument sitzt und es - schon fast wie der Arbeiter an einer Maschine oder der Führer eines Fahrzeugs - bedient, verwebt der Geigenspieler mit seinem Instrument und verbaut seine Hände und Arme mit dem Griffbrett und dem Bogen.

Der Gegensatz zwischen Computer und menschlicher Stimme wiederholt jenen Unterschied in der Mechanisierung, und führt ihn auf die Spitze. Im einen Fall ist die Mechanik, welche Töne generiert, dem sie bedienenden Musiker völlig äußerlich, bis hin zu dem Umstand, daß Bedienung und Klangerzeugung gelegentlich sogar zeitlich voneinander getrennt sind. Im anderen Fall ist das Werkzeug der menschliche Körper - nicht etwa nur die Stimmbänder, sondern die komplette Resonanzfläche, die Brustkorb, Bauch, aber auch den Kopf und sogar einen imaginären Raum vor dem Körper - den „Sitz” der Stimme - umfaßt.

Der unterschiedliche Grad der Mechanisierung der Musikinstrumente spiegelt sich zunächst in der Objektivität, mit der sich Klänge darstellen - und zwar nicht bloß in der Art und Weise, in der sie produziert werden, sondern auch im klanglichen Resultat.

Der Klang eines Sängers hängt fast vollständig von seiner eigenen Person ab. Man kann zwar gewisse gemeinsame Charakteristika zwischen all solchen Sängern erkennen, die eine Ausbildung hinter sich haben. Dennoch kann man den Klang einer Stimme zweifelsfrei ihrem Träger zuordnen, und zwar meist über dessen gesamte, möglicherweise mehrere Jahrzehnte umfassende Kariere. Eine Waltraud Meier hat vor zwanzig Jahren zwar noch nicht jene Reife und letzte Könnerschaft aufweisen können, die sie heute auszeichnet - dem grundsätzlichen Gehalt des Klanges ihrer Stimme haben die Jahre aber letztlich nichts anhaben oder hinzufügen können.

Einen (großen) Klavierspieler kann man zwar ebenfalls mehr oder weniger leicht zuordnen, wenn man eine Aufnahme hört. Hier geschieht das aber in eher geringerem Maß über den Klang, als vielmehr über die Art und Weise, in der er das musikalische Material gestaltet und strukturiert. Den Klang bringt hingegen sehr weitgehend das Klavier mit. Man kann leicht einen Bösendorfer von einem Steinway unterscheiden, und es ist egal, wer hier die Tasten bedient.

Die Geige steht hier in der Mitte. Ein bestimmter Geiger hat auch einen nur ihm eigenen Klang, wobei er das aber zu einem gewissen Teil auch seinem Instrument zu verdanken hat. Es ist nicht nur der astronomische Preis einer Stradivari oder Amati, der verhindert, daß ein Geiger gelegentlich auch nach einer Alternative sucht und etwas anderes probiert - der Klang seines Instruments verschmilzt im Lauf der Jahre immer mehr mit seiner Persönlichkeit, und eine Trennung wäre ebenso katastrophal wie die Amputation einer Hand.

Zuletzt kommt der Computer, hinter dem derjenige, der ihn bedient, komplett zurücktritt. Alle Entscheidungen, die über den Klang bestimmen, werden vorher getroffen und dem Computer einprogrammiert. Der Sound eines Synthesizers ist in dem Moment schon fest gezurrt, wo alle Regler bedient und die erste Taste gedrückt wird (immerhin kann man mit Spielhilfen - Modulationsrad, Breath-Controll, etc. - noch beim Spiel Einfluß nehmen). Dasselbe gilt, wenn Computeralgorithmen dazu benutzt werden, auf Eingaben in Echtzeit zu reagieren: hier legt man gewissermaßen Schalter um, die prädeterminierte Abläufe abrufen. Noch stärker tritt dies zu Tage, wenn am Sequenzer ein komplettes Stück vorbereitet wird - hier sind definitiv sämtliche Entscheidungen bereits getroffen, bevor der erste Ton erklingt. Man hat es hier nicht nur mit einem Werkzeug zu tun, sondern mit einer Automatisierung - nicht mit einem Hammer, sondern einem von Robotern bedienten Fließband.

  1. [1] Ich hatte mich zum Thema Computer in der Musik aus eher praktischer Perspektive schon ausführlicher geäußert.
  2. [2] Die Geige steht hier stellvertretend für sämtliche Streichinstrumente, wobei sie durch ihre geringe Größe und die Art, wie man sie hält, noch besondere Schwierigkeiten mit sich bringt.

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Ich bin der Meinung, daß mit zunehmendem Grad der Mechanisierung eines Instruments die Komplexität der mit ihm gespielte Musik zunehmen kann, ohne daß der Zuhörer dies zunächst bemerkt.

In der 8. Sinfonie von Gustav Mahler wird das Seitenthema des ersten Satzes von den acht Gesangssolisten a capella - also ohne Begleitung durch andere Instrumente - vorgetragen. Selbst wenn diese Passage von überdurchschnittlichen Sänger dargeboten wird, ist es außerordentlich schwierig, dem harmonischen Verlauf durch bloßes Hören zu folgen - und wenn sie von eher mittelmäßigem Personal gesungen wird, ist sie schlichtweg unverständlich. Dabei gibt es eigentlich keine besonderen Schwierigkeiten, die Harmonien anhand der Noten zu analysieren. Auch später, wenn das Thema mit Orchesterbegleitung wiederholt wird, kann das Ohr ohne größere Probleme folgen.

Ähnlich, wenn auch weniger dramatisch, verhält sich dies im gesamten Genre des Streichquartetts. Sobald die harmonischen Beziehungen nur etwas komplexer werden, braucht es hervorragend intonierende Musiker, wenn der Hörer noch einigermaßen durchsteigen soll. Die Klagen von geübten Hörern über die unzumutbare Intonation selbst von berühmten Streichquartett-Ensembles sind keine Seltenheit, und wenn es darum geht, Quartette von Brahms oder gar Schönberg aufzuführen, ist dies eine höchst diffizile Aufgabe für die beteiligten Musikern, die nur allzu oft daran scheitern.

Auf einem Klavier hingegen ist es denkbar einfach, auch komplexeste Harmonik zu transportieren. Ich habe sogar den Eindruck, daß reine Klaviermusik erst seit etwa Beethoven tatsächlich „funktioniert” - bei Haydn und Mozart werden die strukturellen Elemente vom Klavier derart überbetont, daß die Musik fast schon naiv klingt. Die Streichquartette der Wiener Klassik hingegen vermitteln sich immer noch stark über ihren Klang, wodurch die Einfachheit der Struktur überdeckt wird und dem Hörer nur vermittelt entgegen tritt.

Extrem gesteigert wird die Möglichkeit für wildeste Komplexität dort, wo die Mechanisierung auf die Spitze getrieben wird. Hier sind plötzlich auf allen Ebenen musikalischer Parameter Experimente möglich, die dort nicht funktionieren, wo noch Menschen bei der Aufführung steuernd eingreifen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Musik Conlon Nancarrows[1], der mit dem mechanischen Klavier gearbeitet hat: die Durchhörbarkeit seiner Kanons und Fugen, in denen jede Stimme mit (minimal) unterschiedlichem Tempo gespielt wird, läßt sich nur durch komplette Automatisierung der Performance realisieren. Erwähnenswert sind auch die Arbeiten all jener, die in den 50ern und 60ern mit elektronischen Mitteln Kompositionen gestaltet haben, deren Aufführungen ohne jene Präzision nicht nachhörbar wären, die nur unter Verzicht auf „live” agierende Musikern möglich ist.

Interessant ist, daß das Aufkommen der Computer keineswegs dazu geführt hat, die Möglichkeiten von komplett automatisierter Musik weiter zu radikalisieren[2]. Die sog. avancierte Musik hat stets einen weiten Bogen um die neue Technik gemacht und sich statt dessen darauf zurückgezogen, wieder Werke für traditionelle Instrumente zu schaffen. Es gibt im Jazz den einen oder anderen Versuch, wenigstens Sequenzer und Synthesizer zu benutzen - das sind freilich Spielereien, die zwanzig Jahre und mehr zurück liegen, und kaum oder keine Folgen gehabt haben.

Wirklich tragende Bedeutung hat der Computer letztlich nur im Bereich der Popmusik gewonnen - und dort, in einer überaus ironischen und paradoxen Pointe, hat man alles daran gesetzt, die technischen Ressourcen in die Hände zu bekommen, um ausgerechnet die Performance der Sänger zu automatisieren.

  1. [1] Eine kurze Notiz zu dem Komponisten findet sich in meinem Essay über Rhythmik.
  2. [2] Wahrscheinlich gibt es Ausnahmen, von denen mir allerdings nichts bekannt ist.


Gesang und Technik


Der Sänger und der Toningenieur stehen auf entgegengesetzten Polen, wenn man Musiker nach dem Grad der Mechanisierung ihrer Instrumente anordnet, mit dem Pianisten in der Mitte zwischen den beiden Extremen. Interessant ist die unterschiedliche Wertung im Publikum für die unterschiedlichen Professionen: während derjenige, der mit den Mitteln eines Tonstudios arbeitet, allenfalls als fähiger Techniker durchgeht, kann ein hervorragender Pianist sich als Virtuose feiern lassen. Das Ansehen von Sängern übertrifft dies bei weitem: die Stars an der Oper sind die Diven und Heldentenöre, die man zuweilen zu Halbgöttern verklärt und denen man eine Verehrung entgegenbringt, die gänzlich irrational wirkt.

Ich vermute, daß diese Form der Wertschätzung ganz direkt mit dem Grad der Mechanisierung der Instrumente zusammenhängt. Wenn es um Technik geht, hat jeder Mensch der Moderne das Gefühl, es mit etwas grundsätzlich Berechenbaren zu tun zu haben, das man zur Not noch selber lernen und beherrschen könnte. Wir sind den Umgang mit Geräten und Apparaturen gewohnt, und bringen den wirklichen Könnern an den Knöpfen und Schaltern vielleicht Respekt entgegen, geraten über ihr Wirken aber nur selten in echtes Staunen.

Anders sieht das aus, wenn man hoch ausgebildeten manuellen Fähigkeiten gegenüber tritt, von denen man sich unmöglich vorstellen kann, daß man sie sich jemals selber antrainieren könnte. Jeder kann auf einem Klavier ein paar unbeholfene Töne spielen - umso erstaunlicher wirkt es, wenn jemand mit großer Kraft und Geläufigkeit das komplette Spektrum der Tastatur abgreifen kann, so daß es zuweilen wie ein ganzes Orchester klingt und man sich nicht erklären kann, wie so etwas mit nur zwei Händen hinzubekommen ist.

Ein ausgebildeter Sänger erreicht seine Zuhörer völlig unvermittelt, ohne zwischengeschaltete Instanzen, mit denen diese sich die erreichte Wirkung notfalls noch erklären könnten. In der Oper und im Konzertsaal gibt es keine Mikrophone oder Verstärker. Es ist selbst für einen musikalischen Laien ein beeindruckendes Erlebnis, wenn eine einzelne Stimme die gesamte Oper füllt und sich noch gegen ein Orchester durchzusetzen vermag. Trotzdem ist jeder Gesang uns äußerst vertraut - wenn keine Worte mehr helfen, läßt ein Baby sich womöglich durch ein Wiegenlied trösten. Ein ausgebildeter Sänger löst beim Hörer ein eigenartiges Wechselspiel zwischen Vertrautheit und Erschrecken aus - er tut etwas, was jeder kann, dies aber mit einer Durchschlagskraft, gegen die jedes Gebrüll auf dem Kasernenhof wie ein harmloses Flüstern wirkt. Man steht vor einem Phänomen, dessen Wirkung jeder Rationalisierung widersteht.

Das ist zunächst nur die Beschreibung von Idealtypen. Im Barock etwa gibt es den Typus des Sänger-Virtuosen, der sich nicht durch die Schönheit seiner Stimme, sondern seine „geläufige Gurgel” (Mozart) auszeichnet, mit der er vertrackte Koloraturen ausführen kann. Unter den Pianisten findet sich nicht nur die Figur Franz Liszt, der in seinen Konzerten mindestens eine Saite seines Instruments zu sprengen pflegte - ein Alfred Brendel ist u.a für seine Mozart-Interpretationen berühmt, die in technischer Hinsicht völlig unspektakulär sind. Auch unter den Tontechnikern bzw. Produzenten finden sich mittlerweile Stars, die man gelegentlich ebenso feiert wie die von ihnen produzierten Sänger - mir fällt hier Rick Rubin ein, der erst Johnny Cash, dann Neil Diamond aus der Versenkung holte, und dafür in Lobeshymnen nicht nur in der Fachpresse besungen (sic!) wurde.

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Das Instrument eines Sängers ist sein Körper, und auf den ersten Blick sieht es so aus, daß er ohne jede äußerliche Hilfe operiert, rein aus seiner eigenen Subjektivität und ohne jede mechanische Krücke. Er erscheint als das genaue Gegenbild eines Musikers, der sich mechanischer, elektrischer oder elektronischer Hilfsmittel bedient und sich somit (in unterschiedlichem Maß) in objektive Sachzwänge hineinbegibt, denen er seinen unmittelbaren Ausdruck unterwerfen muß.

Bei genauerem Hinsehen ist aber gerade ein ausgebildeter Sänger in hohem Maß von Technik abhängig, nämlich jener, die er sich in seiner Ausbildung angeeignet hat, um den eigenen Körper zu beherrschen. Im Konzertsaal und in der Oper gibt es, soweit ich das weiß, keinen Sänger, der sich als Autodidakt seine Technik selber erschlossen hat. Man kann sich hier kein Wissen anlesen, und auch autodidaktische Selbstversuche führen nicht weiter. Es braucht eines kundigen Lehrers, der nicht nur erste Schritte vermittelt, sondern über lange Zeit seinen Schüler unterweist - z.T. sogar noch dann, wenn dieser bereits an einer eigenen professionellen Karriere arbeitet.

Die Technik des Sängers ist in objektiver Begrifflichkeit letztlich nicht zu beschreiben. Die vermittelten Techniken unterscheiden sich von Lehrer zu Lehrer, und sie sind oft eine seltsame Sammlung von subjektiven Vorstellungen und Einbildungen über Zustände des Körpers. Ein gängiges Bild etwa ist jenes vom „Sitz” der Stimme. Gestützt vom Zwerchfell („Stütze”) bildet sich der Ton im Körper, und fokussiert sich in einem imaginären Punkt, der zwischen den Augen, aber ein gutes Stück vor dem Kopf liegt. Es gibt andere Bilder, die dazu dienen, den Kopf als Resonanzraum „freizuräumen”, die Seiten neben dem Bauch mit Atem zu füllen, und das Zwerchfell als Kontrollinstanz für die Tonentwicklung dienstbar zu machen, etc.

Solche Art der Herrschaft des Sängers über seinen Körper ist nur im ersten Moment komplett anders als jene, die man für die Bedienung eines Computers braucht. So wie der Sänger mit metaphorischen Bildern arbeitet, um seinen Körper in bestimmte Zustände zu versetzen, so ist auch jemand, der Tastatur und Maus am Computer bedient, in einer auf dem Bildschirm präsentierten Vorstellungswelt unterwegs, die von den realen Gegebenheiten (zuweilen grotesk) abstrahiert. Ein Sänger, der mit seinem Ton „zwischen den Augen nach außen sticht”, ist nicht weit entfernt vom Computermusiker, der auf ein Icon klickt, das auf dem Bildschirm die Taste eines virtuellen Tonbands simuliert.

Wirklich ernst mit dem Abschied jeder Technik macht der Gesang im Rock und Pop. Auch hier sind zwar außergewöhnliche Stimmen gefragt - dabei wird aber jede Schulung, jede Form von Verfeinerung des ursprünglichen Zustands der Stimme rigoros abgelehnt. Man erkauft dieses Beharren auf der unverkünstelten Reinheit allerdings damit, daß selbst einem Rocksänger, der im Zweifelsfall mit überschnappender Stimme am Schreien ist, jedes Volumen, jede echte Kraft fehlt. Um das auszugleichen, greift man dann doch wieder zurück auf Technik. Selbst bei Konzerten, die „unplugged” mit unverstärkten Instrumenten gespielt werden, wird immer zumindest der Sänger mit Mikrophon und Verstärker ausgestattet.

Die Abhängigkeit des Sängers von (externer) Studiotechnik wird dort ins Extrem gesteigert, wo er nicht einmal mehr intonieren kann. Die Koppelung von Popmusik und Mode, die spätestens seit den 80ern immer deutlicher und unauflösbarer wurde, hat dazu geführt, daß Popstars immer stärker nach ihrem Aussehen gecastet wurden, bis ihr musikalisches Können schließlich überhaupt keine Rolle mehr spielte. In den 80ern hat man gelegentlich versucht, die Stars im Studio durch kompetente Musiker zu ersetzen. Die damit verbundene Gefahr eines Skandals und der Verlust jeder Glaubwürdigkeit muß man heute nicht mehr fürchten. Die modernen Computer bieten genug Rechenleistung, um selbst komplexe Algorithmen zur Korrektur von wackelnder Intonation in Echtzeit auszuführen - von den Effekten ganz zu schweigen, die eine dünne, nichtssagende Stimme in ein zumindest bei oberflächlichem Hören überzeugendes „Organ” verwandeln.



Genies und Eklektiker


Viele Komponisten gelten als vielleicht handwerklich begabt, aber wenig originell. Nur einzelne Begabungen ragen weit aus der großen Menge heraus, weil sie Musik erfinden, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Der Unterschied in der Wertschätzung von Tontechniker und Opern-Diva findet sich hier wieder im Gegensatz zwischen Eklektiker und Genie.

Als Eklektiker wird ein Komponist bezeichnet, der sich tradierter Techniken bedient, und mit ihnen - handwerklich wie geschickt auch immer - eine Neuheit zweiter Ordnung kreiert. Man sagt dann: das klingt wie ein Stück von Brahms, oder: die Harmonik ist ganz wie die von Wagner. Man findet nichts grundlegend Neues, sondern nur eine neue Zusammenstellung von längst bekanntem Material.

Ein Genie hingegen erfindet stets völlig neu. Seine Musik kann nur von ihm sein - selbst Einflüsse aus seiner Ausbildung sind derart in einen eigenen Stil integriert, daß man sie nicht mehr analytisch fassen kann. Mehr noch: ein Genie erfindet auch sich selbst immer wieder neu. Wenn ein neues Problem auftaucht, verwandelt sich der Künstler selbst, um es so zu lösen, wie nur eine neue Ausgabe seines Selbst dies vermag.

Gelegentlich führt dieses Bild zu befremdeten Fragen, dann nämlich, wenn Genies plötzlich Werke schreiben, die das Publikum als eklektisch empfindet. Das vielleicht drastischste Beispiel bietet Richard Strauss, der nach „Salome” und „Elektra” plötzlich mit dem „Rosenkavalier” herauskam, und auch danach nie wieder an die Irritationen anknüpfte, die er mit seinen beiden ersten Opern auslöste (mit denen er auch berühmt wurde). Ähnliches gilt auch für Richard Wagner, der sich nach dem „Tristan” in eine Harmonik zurückzog, die von den radikalen Entwürfen zuvor weit entfernt ist. Fast könnte man meinen, daß „Salome” oder „Tristan” eher Zufälle waren, und eben nicht die Essenz des Wirkens von Genies.

Als Genie bezeichnet und verehrt man Komponisten, deren Leistungen sich nicht mehr handwerklich-technisch erklären lassen. Dabei ist die Zuordnung einzelner Musiker in diese Kategorie höchst subjektiv und umstritten. Das liegt daran, daß man sich hier nicht über die Bedeutung von unterschiedlichen Aspekten einer Komposition - das „Was” - streitet, sondern lediglich seiner Bewunderung für die Leistung des Komponisten - das „Wie” - Ausdruck verleiht. Man kann z.B. Richard Wagner als Genie verehren, weil er im Tristan eine neue Harmonik erfand, oder - ganz etwas anderes - weil er in Bayreuth ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Theater und Architektur inszenierte. Man kann aber auch der Meinung sein, daß seine Musik sich vollständig von theatralischen Wirkungen abhängig gemacht hat, so daß ihr Wert grundsätzlich in Frage steht. Das sind drei völlig unterschiedliche ästhetische Konzepte, die darüber entscheiden, ob man Wagner als Genie verehrt, oder sein Wirken womöglich verachtet.



Fresken, Beethoven, und Welterlösung


In der Vergangenheit hat man lange Zeit keinen Unterschied zwischen Kunst und Handwerk gemacht. Ein bildender Künstler hatte im Mittelalter denselben gesellschaftlichen Rang wie ein Schuhmacher oder Hufschmied. Die Fresken in den italienischen Kirchen wurden von Gemeinschaften geschaffen, in denen der Meister die kompliziertesten und schwierigsten Details ausführte, während Gesellen und Lehrlinge, je nach ihren Fähigkeiten, einfachere Arbeiten übernahmen. Noch J.S.Bach war ein Zulieferer von Kantaten für den Gottesdienst, dessen Arbeit nicht mehr oder weniger geschätzt wurde als jene des Pastors. Hier war nirgendwo die Rede vom genialen Individuum, das aus sich selbst heraus wie eine auf Erden herabgestiegene Gottheit einzigartige Werke schafft. Es waren Handwerker, die im Auftrag und unter Vorgaben Dritter in zuweilen arbeitsteiligen Verfahren Kunstgegenstände herstellten - die Bildhauer, die die bewunderten Statuen der Antike schufen, sind gar anonym geblieben.

Dies änderte sich im Tre- und Quattrocento in den Stadtstaaten Mittelitaliens. Hier trat erstmals ein seines eigenen Werts bewußtes Individuum auf, welches eigenständig - d.h. allein, und zwar auch ohne Vorgaben durch Andere - Kunstwerke schuf. Michelangelo ist hier der Prototyp, und die Fresken in der Sixtinischen Kapelle sind vielleicht das erste autonome Kunstwerk im modernen Sinn.

Die Entwicklung ging keineswegs kontinuierlich und gradlinig immer so weiter - sie blieb zunächst lokal auf Italien und zeitlich auf die Renaissance begrenzt. Die Kunst des Barock war wieder stark an handwerklichem Maßstab und Selbstverständnis orientiert, auch wenn ein G.F.Händel als Impresario und (Opern-)Unternehmer ein durchaus anderes Selbstbild gehabt haben dürfte als ein J.S.Bach, der seine Musik als Gottesdienst verstand.

Der erste Musiker, der in seinem eigenen Verständnis kein Handwerker war, sondern - von seinem eigenen Wert völlig überzeugt - sich jedem Adligen gleichwertig oder sogar überlegen fühlte, war L.v.Beethoven. Er war wohl der Erste, der es als selbstverständlich empfand, daß man ihm Anerkennung entgegen brachte, und gänzlich entgeistert reagieren konnte, wenn man es ihm gegenüber an Respekt fehlen ließ. Dabei war es nicht die Person Beethovens, die diesen Wandel verursachte, sondern die veränderte Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, wobei letztere nicht mehr vom Adel, sondern immer mehr vom Bürgertum bestimmt wurde.

In der Romantik war das Ansehen des künstlerischen Genies auf dem Höhepunkt angelangt. Je mehr Gesellschaft und Individuum auseinander drifteten, je mehr sich eine Öffentlichkeit im Gegensatz zur Privatheit des bürgerlichen Heims konstituierte, je stärker also ganz generell die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt die gesellschaftliche Praxis dominierte, desto mehr lag man jenen zu Füßen, von denen man sich Heilung von diesen Widersprüchen versprach, den Künstlern. Die Epoche der Romantik ist geprägt durch ein ganz tiefsitzendes Gefühl des Ungenügens an der Realität. Dieses Ungenügen löst sich scheinbar dort, wo der individuelle Künstler Werke zu schaffen vermag, die universelle Gültigkeit beanspruchen, indem sie auf einen imaginären Raum verweisen und die Realität transzendieren.

Das größte Genie der Musikgeschichte[1] war Richard Wagner, und die Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der Machtergreifung Hitlers sind geprägt nicht nur von einer Auseinandersetzung mit seiner Musik, sondern - mehr noch - mit seinem Anspruch auf Totalität. Was heutzutage nur noch als Größenwahn verstanden werden kann, wenn man sich mit der Figur Wagners beschäftigt, war ein seinerzeit ernstgenommener und wörtlich gemeinter Anspruch auf Welterlösung. Mit dieser Elle mußte sich jeder Künstler messen lassen und sich selber messen.

Vor diesem Hintergrund wundert mich letztlich wenig, daß so viele Musiker mit einer Bewegung sympathisierten, die jene Totalität auf die Politik übertrug - dem Nationalsozialismus.

  1. [1] Ich halte Wagner keinesfalls für den größten Musiker aller Zeiten, sondern für denjenigen, der in der Musik dem Begriff des Genies am vollkommensten entsprach.


Zusammenbruch


Bereits kurz nach dem ersten Weltkrieg fand in der bildenden Kunst wie auch in der Literatur ein radikaler Bruch statt. Die Werke Marcel Duchamps, in denen Altagsgegenstände zu Kunst erklärt wurden; der Rekurs auf automatische Bewußtseinsprozesse im Surrealismus; die Montagetechnik in der Literatur der 20er und 30er Jahren, mit der die Großstadt als handelndes Wesen in den Roman eingeführt wurde; aber auch die Verherrlichung von Krieg und Maschinerie durch die Futuristen - all dies bedeutete ein Zurückdrängen des Subjekts aus der Kunst, und damit das Ende der Bedeutung des schöpferischen Genies.

In der Musik brauchte es noch fast dreißig weitere Jahre, bis auch hier das Subjekt verschwand. Der Einfluß Richard Wagners war derart mächtig, daß sich selbst jene ihm nicht entziehen konnten, die avanciert am Fortschritt des musikalischen Materials arbeiteten. Die Zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg und dessen Schüler ging so weit, in der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen” eine Technik zu entwickeln, die weit rationaler wirkt als jede Kompositionsweise zuvor. Gleichwohl benutzte man sie u.a., um Opern zu komponieren, die sich heute als eine Fortschreibung der wagnerschen Tradition darstellen, und selbst dann wie genialische Schöpfungen erscheinen, wenn sie - wie Schönbergs Oper „Moses und Aaron”, die auf einer einzigen Zwölftonreihe basiert - mit der Reihentechnik ernst machten.

Nach dem Zusammenbruch am Ende des zweiten Weltkriegs war diese Tradition endgültig und restlos desavouiert. Die Kulturpolitik des Nationalsozialisten bestand ja nicht nur aus Bücherverbrennung, Vertreibung der zumeist jüdischen Intellektuellen und dem Verbot der sog. „entarteten” Kunst. Hitler war lange vor der Machtergreifung gern gesehener Gast in Bayreuth, und Goebbels persönlich stark engagiert, wenn es um die Belange der Berliner Philharmoniker und ihres Dirigenten, Wilhelm Furtwängler, ging. Im Hauptquartier des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, wurde Klavier gespielt und es hingen Ölgemälde an der Wand. Man hat im Dritten Reich die bürgerliche Kultur zwar ihrer Extreme beraubt und sie dadurch zu einer Karikatur ihrer selbst gemacht - oder besser: sie in eine häßliche Fratze verzerrt, hinter der man das ursprüngliche Gesicht aber immer noch ausmachen konnte. In ihrer Essenz wurde sie aber fortgeschrieben, und zwar mit großem Aufwand. Das gilt nicht nur für die beträchtlichen Budgets, die selbst in der Endphase des Krieges noch flossen, sondern auch für eine merkwürdige Oberflächlichkeit in ideologischen Dingen, wenn es z.B. darum ging, jüdische Künstler in gewissem Rahmen zu tolerieren. Das Deutschland unter Hitler war keine kulturlose Bestie, sondern eine Bestie, die in Kultur halb ersoff.

Um das Ausmaß zu verstehen, mit dem jeder geniale Funke in der Nachkriegszeit unter notorischem Generalverdacht stand, hilft es vielleicht, sich einen weiteren Begriff anzusehen, der jenem des Genies unmittelbar beigeordnet ist: den des Helden. Genie und Held sind dicht miteinander verwoben, weil beide außergewöhnliche, ja übermenschliche Leistungen erbringen. Sie unterscheiden sich letztlich nur durch das Ergebnis: das Genie erschafft Werke, und der Held vollbringt Taten. Die Welt des Genies liegt im Geistigen, jene des Helden im Körperlichen. Dabei gibt es durchaus einen Zwischenbereich, weil auch ein Held von geistigen Fähigkeiten profitiert, wenn er seine Taten vollbringt: er kommt häufig dann zum Ziel, wenn er listig ist[1]. - Insofern ist es nur konsequent, wenn in der nationalsozialistischen Propaganda die Verkündigung von heldenhaften Taten im Krieg von einem Motiv aus der Musik eines Komponisten eingeleitet wurde, den man als Genie verehrte, Franz Liszt.

  1. [1] Man kann den Unterschied zwischen den beiden Begriffen verdeutlichen, wenn man sich ihren Alltagsgebrauch ansieht. Außergewöhnliche Sportler wird man kaum als Genies bezeichnen, wohl aber als Helden. Für Albert Einstein oder andere Geistesgrößen gilt das genau umgekehrt. Ein Fußballspieler hingegen, der sich als Spielmacher einen Namen macht, indem er seine Mitspieler mit für den Gegner unvorhersehbaren Pässen in Szene setzt, handelt listenreich, mit Köpfchen - daher gibt es gelegentlich sogar geniale Fußballer.



Serielle und aleatorische Musik


Die avancierte Musik nach 1945 unterbrach mit einem Schlag jede Verbindung mit der Vergangenheit. Das betraf auf den ersten Blick das Verneinen jeder tonalen Ordnung, an der bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls gekratzt wurde, die man aber nie völlig in Frage gestellt hatte. Schönberg hatte strenge Regeln formuliert, sich aber stets dazu bekannt, sie im Zweifelsfall zu biegen und zu brechen, wenn dem Ohr dies geboten schien. Alban Berg hat mit Zwölftonreihen gearbeitet, in denen Dreiklänge versteckt waren, um noch tonale Wirkungen zu erzielen. Einzig Anton Webern hatte die gesetzmäßig-mechanische Anlage der Zwölftontechnik ernst genommen und weitergetrieben. Von ihm gibt es Zwölftonreihen, deren zweite Hälfte eine Spiegelung der ersten ist, und erste Experimente, die auch Klangfarben und dynamische Verläufe durch Reihengestalten determinieren. Weberns Tod ist wie ein Fanal: er starb kurz nach Kriegsende durch die verirrte Kugel eines Besatzungssoldaten. Sein Werk schien das einzige unverbrauchte Erbe einer Epoche, deren Kunstbegriff als untrennbarer Bestandteil einer Ideologie wahrgenommen wurde, die in der Katastrophe von Krieg und Massenmord geendet hatte.

Die klanglichen Wirkungen, die bei einem Großteil des Publikums auf schroffe Ablehnung stießen, sind dabei lediglich die Oberfläche einer Kompositionsweise, in der das Subjekt keine Rolle mehr spielte. Wo zuvor stets das schöpferische Individuum im Zentrum stand, bediente man sich jetzt Techniken, in denen Konstruktion, Mechanik, aber auch der Zufall eine zentrale Rolle spielte.

In der seriellen Musik werden sämtliche musikalischen Parameter in Reihengestalten gezwungen. Wenn diese Reihen und auch die Beziehungen unter ihnen einmal festgelegt - konstruiert - sind, muß die Partitur nur noch - mechanisch - aus ihnen abgeleitet werden. Im anderen Extrem, in der aleatorischen Musik, bestimmen allerlei Zufallsmechanismen über die Töne und ihre Parameter. Man überträgt Sternenkarten auf Notenpapier, läßt den Interpreten über die Abfolge der formalen Teile entscheiden, oder benutzt gleich den Würfel. Serialismus wie Aleatorik haben gemeinsam, daß es keinen Musiker mehr gibt, der noch dem hinterherlauscht, was dort entsteht, und gegebenenfalls - genialisch - korrigierend eingreift.

Radikaler konnte man sich nicht in Gegensatz zur Tradition stellen, und für den Zeitraum etwa eines Jahrzehnts gab es keinen ernsthaften Komponisten, der diesen Schritt verweigerte. Selbst ein H.W.Henze, der heute fast wie ein letzter Überlebender aus der Zeit der Romantik wirkt, war als junger Mann konsequenter Serialist (wofür er sich heute fast schon entschuldigt). Beispiele für Komponisten, die später einen komplett anderen Weg gingen, gibt es viele - aber zu jenem Zeitpunkt gab es schlichtweg keine Alternative.

Gleichzeitig entstand in den Trümmern der großen Städte aber schon wieder ein Musikleben, das sich der Traditionen nach wie vor verbunden fühlte. Es war nicht nur das Publikum, das auf Beethoven, Brahms und Wagner nicht verzichten wollte und die Experimente der Avantgarde komplett ignorierte. Nahezu geschlossen galt das für alle praktizierenden Musiker - mit Ausnahme eben der Komponisten. Man war seit der Machtübernahme Hitlers schon daran gewohnt, daß immer nur die Klassiker gespielt wurden, und man nichts wirklich Neues mehr zu hören bekam. Dieser frühere, ganz andere Bruch, der durch den Ausschluß der sog. „entarteten” Kunst und die Vertreibung der jüdischen Intelligenz vollzogen wurde, wurde jetzt endgültig besiegelt.

Noch in den 20er und 30er Jahren hatte jedes Opernhaus von Ruf stetig Uraufführungen von neuen Werken hervorgebracht. Die führenden Dirigenten haben stets zeitgenössische Komponisten protegiert, wenn sie nicht gleich ihre eigenen Werke aufführten. Das Publikum war zwar gelegentlich nicht bereit, die letzten Neuheiten zu feiern, und hat für den einen oder anderen Skandal gesorgt. Trotzdem waren häufig Werke überraschend erfolgreich, die auf dem letzten Stand der kompositorischen Technik standen, und selbst heute noch kühn und avantgardistisch wirken.

Seit 1933, spätestens seit 1945 ist der Konzertsaal zum Museum degradiert, und die Produktion und Rezeption von neuen musikalischen Werken Sache einer hochspezialisierten Minderheit.

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Gesellschaftliche Funktion


Bis vor etwa zweihundert Jahren erschöpfte sich Kunst in ihrer gesellschaftlichen Funktion. Ein Bild wurde in Auftrag gegeben, weil es einen bestimmten Platz und eine bestimmte Funktion in einer Kirche oder einem adligen Hof einnehmen sollte. Die Sinfonien Haydns wurden für bestimmte Gelegenheiten geschrieben, für die sein Fürst Musik verlangte, und die Kantanten Bachs haben einen festen Platz im Kirchenjahr und eine klare Funktion im Rahmen des Gottesdiensts. L'art pour l'art ist ein Konzept, das dieser Zeit völlig fremd ist.

Schon aus diesem Grund kann die Musik des Barock so komplex werden, daß sie einerseits nur noch für Experten nachvollziehbar ist, und andererseits selbst vom einfachen Mann – oder auch vom Adligen, dem ebenso jede musikalische Bildung fehlt – verstanden werden kann. Das Verstehen geschieht nicht, indem man innermusikalische Verhältnisse nachvollzieht, sondern indem man Teil eines gesellschaftlichen Rituals wird, in welchem die Musik eine festgelegte, selbstverständliche Rolle spielt.

Anfang des 19.Jh beginnt hier ein grundsätzlicher Wandel. Das Bürgertum imitiert vielleicht noch die Oberfläche höfischen Lebens. Es verschwinden aber die ritualisierten Worte und Gesten, in denen sich der Adel einst seiner selbst vergewisserte. Die bürgerlichen Salons sind Teil einer sich konstituierenden Öffentlichkeit, in der Privates und Öffentliches getrennt werden. Die Funktion in der Gesellschaft übt man als Besitzer einer Fabrik aus – nicht aber im abendlichen Zusammensein, in dem man sich als Individuum entfaltet.

Die Musik des 19. und 20.Jh ist nicht länger ein Beiwerk, das eine abstrakte Pracht verbreitet, vergleichbar einem kostbaren Teppich oder einem zierlichen Wandschmuck. Sie rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es dauert keine hundert Jahre, bis das Publikum im Konzertsaal nicht nur schweigend, sondern sogar im Dunkeln sitzt. Ein Zeitreisender aus dem Barock hätte ungläubig geschaut und gefragt, wo denn der Wein und die Speisen, die Unterhaltungen und das stetige Kommen und Gehen der Gäste geblieben wären – warum man sich denn so überhaupt nicht amüsiert.

In dem Moment, wo Musik ihre gesellschaftliche Funktion verliert, erhält sie im Gegenzug einen ästhetischen Eigenwert. Sie ist nicht länger nur eine handwerklich sauber gearbeitete akustische Füllung, sondern gehorcht Regeln, die ihren Sinn in sich selber ergeben. Musik ist nicht länger nur schön oder harmonisch, sondern hat einen eigenen Wert, sogar eine inhärente Wahrheit.

Damit verändert sich auch die Anforderung an den Hörer. Er muß nicht einfach deshalb im Konzertsaal sitzen, weil seine gesellschaftliche Rolle das so von ihm verlangt, sondern er muß sich für die Sache selbst interessieren. Im Musikleben ist man Privatmann, auch wenn man sich als private Person öffentlich in Szene setzt und sein privates kulturelles Interesse anderen gegenüber zur Schau stellt. An dieser merkwürdig doppelten Funktion leiden dann besonders jene, die mit Musik nichts anzufangen wissen, sich aber zumindest als interessierte Laien ihren Mitmenschen präsentieren müssen.

Musik ist nicht völlig ihrer gesellschaftlichen Funktion entbunden - so wenig wie der vermeidlich in seine Privatheit flüchtende Hörer. Sie wird zwar einerseits autonom, und es werden nun auch Werke geschrieben, die unaufgefordert entstehen, mit dem Risiko, ungespielt zu bleiben. Gleichzeitig hat sie aber auch immer noch einen festen Rahmen, in der sie aufgeführt werden soll. Hier muß sie jetzt aber damit beginnen, auf ihre Hörer im innermusikalischen Aufbau Rücksicht zu nehmen und möglicherweise „schwer verständliche” Komplexität zu vermeiden – eine Einschränkung, die ihr noch im Barock nie auferlegt war.

In der Salonmusik entstehen die ersten Stücke, die Kompromisse zwischen dem Stand der kompositorischen Technik und dem Unvermögen der Hörer schließen, diese adäquat zu entschlüsseln. Langsam – später immer stärker beschleunigt – entsteht ein Riß zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik, bis sich dieser nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kitten ließ.



„E”- und „U”-Musik


Wenn ich sagte, daß die Musik des Bürgertums autonom wird, ist dies nur zum Teil richtig. Sie hatte immer auch eine gesellschaftliche Funktion, und nur durch diese erhielt sie letztlich ihren Wert. Eine Musik, die sich völlig von der Gesellschaft emanzipiert, kann es ja auch gar nicht geben. Es mag zwar sein, daß sie immer stärker ihren inneren Gesetzen folgt und dadurch nicht mehr ohne weiteres für jedermann verständlich ist, und sich dem Zuspruch eines breiten Publikums immer weiter entfernt. Eine Oper jedoch bleibt auch im 19. und 20.Jh zunächst immer ein gesellschaftliches Ereignis, auch wenn die dort gespielte Musik mehr und mehr zu einer Sache für Spezialisten wird.

Damit hat die Anerkennung, die die bürgerliche Gesellschaft ihren Genies und Virtuosen entgegenbringt, zwei verschiedene Seiten. Einmal bewundert man eine Schaffenskraft und ein Können, das übermenschlich, geradezu göttlich wirkt, und ganz anderen Sphären zu entspringen scheint als das, was zur Arbeit auf dem Feld oder in der Fabrik befähigt. Andererseits muß die Musik auch immer wieder einen Rückbezug auf die gesellschaftliche Praxis erlauben. Eine Komposition, die nicht gespielt wird, kann man nicht bewundern, und über das Umfeld, in der sie erklingt, bestimmen immer mehr die zahlungswilligen Konzert- und Opernbesucher, und nicht mehr der adlige Mäzen. Es besteht also eine ausgeprägte Spannung zwischen einem Kunstbegriff, der die gesellschaftlichen Verhältnisse transzendiert - oder gar Kunst als Antithese zur schnöden Wirklichkeit definiert -, und einer Kunstproduktion, die an ihnen teilhat und an ihrem Fortbestehen aktiv mitwirkt. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich wieder im Verhältnis zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik.

Dabei sind „E”- und „U”-Musik zunächst gar keine Kontrahenten. Mozarts Opern waren an ein unterschiedliches Publikum adressiert, und die Zauberflöte unterscheidet sich vom Tito auch in den verwendeten musikalischen Mitteln. Im Fin de siècle wurde bei Konzerten im Wiener Prater neben den Walzern von Johann Strauß gelegentlich auch das Adagietto aus Mahlers Fünfter gespielt. Alban Bergs Opern verweigern keinesfalls einen dramaturgischen Bogen, sondern sind so konzipiert, daß sie im Rahmen der traditionellen Praxis aufführbar sind. Usf.

Das beste Beispiel für die unauflösliche Verzahnung zwischen gesellschaftlicher Praxis und der gleichzeitigen Abschottung von ihr bieten die Opern Richard Wagners. Die Erzählungen aus einem märchenhaften Mittelalter, die von einer rauschhaften Musik getragen werden, sollen ihre Hörer ja ausdrücklich von der Wirklichkeit erlösen. Die Sehnsucht nach einer Welt jenseits jener, in der das Opernpublikum das Geld verdient, mit dem sie ihre Eintrittskarten bezahlt, sind ihr einziges Programm. Ausgerechnet diesem Werk widerfährt es, den Aufstieg des Nationalsozialismus zu begleiten. Seine größten Bewunderer finden sich unter denen, die die reale Welt mit physischer Gewalt unter ihr Joch zwingen.



Avantgarde


Bereits mit dem Ende des ersten Weltkriegs hatte sich die Definition dessen, was man als Kunst bezeichnet, massiv verändert. Nach 1945 kam es auch in der Musik zu jenem Wandel, der in den bildenden Künsten und der Literatur längst vollzogen war.

Man hatte bisher an den genialen Schöpfer geglaubt, der ein Werk erschafft, das es den Subjekten erlaubt, sich über die profane Wirklichkeit zu erheben, indem es einen Zusammenhang von „Sinn” stiftet, der über die inhärente Logik der bürgerlichen Gesellschaft hinaus verweist. In der seriellen ebenso wie der aleatorischen Musik wird mit dieser Vorstellung radikal gebrochen. Es gibt nicht länger den schöpferischen Menschen, der Unerhörtes neu erfindet, sondern den ausführenden Handwerker, der mechanisch Regeln folgt, die er zuvor selber aufgestellt hat.

Musik hat natürlich schon immer Regeln gehorcht. Dabei existierte aber stets eine Spannung zwischen dem tumben Theoretiker, der nichts konnte als eben diese Regeln, und dem kreativen Musiker, der diese Regeln zwar kannte, sie aber stets brach, wenn dies seinem inneren Ohr geboten schien[1]. Tatsächlich ist jede Harmonielehre erst entstanden, nachdem ihr theoretischer Stoff praktisch erprobt oder sogar veraltet war - gleiches gilt für jede Schule von Kontrapunkt oder Instrumentenkunde[2]. Als genuin musikalische Begabung galt nur der, der letztlich keine Ausbildung brauchte, sondern Fähigkeiten hatte, die man nur als angeborenes Talent erklären konnte. Erst dort, wo der Musiker mehr war als bloß ein Handwerker, konnte man ihn in den Himmel loben.

Nach dem zweiten Weltkrieg ändert dies sich radikal. Musik verweist jetzt nur noch auf jene Regeln, denen sie folgt. Sie hat keinen Sinn mehr außerhalb ihrer selbst. Sie wird vollständig autonom, indem sie sich nur noch auf sich selbst bezieht. Ihr fehlt jegliche subjektive Willkür - damit entäußert sie ihre Seele.

Damit verliert sie gleichzeitig jeden Gebrauchs- wie auch Tauschwert für eine Gesellschaft, die noch immer an jenen Widersprüchen leidet, die die Romantik zu heilen versprach. Mehr noch: man kann sie nicht einmal mehr hören. Serielle Musik hat einen derart hohen Grad an Komplexität, daß ihre klangliche Realisierung sich komplett jedem Nachvollzug durch das Ohr entzieht, so geübt dieses auch sein mag. Das geht so weit, daß nicht einmal die Komponisten selbst das mehr können[3]. In der Aleatorik ist das sogar Programm - hier stehen genaueste Anweisungen an die Ausführung Parameter entgegen, die über den Klang nichts konkretes mehr sagen, oder sogar mit ihm ausdrücklich nichts mehr zu tun haben wollen[4].

  1. [1] Das ist das Thema Wagners in den Meistersingern - zur Erinnerung: einem Werk, das zum Finale der Reichsparteitage der NSDAP gespielt wurde.
  2. [2] Das vielleicht beste Beispiel hierfür liefert hier ausgerechnet ein Werk aus der Feder eines Praktikers, die Harmonielehre Arnold Schönbergs.
  3. [3] Bei Uraufführungen in den 50er Jahren ist es regelmäßig vorgekommen, daß die - ebenso unwilligen wie völlig überforderten - Musiker gespielt haben, was immer sie wollten.
  4. [4] Von John Cage gibt es eine Partitur, die genauestens festlegt, in welchem Rhythmus und Ausmaß die Regler für Lautstärke und Senderwahl(!) von mehreren Radiogeräten bedient werden sollen.

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Das Publikum wandte sich von der Avantgarde der zweiten Hälfte des 20.Jh nahezu geschlossen ab. Das betraf nicht nur jene, die in der Musik ein unterhaltsames Vergnügen für die Freizeit gesehen hatten - dieser Teil des Publikums hatte sich schon zuvor immer mehr der Unterhaltungsmusik zugewandt -, sondern auch die musikalisch gebildeten Kenner, ja sogar jene, die Musik zu ihrem Beruf gemacht hatten. Der Unwille der (professionellen) Musiker, sich mit den Schwierigkeiten der modernen Kompositionen auseinanderzusetzen, war schon in den 20er und 30er Jahren zu spüren. Aber selbst jene wandten sich jetzt ab, die bisher auf dem Standpunkt standen, Musik habe wahr zu sein, und zwar jenseits einer glänzenden Oberfläche aus einer Aneinanderreihung von „schönen Stellen” - mit Theodor W. Adorno als prägnantestem Beispiel.

Wie gesagt: die Musik der 50er Jahre läßt sich nicht mehr hörend nachzuvollziehen. Sie zieht sich zurück in eine objektive Kälte, in die ihr kein Subjekt vorangeht und ihr auch keines mehr zu folgen vermag. Das ist der Avantgarde jedoch nicht vorzuwerfen, im Gegenteil. Sie hat hier eine geschichtliche Entwicklung konsequent zu Ende geführt, die auf einer doppelten Ebene stattfand. Das ist zum einen der Bruch mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die im gesamten 19.Jh auf der vermeintlichen Überlegenheit des weißen Mannes beruhte, welche nicht zuletzt durch die kulturellen Leistungen des Abendlandes begründet wurde. Imperialismus und Kolonialismus, zuletzt auch der Rassenwahns des Dritten Reichs, stehen in einer Tradition, die noch die brutalste Unterdrückung mit kultureller Superiorität rechtfertigt hatte. - Zum anderen wird hier die letzte Konsequenz in der Entwicklung der Kunst selbst gezogen: sie wird endgültig autonom und entsteigt in eine höhere Sphäre.

Der Elfenbeinturm wurde nicht von den Komponisten erfunden. Er wurde in der Kunstgeschichte vom Bürgertums errichtet. Die Nazis haben dann die Tür verschlossen und den Schlüssel weggeworfen.



Film


Als das Musikleben des Fin de siècle in voller Blüte stand, und in jeder Saison neue Meisterwerke in den Konzertsälen und Opernhäusern aufgeführt wurden, die vom Publikum zuweilen nicht auf Anhieb geliebt, immer aber ernsthaft diskutiert wurden, entstand - in einer entfernten Nische, zunächst nur als Attraktion auf den Jahrmärkten begafft - eine neue Gattung in der Kunst, die das komplette Jahrhundert dominieren sollte, der Film.

Anfangs hat man den Film keinesfalls als Kunst betrachtet, sondern als Medium für Unterhaltung, allenfalls Dokumentation akzeptiert. Man war der Meinung, daß hier schlicht die Wirklichkeit gespiegelt wird, ohne daß ein Künstler noch eingreifen muß, um das rohe Material gewissermaßen zu veredeln (wie das z.B. ein Schriftsteller tut, wenn er „nur” eine „wahre Begebenheit” erzählt). Der Film schien viel zu dicht an der Wirklichkeit, als daß er dabei helfen könnte, von dieser zu transzendieren, so wie alle andere Kunst dies tat. Noch 1932 - zu einem Zeitpunkt also, als zahlreiche Filme schon gedreht waren, die man heutzutage als zeitlose Klassiker einordnet - hatte Rudolf Arnheim alle Mühe, seinen Zeitgenossen klar zu machen, daß im Film keinesfalls die ungebrochene Realität sichbar wird, sondern ein äußerst artifizieller und subjektiver Blick auf diese:

Durch den Wegfall der bunten Farben, des stereoskopisch zwingenden Raumeindrucks, durch die scharfe Abgrenzung des Bildrahmens etc. ist der Film seiner Naturhaftigkeit auf glücklichste entkleidet. Er ist immer zugleich Schauplatz einer »realen« Handlung und flache Ansichtskarte.

(Rudolf Arnheim. Film als Kunst. München und Wien 1979, S.40)

Ich will nicht näher auf all jene Aspekte eingehen, in denen der fotografische Blick von der Subjektivität der Künstler abhängig ist, oder die Technik des Schnitts analysieren, die geradezu konstituierend ist für den „Film als Kunst”. Mich interessieren hier nur die Unterschiede zur Oper (oder auch zum Theater), der der Film einerseits sehr nahe steht (weil er „multimedial” Bild und Ton vereint), andererseits aber so entfernt ist wie kein zweites Medium der Kunst sonst. Das ist einerseits der Zweidimensionalität des fotografierten Bildes, sowie der von den Schnitten geschaffenen Diskontinuität der Zeitfolge zu verdanken. Dadurch beschreibt sich - zum einen - die ästhetische Oberfläche des Kunstwerks mit dem Namen „Film”. In der Tiefe - andererseits, in den Bedingungen der Produktion von Filmen - wird die gesamte Vorstellung geradezu umgedreht, die man bis dahin vom Kunstwerk und dem Künstler hatte.

Zunächst geht es um einen Zusammenhang, der bereits früh in den Blick geriet: der Verlust der Aura eines Kunstwerkes, das technisch reproduziert werden kann, oder dessen ganzes Dasein auf seiner technischen Reproduzierbarkeit beruht. Walter Benjamin hat das in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz detailliert dargestellt, ich zitiere eine Skizze:

Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. […] Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. […] Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. […] In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf […] Politik.

(Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Ff/M 1981, S. 16ff)

Auch auf diesen Aspekt will ich nicht näher eingehen. Es geht mir in der Folge um zwei Phänomene, die unmittelbar miteinander zusammenhängen, und die mit der Vorstellung vom künstlerischen Genie genauso gründlich Schluß machen, wie die mechanischen Verfahren der seriellen Musik - dies jedoch nicht, indem sie das Kunstwerk in radikale Autonomie überführen, sondern im Gegenteil, indem sie es der Verwertbarkeit durch das Kapital bedingungslos öffnen.

Die Rede ist von der kollektiven Arbeit, in der ein Film entsteht, sowie der Genese des Stars.



Arbeit


Wenn man darüber nachdenkt, wie ein Kunstwerk entsteht, hat man häufig nur die Quelle der „Inspiration” im Blick. Man vergißt darüber allzu leicht, daß der Schaffensprozeß zu einem ganz überwiegenden Teil aus Arbeit besteht. Ausgerechnet am Beispiel Richard Wagners kann man dies gut belegen.

Wagner hat seine Partituren in drei Schritten geschrieben, wobei im ersten ein Klavierauszug, im zweiten ein Particell und erst im dritten die komplette Partitur entstand. Beim „Tristan” hat er allein für den dritten Schritt - das Erstellen der Partitur - ein volles Jahr gebraucht, wobei er noch die Notenlinien selber zeichnen mußte, und für eine einzelne Seite einen vollen Tag benötigte. Wagner hat gerne Legenden darüber erzählt, wann und wo ihm ein Einfall zu einer bestimmten Stelle in seinen Opern gekommen sei. Von der Knochenarbeit, die er Tag für Tag zu vollbringen hatte, hat er hingegen selten und nur ausnahmsweise gesprochen.

Musik ist nur selten das Resultat der Bemühung eines Einzelnen - höchstens dann, wenn der Komponist ein eigenes Werk ohne weitere Begleitung vorträgt. Mozart, Beethoven, Liszt, Chopin u.v.a. haben ihre eigenen Werke auf dem Klavier vorgetragen - alles andere ist schon das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung. Man hat sich zwar angewöhnt, einzig den Komponisten als Urheber anzusehen, oder zumindest einen Unterschied zwischen der schöpferischen und der - vermeintlich nachgeordneten - interpretatorischen Arbeit zu machen. Dies verlegt letztlich nur den Streit, ob strukturelle oder klangliche Aspekte die „wertvolleren” oder „wichtigeren” seien, auf eine neue Ebene, wo man besser zur Einsicht kommen sollte, daß beide Aspekte in gleicher Weise im Wesen von Musik verankert sind[1].

Musik ist das Resultat einer Arbeitsteilung, wobei diese im Lauf der Geschichte immer weiter ausdifferenziert erscheint. Zu Beginn des 19.Jh sind die Funktionen von Komponist, Dirigent und Solist häufig in ein und dieselbe Person zusammengefaßt. Später kommt es immer mehr zu Spezialisierungen, bis hin zu der Praxis, daß sich Komponisten eigenes einen bestimmten Dirigenten suchen, mit dem sie in gemeinsamer Arbeit eine Partitur umsetzen. Weit übertroffen wird dies im Bereich der Popmusik. Bedingt durch den Einsatz einer Vielzahl technischer Geräte wird der Aufnahmeprozeß im Studio zu einer Sache für Spezialisten, die für das Endergebnis ebenso bedeutend sind wie die Musiker selbst.

Zunächst ist die Produktion von Kunst also Arbeit. Häufig ist sie zudem noch ein gemeinschaftlicher, im Zeitalter des Films sogar gelegentlich arbeitsteiliger, fordistisch-tayloristischer Prozeß, der nicht bloß oberflächliche Assoziationen ans Fließband aufkommen läßt. Entscheidend hier ist jedoch, daß jede Arbeit immer gesellschaftliche Arbeit ist. Wer ein Musikstück schreibt, tut dies in einem gesellschaftlichen Rahmen, der zum einen ein geschichtlicher ist - jeder Komponist fußt auf dem, was er von seinen Vorgängern gelernt hat. Zum anderen handelt er innerhalb der Produktionsbedingungen, unter denen sich die Gesellschaft reproduziert. Jede Komposition hat einen konkreten Gebrauchswert für eine konkreten Gesellschaft. In der kapitalistischen Gesellschaft heißt dies, daß sie gleichzeitig auch einen Tauschwert erhält, den sie auf einem Markt realisieren muß. Dies hat Konsequenzen nicht nur für die Werke selber, sondern auch für den Prozeß ihres Entstehens, sowie das Selbstbild der Künstler.

  1. [1] Zu dem Thema hatte ich an anderer Stelle schon ausführlicher Stellung bezogen.



Der Aspekt der kollektiven Arbeit bei der Kunstproduktion tritt deutlich zu Tage, wenn man auf die Produktion einer Oper - z.B. im 19.Jh - schaut. Hier ist nicht nur der Komponist für das Werk verantwortlich, sondern auch der Librettist, wobei die Dichtung im Vergleich zur Musik ein bedeutendes, gelegentlich gleichrangiges Gewicht hat. Wenn man nicht nur die Partitur, sondern die Aufführung mitbedenkt (und ohne letztere kann man m.E. nicht von einer Oper sprechen), kommen nicht nur die Musiker und Sänger zum „Kollektiv” hinzu, sondern auch eine ganze Reihe anderer Spezialisten in unterschiedlichen Berufen. Zumindest der Regisseur und der Bühnenbildner haben Funktionen, die als so bedeutend gelten, daß es in diesen Berufsgruppen Berühmtheiten gibt, deren Wirken - nur aufgrund zeitgenössischer Berichte - man heute noch erinnert. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe Beteiligter, die zwar schlecht bezahlt und völlig unbekannt, trotzdem aber unverzichtbar sind: die Bühnentechniker, Gardobieren, Chauffeure der Droschken zum Opernhaus, usf.

Die bedeutendste Rolle spielen hier aber die Sänger. Ihre Namen sind den Zeitgenossen häufig geläufiger als jene der Komponisten (nicht anders als heute im Film, wo die Schauspieler bekannter sind als die Regisseure). Das liegt nicht allein an der Qualität ihrer Stimmen, sondern auch an ihrer körperlicher Erscheinung. Sie sind nicht nur singendes Personal, sondern auch Darsteller ihrer Rollen. Ihr Spiel, ihre Gesten, und nicht zuletzt ihre Gesichter geben einer Opernproduktion eine unmittelbare Wirkung, die auch jene nachvollziehen können, die vom Gesang wenig und der Musik nichts verstehen. Das auratische Moment, von dem Walter Benjamin sprach, ist in der Musik sowieso schon übersteigert, weil eine Aufführung nicht bloß ein Original, sondern unwiederbringlich ist. Es verdichtet und fokussiert sich in der Oper in der Person des Sängers.

Diese Außenwirkung, die sich abgekoppelt von der sängerischen Leistung betrachten läßt, erlaubt es, auch heute noch nachzuvollziehen, warum eine Wilhelmine Schröder-Devrient einst als großer Sänger galt, obwohl keine Aufnahme ihrer Stimme überliefert ist. Die Zeitgenossen konnten ihre Stimme nicht beschreiben, wohl aber ihre Persönlichkeit und ihr Auftreten. Allein schon ein gemaltes Bild von ihr legt nahe, was sie ihrem Publikum einst gegolten haben mag (zu dem übrigens sowohl Beethoven als auch Wagner gehörte). So hat sich nicht ihr Ruhm als Sänger tradiert - der läßt sich bloß behaupten -, wohl aber ihre Rolle als Star.



Exkurs: Wilhelmine Schröder-Devrient


Wilhelmine Schröder-Devrient
Wilhelmine Schröder-Devrient

Wilhelmine Schröder-Devrient (1804-1860) war der erste Sänger-Darsteller im modernen Sinn. Zuvor standen die Sänger dem Publikum zugewandt am Bühnenrand, und haben ihren Arien allenfalls einige wenige, standardisierte Gesten hinzugefügt. Mit der Schröder-Devrient kehrt das Schauspiel in die Oper ein. Sie ist die erste, die eine Rolle auf der Bühne spielt, und zwar auch dann, wenn sie gerade nicht zu singen hat. Ihre Stimme wird von den Zeitgenossen durchaus kontrovers bewertet - sie war wohl gelegentlich am Sprechen oder gar am Schreien, um die dramatische Wirkung ihrer Rolle zu steigern, und ihre Stimme war früh verbraucht. Unbestritten ist jedoch, daß ihr Spiel das Publikum zu Tränen rühren konnte.

Wilhelmine ist die Tochter von Friedrich Schröder, einem bekannten Bariton, und seiner Ehefrau Sophie, einer Schauspielerin von Rang. Schon als Fünfjährige steht sie, als Balleteuse, erstmals auf der Bühne. Mit fünfzehn wechselt sie zum Schauspiel, wobei sie gleichzeitig beginnt, Gesangsunterricht zu nehmen. Nur zwei Jahre später hat sie ihr Debüt als Sängerin, das überaus erfolgreich gewesen sein muß - 1822, noch keine achtzehn Jahre alt, wird sie für die Erstaufführung der Endfassung von Beethovens Fidelio engagiert, und feiert einen durchschlagenden Triumph in der Rolle der Leonore. Die junge Frau spielt und singt ihren Part vor einem Publikum, in dem auch der verbitterte und mittlerweile taube Komponist persönlich Platz genommen hat - und Beethoven ist, laut übereinstimmenden Zeugnissen, von ihrer Darstellung überaus beeindruckt. Ihre Interpretation der Leonore trägt entscheidend dazu bei, daß die Oper endlich zu dem Erfolg wurde, der ihr bei der Uraufführung versagt geblieben war.

Den zweiten Meilenstein in ihrer Karriere stellen die Begegnungen mit Richard Wagner dar. Der junge Wagner hatte sie auf der Bühne erlebt, und wurde - von ihrem Auftritt nicht weniger als sein frühes Idol, Beethoven, beeindruckt - von ihrer Auffassung des Sänger-Darstellers entscheidend geprägt. Er hat die Schröder-Devrient überreden können, bei den Uraufführungen des Rienzi (1842), des Fliegenden Holländers (1843), und des Tannhäusers (1845) die weiblichen Hauptrollen zu singen, auch wenn sie bei letzterer Gelegenheit große Bedenken hatte, mit ihren mittlerweile 41 Jahren noch die Partie der Venus zu übernehmen. Man kann den Einfluß, den sie auf die Vorstellung Wagners von der Oper als Gesamtkunstwerk hatte, wohl schwerlich überschätzen, wie Wagner selbst mehrfach explizit hervorgehoben hat. Eine Marmorbüste der Sängerin stand (und steht?) dann auch in seinem Arbeitszimmer in der Villa Wahnfried in Bayreuth.

Dabei sind die Begegnungen Schröder-Devrients mit Beethoven und Wagner nur zwei Eckpfeiler, zu denen zahllose Uraufführungen der Werke von seinerzeit hoch geschätzten Komponisten kommen, an denen sie - regelmäßig in der Hauptrolle - beteiligt war. Sie stand viele Jahre im Zentrum des Musiklebens ihrer Zeit, und galt als ebenso bedeutend wie ihre heute bekanntere, vier Jahre jüngere Rivalin, Maria Malibran. Bei umjubelten Konzertreisen, die sie durch ganz Europa führten, hatte sie ein ganz erstaunliches Repertoire im Gepäck, das mehr als sechzig(!) Hauptrollen in italienischen, deutschen, und französischen Opern umfasste.



Das Leben der Schröder-Devrient ist nicht weniger bewegt als ihre künstlerische Laufbahn, und durchaus untypisch für ein Frauenschicksal des Biedermeier. Sie heiratet, achtzehnjährig, Karl Devrient, und hat mit ihm in kurzer Folge vier Kinder. Das jüngste - Sophie - stirbt noch als Kleinkind, als es eine Amme zu Boden fallen läßt, während die Mutter im Theater ist. Für die Schröder-Devrient wird dies zum Trauma, und sie trauert noch nach Jahren um das „für ihre Kunst gemordete Kind”[1]. Die Ehe wird nach sechs Jahren 1828 geschieden, wobei der Gatte das Sorgerecht für die Kinder erhält - ein noch heute eher untypischer Vorgang, der für damalige Verhältnisse völlig ungewöhnlich ist, und zu Spekulationen Anlaß gibt, wie die Sängerin wohl mit ihrem Ehemann umgesprungen sein mag.

Sie heiratet erst 1847 ein zweites Mal, diesmal einen waschechten Betrüger, der sie in den finanziellen Ruin treibt - nicht zuletzt, indem er in die ein Jahr später folgende Scheidung nur nach Zahlung einer hohen Summe einwilligt. Man kann nur spekulieren, was die hochintelligente Frau in solch eine Verbindung getrieben haben mag - ebenso wie über mögliche Affären in den knapp zwanzig Jahren zwischen den Ehen. Ihr Biograph, Alfred von Wolzogen, tritt dort vornehm zurück. Sie selber hält sich da weniger bedeckt[2]:

Von Prüden mag ich nicht gerichtet sein! - Woher kommt es, daß selbst die ehrsamsten Mütter und sittiglichsten Töchterlein sich von meinen theatralischen Darstellungen ohne das mindeste Bedenken hinreißen lassen, ja ganz unwillkürlich hinreißen lassen müssen? Weil ich das Außergewöhnliche, das sie nicht kennen, im Leben durchgemacht und deshalb auch wiederzugeben weiß. Nun denn - wenn sie dieses Außergewöhnliche, das was ihnen imponiert, weil sie's mir nicht nachmachen können, von mir sehen und sich dadurch entzücken lassen wollen, so dürfen sie auch nicht von mir verlangen, daß ich die Schranken ihres langweiligen Lebens niemals überspringe, denn innerhalb derselben blüht kein Weizen für meine Kunst!

1850 heiratet sie ein drittes Mal, diesmal einen adligen Gutsbesitzer, Heinrich von Bock - und diese Ehe hält bis zu ihrem Tod zehn Jahre später. Sie stirbt nach langer, qualvoller Krankheit am 26. Januar 1860. - Wilhelmine Schröder-Devrient ist auf dem Trinitatisfriedhof in Dresden begraben.

  1. [1] Alfred von Wolzogen, Wilhelmine Schröder-Devrient. Leipzig 1863, S.90f.
  2. [2] Zitiert nach Wolzogen, aaO, S.90f.



Stars


Der Begriff des „Stars” ist dem des „Genies” ebenso nahe verwandt wie diametral entgegengesetzt (und ich springe im Folgenden quer durch die Zeiten, wenn ich den Star des 20.Jh mit dem Genie des 19.Jh in Beziehung setze). Die Popsängerin Madonna wird man schwerlich als Genie bezeichnen, wobei sie zweifellos ein Star ist. Umgekehrt ist Richard Wagner nicht nur ein (umstrittenes) Genie, sondern ebenso ein waschechter Star seiner Zeit. Dann wird noch darüber gestritten, wer als Genie gilt, und wer nicht - Cosima Wagner lehnt es beispielsweise entschieden ab, Anton Bruckner als Genie zu bezeichnen, auch wenn sie ihm zugesteht, das kompositorische Handwerks meisterhaft zu beherrschen. Madonna wiederum wird kaum jemand deshalb loben, weil sie irgend eine Sache außergewöhnlich gut kann - die Fähigkeit, alle paar Jahre sich selbst neu zu erfinden, vielleicht ausgenommen.

Es gibt drei unterschiedliche Ebenen. Zunächst das Handwerk. Kein Genie kommt ohne es aus. Das wird gern in den Hintergrund geschoben, weil es viele Komponisten gibt, denen man vorwirft, sich im Handwerklichen zu erschöpfen. Trotzdem ist es eine unverzichtbare Grundlage - es gibt kein Genie ohne ausführliche Ausbildung oder Fleiß bei der Arbeit. Wenn Adorno etwa versucht, Wagner in die Nähe eines Dilettanten zu rücken, der sein Handwerk nicht recht verstehe, nimmt er letztlich nur einen Umweg, um dessen Status als Genie ins Lächerliche ziehen.

Für einen Star hingegen ist es keineswegs Voraussetzung, irgend etwas zu können. Ein absolutes Gehör etwa gilt heute als unerläßlich für einen Toningenieur - aber nicht für einen Gitarristen (der ein sorgfältig trainiertes Gehör schon allein dafür bräuchte, die Saiten seines Instrument zu stimmen). Die Fähigkeit, Notenschrift zu lesen, scheint für einen Musiker (im Popbereich) ein größeres Hindernis zu bedeuten, berühmt zu werden und zu Starruhm aufzusteigen. Es gibt Popsänger, die keine Stimme haben - usf.

Wohlbemerkt: im Bereich der Popmusik gibt es ganz herausragende Sänger, Gitarristen, Songwriter, etc.pp., und das Fehlen einer formalen Ausbildung besagt keinesfalls, daß jemand etwas nicht kann. Irgendein Können ist aber keine notwendige Bedingung, um es zum Star zu bringen.

Zum Zweiten gibt es die Aura des Übermenschlichen, die das Genie, zumindest in der Zeit der Romantik, umweht. Ein bloßer Handwerker kann, so klingt es gelegentlich an, jeder werden, so er nur fleißig ist und zumindest über ein rudimentäres Talent verfügt. Talent allein reicht jedoch nicht aus, um jene geheimnisumwitterten Werke zu schaffen, die einem Komponisten einen Platz im Kreis der Ewigen verschaffen. J.S.Bach, Beethoven, oder Wagner - man kann sich die Sache nicht anders erklären, als daß man ihr Wirken als unerklärlich betrachtet (da stört es wenig, daß Bach sich selbst - in Abwesenheit des Begriffs zu seiner Zeit - nie als Genie bezeichnet hat). Dafür vergibt man dem Genie so manches, was man einem Normalsterblichen niemals durchgehen ließe. Wagner hat ein Leben auf Pump gelebt, und seine Weibergeschichten sind legendär, mindestens ebenso wie Beethovens Ruppigkeit im Umgang mit seinen Mitmenschen und sein mangelnder Respekt Höhergestellten gegenüber. Wenn ein Unsterblicher wie J.S.Bach ein unaufgeregtes Leben als Kantor und Familienvater geführt hat, ist man sogar ein wenig verwundert - als wenn dort an seinem genialen Wesen ein wichtiger Zug unterdrückt wäre.

Die Aura des Übermenschlichen umgibt auch die Stars, wenn auch in einer vermittelten, vom Handwerk entkoppelten Form. Vom Rockstar wird geradezu erwartet, daß er Hotelzimmer zerstört und Drogen nimmt, daß er also Regeln verletzt, die für alle anderen gelten. Im Unterschied zum Genie muß er dafür aber im Gegenzug nichts leisten - man behandelt ihn wie ein unschuldiges Kind, das wie zufällig über die Stränge schlug.

Wilhelmine Schröder-Devrient verurteilt man nicht, obwohl sie ein - im Rahmen der Zwänge ihrer Zeit - wildes Leben führt, gar ihre Kinder zurück läßt. Dies verzeiht man ihr aber nur, weil man ihre Schauspielkunst nicht anders erklären kann, als man in dieser einen Spiegel ihres gelebtes Leben vermutet. Madonna hingegen kann mit Kreuzigungsmethaphern spielen oder Britney Spears auf der Bühne küssen, ohne daß sie diese Provokationen irgendwie rechtfertigen müßte.

Die Provokationen der Stars gehen dabei allenfalls soweit, daß die Polizei einschreiten muß. Die Genies hingen riskieren es gelegentlich, von der gesamten Gesellschaft geächtet zu werden. Beethovens Aufsässigkeit gegen adlige Konventionen sprengen ebenso den Rahmen, wie jene Wagners gegen den Begriff von Anstand in der Viktorianischen Zeit. Ein Kuß zweier Frauen hingegen ist heutzutage allenfalls ein Ärgernis für einige allzu konservative Geister. Beim Genie sind es nicht nur äußerliche Grenzen, die sie überschreiten, sondern manchmal auch solche, die an die Wurzeln der Gesellschaft rühren.



Die Genies in den Künsten haben in der Gesellschaft des Bürgertums eine Doppelfunktion. Zum einen beschwören sie ein utopisches Jenseits, eine Überschreitung der Grenzen einer als ungenügend empfundenen Realität. Zum anderen sind sie aber gleichzeitig integraler und auch integrierender Bestandteil genau jener Gesellschaft, über die sie sich erheben wollen.

Der Aufstieg des Bürgertums erfolgt in zwei Strängen, die parallel, aber unsynchronisiert nebeneinander herlaufen - der zunehmenden ökonomische Bedeutung auf der einen; sowie der Notwendigkeit, die eigene Bedeutung anders zu legitimieren als bloß durch den Besitz der Produktionsmittel auf der anderen Seite. Der Adel definierte sich nicht über Besitz oder Geld, sondern über das Recht der Geburt, mit dem die Erwartung einer bestimmte Haltung verbunden war. Es gab verarmte Adlige, die gleichwohl vollen Zugang zu den Eliten hatten und an der politischen Macht partizipierten. Wenn die Bürger ihnen gleichberechtigt gegenübertreten wollten, mußten sie sich durch eine bestimmte Haltung auf einer geistig-moralischen Ebene legitimieren, sobald sie politischen Einfluß erreichen wollten. Diese Legitimität garantierte - ganz zu Beginn und auch in der Folge - die Identifikation mit Bildung, Moral, und Kunst. Im 19.Jh. gelangten alle Künste zu einer ganz besonderen Blüte, und den Künstlern wurde eine gesellschaftliche Bedeutung zugestanden, wie nie zuvor in der Geschichte.

Der Herausforderung an die Bürger, sich dem Adel gegenüber zu legitimieren, wird spätestens in den Gründerjahren (in der Folge der Reichsgründung 1871) zumindest objektiv obsolet. Dabei ist die Gesellschaft aber derart von der Idee einer das Leben erhebenden und überhöhenden Kunst geprägt und durchdrungen, daß sie auch in der Folge größte Bedeutung für die ideologische Grundausstattung der Zeitgenossen behält. Mit der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse ändert sich nämlich auch das Verständnis der Rolle von Kunst für die Kultur - hinterrücks, zunächst unbemerkt, und ohne dem Begriff seine Bedeutung zu nehmen. Irgendwann bleibt dort nur noch eine bloße Kulisse. Spätestens mit dem Aufkommen des Films kann man beobachten, wie sich Kunst immer einfacher in die konkreten Gegebenheiten der ökonomischen Sphäre eingliedern läßt - bis sie schließlich jeden Widerstand fallen läßt und zur leicht verkäuflichen Ausstattung einer Wahrnehmung wird, die die jeweils geläufige Mode inszeniert.



Kollektive


Die Musik nach 1945 brach radikal mit der Subjektivität des Geniekults, und brachte Verfahren hervor, die auf reiner Mathematik, oder aber dem Gegenteil, dem Zufall basierten. Man sprach einen Bann über das schöpferische Individuum und objektivierte das Komponieren in einer Weise, die nicht mehr zu steigern war.

Daneben entstand eine Art und Weise der Kunstproduktion, die ebenfalls die Rolle des genialen Schöpfers in Frage stellt: die kollektive Arbeit am Kunstwerk, wie man sie exemplarisch bei der Entstehung eines Kinofilms findet. Hier ist eine größere Gruppe von Spezialisten damit beschäftigt, ein Produkt zu gestalten, dessen Komplexität die Fähigkeit einer einzelnen Person sprengt. Der Regisseur ist hier die Hauptgestalt, indem er die Arbeit einer ganzen Reihe von „Autoren“ organisiert und zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen fügt – eine Rolle, die im Theater längst nicht dieses Prestige erfährt, weil dort der Verfasser des Stücks im Mittelpunkt steht. Im Filmgeschäft hingegen ist diese Rolle zentral. Hier ist es nicht mehr der Künstler, der die höchste Achtung genießt, sondern der Manager, der unterschiedliche Begabungen und die Leistung vieler verwaltet.

Das Genie tritt ab. An seine Stelle tritt eine Gruppe von Handwerkern, die einander zuarbeiten.

Auch in der Musik läßt sich das Phänomen wiederfinden, daß man immer eine Gruppe nennen muß, wenn man ein Werk zuordnen will. Zuerst findet man dies im Jazz - einem „Stil”, der weniger durch die Komponisten geprägt ist, als vielmehr durch die unterschiedlichen Solisten und deren Zusammenspiel in verschiedenen Bands. Die Bedeutung dieses Zusammenspiels wird ein wenig dadurch verdeckt, daß Bands immer wieder nach ihrem Leiter benannt sind. Bei den Bigbands der Swingarea macht dies auch noch einem gewissen Sinn, waren doch deren Leiter meistens in Personalunion auch Komponist und zumindest Arrangeur. Durch den relativ hohen Anteil an auskomponierten Passagen klingt es recht plausibel, wenn man z.B. das Orchester von Duke Ellington seiner Person zuordnet – und nicht den dort beschäftigten Solisten, auch wenn letztere es in hohem Maß prägen. Spätestens in den kleineren Besetzungen nach '45 spielt der Bandleader eine mehr oder weniger gleichberechtigte Rolle mit dem Rest der Besetzung – wenn er nicht gar zum Organisator wird, der hinter die restlichen Bandmitglieder zurücktritt (wie dies z.B. bei Miles Davis der Fall war).

Jazz ist nicht nur vom Zusammenspiel innerhalb einer Band geprägt, sondern auch durch eine expliziten Wertschätzung des musikalischen Handwerks. Nicht der (geniale) Komponist steht hier im Vordergrund, sondern der improvisierende Virtuose. Improvisation ist dabei in keiner Weise vergleichbar mit der Arbeit an einer Komposition, und zwar nicht nur durch den Unterschied im zeitlichen Aufwand (spontanes Entstehen vs. Arbeit vieler Wochen oder Monate) – man sollte improvisierte Musik nicht mit „spontanem Komponieren“ verwechseln. Es gibt bei den Solisten – wie auch in der Arbeit der Rhythmusgruppe – einen sehr hohen Anteil an vorgefertigtem Material, das eingeübt und in unterschiedlichem Kontext immer nur neu zusammengesetzt und wiederholt wird. Man redet mit gutem Grund von „Phrasen“, wenn man ein Solo nachträglich analysiert und in seine Bestandteile zerlegt. Ein guter Solist zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er etwas neu erfindet, sondern durch sein Vermögen, seine „Phrasen“ spontan so in den Kontext einzubetten, daß dies aus dem Moment heraus Sinn ergibt.

(Zum Thema „Improvisation” pflege ich hier im Blog einen eigenen Baukasten.)



Wie beim Jazz kommt man auch in der Popmusik mit dem Begriff des Genies nicht weiter. Auch hier sind die Musiker Handwerker, die arbeitsteilig an den Songs und Alben arbeiten. Durch die Bedeutung der Studiotechnik kann man den handwerklichen Charakter sogar noch besser greifen, als im von akustischen Instrumenten geprägten Jazz. Hier sind dezidiert Techniker involviert, die für den Produktionsprozeß unentbehrlich sind, und mit ihrer Arbeit auch an den ästhetischen Aspekten einer Musik beteiligt sind, bei der der Sound eine wichtige Rolle spielt.

Der Handwerkscharakter von Musik tritt umso stärker zu Tage, je einfacher sie ist. Im Jazz oder auch Rock gerade der 60er und 70er Jahre steht man nicht selten einer Komplexität gegenüber, die Assoziationen mit der abendländischen Tradition zuläßt. Wenn man bei den beteiligten Musikern auch nicht von Genies reden kann, ist der Begriff des Virtuosen hier ohne weiteres angemessen. Die Rockstars kann man vielleicht sogar als Diven bezeichnen – die egozentrische Selbstverliebtheit und Rücksichtslosigkeit ihrer Umwelt gegenüber haben sie nicht nur ausnahmsweise mit Opernsängern gemeinsam.

Spätestens im Punk der 80er, aber auch in Hiphop, Rap etc. trifft man dann auf Musiker, die man schwerlich mit den in der Kunstmusik gültigen Maßstäben messen kann. Gerade das Fehlen von handwerklicher Exzellenz macht den handwerklichen Charakter dieser Musik deutlich. Wie ein ungeschickter Tischler vielleicht noch einfache Möbel zusammen bekommt, bei einer kunstvoll (sic!) und detailreich gestalteten Vitrine jedoch versagt, so schafft ein Punkgitarrist gerade mal seine drei Akkorde, und auch die nur verwackelt und mit knapper Not im Rhythmus. Beim DJ, der am Computer sitzt und vielleicht nicht einmal Noten lesen kann, verbietet sich der Vergleich mit einem in sein eigenes Werk versponnen „Künstler“ von selber.

Wie aber soll man die Stars hier einordnen? Sie übernehmen in der Wahrnehmung des Publikums schließlich in wesentlichen Bezügen die Rolle, die im 19.Jh die genialen Komponisten einnahmen – sie stehen mit ihrer ganzen Person für die Musik, und kultivieren nicht selten eine Exzentrik, die jener der Genies hundert Jahre zuvor durchaus ebenbürtig ist. Trotzdem wird man selbst bei einer Ausnahmeerscheinung wie Miles Davis schwerlich von einem Genie sprechen – die Art und Weise, wie hier im Kollektiv Kunst produziert wird, hat eben nichts mit der Egomanie eines Richard Wagner zu tun, der sogar noch über die Architektur seines Opernhauses bestimmte.

Nike Swooch

Tatsächlich versteckt sich hinter der Identifikation eines Stars mit seiner Musik ein objektiv nur sehr lockerer Bezug. Madonna, Michael Jackson, etc.pp. sind letztlich nur Projektionsflächen für eine Musik, die von einer größeren Gruppe produziert wird – sie sind das, was in der Welt der Wirtschaft ein Label für eine Palette einander ähnlicher Produkte darstellt. Madonna et al. sind Labels auf einer Kollektion modischer Musik[1]. Letztlich findet man bei der Popmusik wesentlich mehr Gemeinsamkeiten zu der Entstehung und Vermarktung von Mode, als zu der Musik des 19.Jh. Die Fabriken für ihre Produktion stehen zwar nicht in Fernost, und die Situation der Musiker und Techniker kann man nicht ernsthaft mit jener der Arbeiter in den Sweat-Shops vergleichen. In beiden Bereichen wird aber letztlich entfremdete Arbeit geleistet, deren einförmige Resultate hinterher von einer Marketing-Maschinerie eine passende Außenerscheinung verpaßt bekommen, um so etwas wie Konkurrenz zu simulieren und den Tauschwert künstlich zu erhöhen. Was der Nike-Swoosh für die Turnschuhe bedeutet, indem er sie von den in denselben Fabriken fabrizierten Schuhen der Konkurrenz absetzt, leistet Madonnas Gesicht und Körper für den akustischen Brei aus dem Radio.

  1. [1] Es ist dabei überhaupt kein Wunder, daß die Stars des Popbetriebs ausnahmslos äußerst attraktive Menschen sind und man schon in den Rockbereich schauen muß, bevor man durchschnittliche oder gar häßliche Gesichter findet.

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Zur Position Adornos


Wenn ich den handwerklichen Charakter der Popmusik so betone, und in ihren extrem auf den Markt zugeschnittenen Formen eher Mode denn Musik vorzufinden meine, klingt das wohl wie die allbekannte Kritik an den Auswüchsen der Kulturindustrie, wie sie von linken wie strukturkonservativen Kreisen gleichermaßen wieder und wieder vorgebracht wird. – Ich will aber auf etwas anderes hinaus.

Um meinen Punkt etwas genauer zu fassen, komme ich um eine zumindest knappe Auseinandersetzung mit einem mächtigen Brocken nicht herum – das ist die Position Theodor W. Adornos, der den bis heute einzig plausiblen Entwurf für eine Philosophie der Musik vorgebracht hat.

Im Publikum ist der Verdacht verbreitet, daß im Markt erfolgreiche Musik notwendig Züge aufweist, die auf Kosten ihrer inneren Integrität gehen – daß hier also faule Kompromisse mit dem Geschmack des Massenpublikums gemacht werden, die zwangsläufig auf Kosten der Qualität gehen. Soweit ist das eine Erfahrung des Alltags, für die es viel Feuilleton, aber wenig echte Analyse gibt.

Theodor W. Adorno

Adorno springt hier in die Bresche, und bietet eine profunde Erklärung. Er analysiert die Unterhaltungsmusik als schleichende Degeneration der Kunstmusik. Den avancierten Komponisten bleibt seiner Darstellung zufolge im Widerstand gegen den Versuch, ihre Musik der Verwertungslogik des Kapitals gefügig zu machen, nur die Flucht in den Elfenbeinturm. Sie ziehen ihre Werke zurück in ihre eigene, von außen unsichtbare innere Logik, in eine Autonomie, die der Markt nicht mehr aufsaugen kann – um den Preis, daß sie kaum noch ein Publikum finden, das etwas mit ihnen anzufangen weiß.

Zentral in Adornos Argumention ist die Annahme vom Fortschritt des musikalischen Materials. Nur jene Komponisten, die gewissermaßen auf dem letzten Stand der Dinge stehen, sind in der Lage, sich der gesellschaftlichen Vereinnahmung durch die Kulturindustrie zu entziehen. Eklektiker, die zum Bestand des Materials nichts neues hinzufügen, oder gar hinter den Stand des Erreichten zurückfallen, sind dazu verdammt, zum Spielball der gesellschaftlichen Kräfte zu werden, die sie massenkompatibel zurichten - was auch immer die konkreten Konsequenzen sind.

Merkwürdigerweise ist für Adorno mit der Musik Schönbergs und seiner Schule jedoch der Gipfel erreicht. Zur seriellen Musik hat er sich meines Wissens nicht geäußert, und zur Aleatorik John Cages fiel ihm nur das Aperçu ein, nicht zu verstehen, wie ein so reizender Mensch so gräßliche Musik schreiben könne. Auf den Gedanken, daß in Cages Musik der Mensch überhaupt keine Rolle mehr spielt, ist er nicht gekommen, obwohl hier doch mit der künstlerischen Autonomie endgültig ernst gemacht wurde. Dort sind die Menschen komplett aus dem Elfenbeinturm verbannt, und es herrscht nur noch radikale Objektivität, oder aber der ebenso wenig von den Subjekten beeinflußbare Zufall. Die letzte Entwicklung und Zuspitzung in der Entwicklung des musikalischen Materials geht an Adorno – von ihm unbesehen – vorbei.

Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß der Begriff des „musikalischen Materials“ denkbar vage im Raum stehen bleibt. Adorno dürfte von den technischen Aspekten von Musik eigentlich mehr als genug wissen, um hier eine saubere Definition zu versuchen. Es bleibt aber z.B. bei dem Hinweis, daß sich im Lauf der Musikgeschichte der Gebrauch von Dissonanzen weiterentwickelt habe – vom verminderten Vierklang, der, laut Adorno, schärfsten für Beethoven verfügbaren Dissonanz, bis hin zur Zwölftontechnik Schönbergs.

Tatsächlich gibt es im Lauf der Musikgeschichte eine Verschiebung, die m.E. jedoch nichts über die Qualität der Werke besagt. Man kann mit einfachsten tonalen Mitteln avancierte Kompositionen schaffen, die auf das Unverständnis des Konzertpublikums stoßen. Ebenso gelingt aber auch ein strukturell naives Werk, das bei einem breiteren Publikum Erfolg hat, obwohl es mit denkbar schärfsten Reibungen arbeitet. Die Arbeiten von Arvo Pärt bieten ein Beispiel für den ersten Fall, György Ligetis „Atmosphères“ (das u.a. in einem höchst populären Kinofim – Stanley Kubriks „2001“ – im Soundtrack auftaucht) für den zweiten.

Der musikphilosophische Ansatz Adornos taugt m.E. allenfalls für die Ausdeutung der Musikgeschichte von der Wiener Klassik bis zur Mitte des 20 Jh. Weder die Musik der Renaissance oder des Barock kann man in dieses Modell einordnen, noch die sog. „Neue Musik” nach '45.

Nachdem die seriellen und aleatorischen Experimente in die Sackgasse führten, war man gezwungen, sich auf eklektische Pfade zu begeben. Alles, was seit den späten 50ern, 60er Jahren an Musik entstand, ist letztlich immer ein Rückgriff auf überkommene Formen und längst erprobte Wege. Von einem Fortschritt des musikalischen Materials kann nicht länger die Rede sein.

Ähnliches gilt für das Barock, das man keinesfalls als stringente Entwicklung beschreiben kann, sondern als ein Nebeneinander verschiedener Stile und Richtungen, und – darauf kommt es wohl an – einen unterschiedlichen Grad in der Beherrschung des musikalischen Handwerks durch die Komponisten jener Epoche. Es ist kein Wunder, daß man hier das Wort von den „kleinen Meistern“ im Munde führt, um zweitrangige Musik von den „Meister“-„Werken“ der bedeutenden Komponisten abzugrenzen – da zieht die Betonung des kompositorischen Handwerks auch in die Sprache ein.

Adornos Sicht basiert auf dem Wirken von komponierenden Subjekten, die sich einer kalten Objektivität widersetzen, bis ihnen zum Schluß nichts übrig bleibt, als sich aus der Welt zurückzuziehen, indem sie noch ihre Werke in eiseskalte Objektivität kleiden. Das ist eine Dialektik, die genau dann funktioniert, wenn man die großen Komponisten als Genies begreift. Wo diese Kategorie noch nicht existierte – im Barock – oder komplett in Verruf geriet – in der Postmoderne – greift sie letztlich noch nicht, bzw. nicht mehr.

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Qualität


Jede Musik hat (auch) eine gesellschaftliche Funktion. Adorno zufolge mißt sich ihr Wert danach, wie weit sie sich dieser Funktion entzieht und sich nur noch ihrer inneren Struktur besinnt. Musik, die ihre eigene Integrität bewahren und die Hoffnung auf ein richtiges Leben (die sie - als Kunst - immer mit sich führt und verspricht) nicht verraten will, muß sich dem Falschen radikal verweigern. Adorno kann unter dieser Annahme zu dem Schluß kommen, daß es Musik gibt, die nicht einfach bloß schön ist und gefällt, sondern von Wahrheit spricht – es gibt hier einen sehr eindeutigen Maßstab, um Musik zu bewerten.

Ich will gar nicht darauf herumreiten, daß Adorno in seinen konkreten Betrachtungen einzelner Komponisten und ihrer Werke häufig daneben liegt, weil seine Urteile öfters weniger von exakter Analyse, sondern vom persönlichen Geschmack getrieben werden. Wenn man seine Ästhetik aber fallen läßt und ihre Gültigkeit auf das Zeitalter der (weit gefaßten) Romantik beschränken will, muß man sich schon der Frage gefallen lassen, ob man ab sofort alles Urteil dem persönlichen Geschmack der Hörer überläßt. Dann müßte man Dieter Bohlens Spruch, Bach oder Beethoven, würden sie heute leben, so komponierten wie er, nur noch hinnehmen. Wo pure Arroganz objektiv existierende qualitative Abgründe zwischen der allerdümmsten Popmusik und den Klassikern verleugnet, hätte man keine Argumente mehr.

Ich habe eine vage Ahnung, was man dem entgegen setzen könnte, aber auch keine konzise Theorie. Ich starte mit ein paar eher ungeordneten Anmerkungen.

Zunächst ist unbestritten, daß jeder Hörer für sich selbst entscheidet, welche Musik er mag. Im Streit zwischen den Anhängern verschiedener musikalischer Richtungen schwingen dabei aber immer Motive mit, die mit der Musik selbst wenig zu tun haben, sondern sich nur um die Geltung der eigenen Person drehen. Wer den Konzertsaal besucht und Beethoven verehrt, wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sich dem Pop-Fan auch moralisch überlegen fühlen, während er sich umgekehrt als versnobter Angehöriger einer überkommenen Elite beschimpfen lassen muß. In diesen Streit werde ich mich nicht einmischen – es ist unbestreitbar, daß jede Musik eine bestimmte gesellschaftliche Funktion für ihre Hörer hat, die jedoch nicht das geringste über ihre Qualität besagt.

Man kommt aber auch nicht recht weiter, wenn man musikalische Werke auf ihr Handwerk untersucht und analysiert. Dann kann man zwar sagen, daß jede Sinfonie Mahlers hundertmal komplexer ist als jeder noch so avancierte Jazz, und zwar sowohl in formaler als auch harmonischer Hinsicht. Selbst die für den Jazz so essentiellen Rhythmik kann man hier nicht ohne weiteres ins Spiel bringen, geht doch Mahler auch hier wesentlich weiter als jedes Experiment im Jazz. Solche Beispiele kann man beliebig weiter aneinander reihen – sie sagen jedoch überhaupt nichts über Qualität, sondern bloß über die Schwierigkeiten, die man beim Hören hat. Mahler ist nicht besser als Pop. Bevor man ihn versteht, muß man aber einen recht langen Weg zurücklegen, was dann - nicht nur gelegentlich - die ermatteten Wanderer ihren Marsch als denjenigen verklären läßt, der zum einzig wahren Ziel führt.

Formale, harmonische und rhythmische Konzepte können sehr einfach sein, aber dennoch unwiderstehlich wirken – genau so, wie man äußerst komplexe Musik schreiben kann, die überhaupt nicht funktioniert (ich habe mich – in den oben verlinkten Baukästen – schon konkreter dazu geäußert). Dabei ist die Beobachtung, daß eine bestimmte Musik beim Hörer „ankommt“, letztlich auch kein hinreichendes Kriterium für Qualität. Wenn sie aber selbst für einen gut ausgebildeten Hörer nicht nachvollziehbar ist, muß man schon die Frage stellen, ob hier nicht der Übergang in eine andere Form von Kunst stattfindet – ob man es z.B. in der Aleatorik John Cages mit einer Performance, nicht aber mit Musik zu tun hat.

Es gibt nicht nur komplexe und einfache Musik, sondern auch jene, bei der die Proportionen stimmen, ohne daß der Komponist allzu tief im Handwerkskasten wühlen mußte. Schuberts Lieder sind ein gutes Beispiel für das, was ich hier meine. Qualitativ hochstehende Musik findet sich keinesfalls zwangsläufig in der überbordenden Sinfonik des Konzertsaals, sondern auch und gerade in der Kammer.

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Über den Rang von musikalischen Werken läßt sich nichts sagen, was objektive Gültigkeit hat. Daraus folgt aber nicht, daß es einzig beim individuellen Geschmacksurteil bleibt, und darüber hinaus nichts zu sagen wäre. Musik hat ja eine objektive Ebene, die man analysieren und aufschlüsseln kann, selbst wenn aus dieser Analyse kein ästhetisches Urteil folgen kann – zumindest nicht, ohne einen gewissen Umweg zu nehmen.

Der Konstruktivismus bestreitet, daß es so etwas wie eine objektive Wirklichkeit gibt, die man mit den Sinnen wahrnimmt. Vielmehr konstruiert der Mensch die Welt, indem er seine Sinne benutzt. Mit den Worten Heinz v. Försters: „Objectivity is a subject's delusion that observing can be done without him.” Ohne diesen Gedanken hier weiter auszuspinnen, kommt es in diesem Zusammenhang nur darauf an, wie der Konstruktivismus die Frage beantwortet, wie es dann möglich ist, daß sich die Menschen überhaupt in der – ja angeblich objektiv nicht vorhandenen, sondern nur durch subjektive Bewußtseinsarbeit geschaffenen - Umwelt zurechtfinden, und sogar miteinander kooperieren. Die Antwort lautet, daß Erkennen nicht dadurch zustande kommt, indem man eine objektiv gegebene Welt passiv-hinnehmend auf sich wirken läßt, sondern indem man sie handelnd selbst erzeugt ― und zwar nicht jeder Mensch einzeln, sondern in Gruppen von Menschen, ja im Handeln der ganzen Menschheit. Durch „die Bestätigung des eigenen Erlebnisses durch sprachliche Interaktion mit einem anderen und die erfolgreiche Interpretation der Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen“[1] sind es nicht einzelne Subjekte, die als Monaden unverbunden nebeneinander hertreiben, sondern die Gemeinschaft vieler, wodurch sich zwischen „subjektiven Hirngespinsten und der objektiven Erlebenswelt der Gemeinschaft“[2] durchaus unterscheiden läßt.

Wenn man dies auf die Frage nach der Möglichkeit von Werturteilen über Musik übertragen will, bedeutet dies, die Möglichkeit von Kommunikation über Musik zu untersuchen. Wenn es möglich wäre, hier so etwas wie eine gemeinsame Sprache zu finden, in der man miteinander sein Hören kommunizieren kann, sollte es auch möglich sein, eine gemeinsame qualitative Einschätzung von Musik zu finden. Dazu ist es allerdings nötig, daß man die Welt subjektiver Assoziationen verläßt und sich dazu bereit erklärt, zunächst einmal über die handwerklichen Aspekte von konkreten musikalischen Werken zu reden. Schon an dieser Stelle scheitert es ja schon oft, weil viele Hörer nicht bereit sind, ihr unmittelbares emotionales Hören wenigstens für den Zeitraum des Diskurses hinten an zu stellen. Meistens ist das wohl nur eine Ausrede, weil man nicht über das entsprechende technische Vokabular verfügt – jedermann hat ja eine Meinung über die von ihm präferierte Musik, egal, ob er sie adäquat beschreiben kann oder nicht. Nicht selten geht allerdings fehlendes Wissen über die technischen Zusammenhänge mit ungenügendem Hören einher. Hören muß man lernen. Das Hören von Musik hat mit der Rezeption akustischer Signale höchstens peripher zu tun, weil die Ohren nicht direkt mit dem Gehirn verdrahtet sind, sondern allenfalls eine Zuspielhilfe darstellen, über die der Klang erst nach dem Passieren zahlreicher Filter im Bewußtsein landet. Erst wenn man diese Filter kennt und trainiert, kann man ein halbwegs komplexes Werk „verstehen“ oder – besser gesagt – adäquat erfahren, und erst dann kann man über es jenseits von unreflektierten Geschmacksurteilen kommunizieren.

Die Voraussetzung dazu, Musik zu beurteilen, ist m.E. ihr technisches Verständnis. Damit hat man immer noch keine objektiven Kriterien an der Hand, sondern allenfalls eine gemeinsame Grundlage, auf der man dann verhandeln kann.

  1. [1] Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Einführung in den Konstruktivismus, München 2009, S.34
  2. [2] AaO, S.37

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Im Rahmen der Debatte über die Qualität von Musik stolpert man fast immer über zwei Themen, die ich kurz berühren will, auch wenn sie nicht ganz in den Rahmen passen.

Zunächst geht es um die Frage, ob die Beurteilung von zeitgenössischer Musik nicht generell unmöglich ist, weil wir ihr viel zu emotional gegenüber stehen, und ihren tatsächlichen Gehalt nicht von ihrem „emotionalen Gebrauchswert” trennen können. Vielleicht, so die Überlegung, muß ein bestimmtes Werk erst überdauern, bevor wir über die tatsächliche Qualität urteilen können: die wichtigen Komponisten überstehen die Zeit, während ihre unbedeutenderen Zeitgenossen in Vergessenheit geraten. - Ich halte diesen Gedankengang grundsätzlich für fragwürdig, und zwar aus zwei Gründen.

Zunächst „verobjektiviert” sich Musik keinesfalls, nur weil ihr Ursprung in der Vergangenheit liegt. Sie ist lebendig nur deshalb, weil sie auch in der heutigen Zeit eine Funktion hat. Mozart wäre vergessen, wenn nur seine Partituren im Museum aufbewahrt wären. Seine Musik wird aber im Rahmen der heutigen Praxis aufgeführt und von einem (relativ) breiten Publikum gehört - und zwar nicht aus historischem Interesse, sondern weil sie auch heute noch die Hörer emotional berührt. Darin unterscheidet sie sich in nichts von der aktuell geschriebenen Musik.

Dabei ist ihre heutige Funktion idR völlig anders ist als jene, die sie zur Zeit ihres Entstehens hatte. Dadurch wird es schwierig, sich von einer Musik ein konkretes Bild zu machen, die in einem Umfeld entstanden ist, das wir nicht konkret erleben, sondern allenfalls über historische Quellen nachvollziehen können. Das führt z.B. bei den Kantaten Bachs dazu, daß man sich überhaupt erst eine Vorstellung von der Bedeutung der Musik in der protestantischen Kirche sowie der strikten Trennung zwischen musica sacra und musica viva machen muß, bevor man auch nur ansatzweise die Leistung Bachs einschätzen kann. Auch die Qualität eines Streichquartetts Beethovens läßt sich letztlich schwerer beurteilen als die eines Quartetts von Schönberg - Schönberg tritt dem heutigen Hörer (relativ) unvermittelt gegenüber, während dieser vom Beethoven erst die historische Schlacke entfernen muß, bevor er dessen Mühe um die Struktur wahrnimmt, und nicht an der Oberfläche der vermeintlich „schön” klingenden Dur- und Moll-Akkorde letztlich scheitert.

Der zweite Grund ist letztlich auch nur ein Indiz für die behauptete Schwierigkeit im Umgang mit historischer Musik. Heutzutage gibt es einen recht genau umrissenen Kreis von Komponisten, die man zu den „Ewigen” zählt, wobei man jedoch regelmäßig übersieht, daß es auch dort innerhalb des Gesamtwerks fast ausnahmslos Stücke gibt, die qualitativ klar herausfallen. Besonders deutlich kann man das bei Beethoven sehen, der sich in seinem Frühwerk immer wieder von seinen Kritikern zurück pfeifen ließ, um nach einem kühnen Experiment ein nichts sagendes Werk vom Fließband zu liefern (z.B. in den Streichquartetten op. 18, aber auch in der hinter die Errungenschaften der 1.Sinfonie weit zurückfallenden 2.Sinfonie). Angesichts Schuberts muß man sich klar machen, daß die ersten 500 Werke des Deutsch-Verzeichnisses Übungsarbeiten des 15- bis 18jährigen Schülers erfassen. Hierzu gehören u.a. die ersten sechs Sinfonien, die trotz ihrer Schwächen zum Standardrepertoire der Gegenwart gehören.

Das zweite Thema dreht sich um die Bedeutung von Innovationen, wenn es um die Beurteilung des Werts eines Werks geht. Tatsächlich würde man wahrscheinlich achtlos an einem Komponisten vorüber gehen, der heutzutage Stücke schreibt, die nach Mozart klingen, so gut die auch handwerklich gemacht wären. Im (weitgefaßten) Zeitalter der Romantik galt es tatsächlich als grundsätzliche Kritik, wenn man jemanden der Nachahmung und des Eklektizismus beschuldigte. Man war der Meinung, daß es einen Fortschritt in der Musikgeschichte gäbe - daß diese ein Ziel und einen benennbaren Sinn habe (bekanntlich hat Hegel den Gedanken des teleologischen Charakters jeder geschichtlichen Entwicklung auf die Spitze getrieben). Jede Wiederholung etwas bereits Dagewesenen war hier gewissermaßen wider die Natur, und hatte einen häßlichen Beigeschmack.

Das wurde in der Zeit davor und jener danach aber anders gesehen, und auch die Leistungen in der Musik wurden nicht danach bemessen, ob jemand besonders originell war - ich habe das in der kurzen Auseinandersetzung mit der Theorie Adornos ein wenig ausführlicher dargestellt. Wenn man z.B. den Pop ernsthaft danach bemessen würde, ob er etwas neues hervorbringt, und all jene Stars, die dies nicht tun, einfach ignoriert, hätte man eine hochgradig limitierte Plattensammlung, die keine Alben aus der Zeit seit Mitte der 70er mehr enthält. Unter dieser Prämisse müßte man übrigens auch den späten Wagner oder alle Opern Richard Strauss' außer Salome und Elektra ablehnen. Tatsächlich hatten die Zeitgenossen große Mühe, den Rückfall hinter einmal erreichte Standards bei diesen beiden Komponisten zu begreifen - nicht wenige waren überzeugt, daß Wagner nach dem Tristan künstlerisch am Ende - „ausgebrannt”, wie man heute sagen würde - war. Er war dies ganz sicherlich nicht, und der „Rosenkavalier” oder die „Ariadne” Strauss' haben ihren Platz in der Musikgeschichte durchaus verdient.

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Ich habe in den letzten Einträgen eine Reihe von Aspekten genannt, von denen man annehmen könnte, daß sie zur Beurteilung von Musik taugen, die dies aber letztlich nicht leisten können. Dabei bin ich eine positive Darstellung schuldig geblieben: mit welchem Verfahren kann man denn erkennen, ob ein Werk etwas taugt oder nicht? Was sind hier die Kriterien für „Qualität?” Der Grund ist recht einfach: solch ein Verfahren - solche Kriterien - gibt es m.E. nicht, mehr noch: das kann es auch gar nicht geben.

Die Frage lautet ja: wie läßt sich musikalische Qualität sinnvoll messen? Ich versuche es mit einer Analogie.

Wenn ich zwei Motorräder vor mir habe, und wissen will, welches davon schneller ist, hilft mir ein Blick auf die Motorleistung nur bedingt weiter – zu einer Aussage, die mehr ist als eine bloße Vermutung, kann ich so nicht kommen. Besser geht es, wenn ich die Maschinen auf eine Rennstrecke bringe, und dort einige Runden drehe. Dabei bin ich ja allenfalls ein mittelmäßiger Fahrer und gar nicht in der Lage, den Grenzbereich auszuloten – insofern ist die von mir gemachte Erfahrung ein Anhaltspunkt, aber kein Beweis. Der Sache komme ich schon sehr viel näher, wenn ich Valentino Rossi die Runden drehen lasse, oder besser noch, eine ganze Gruppe von Fahrern aus dem MotoGP-Zirkus. Wenn die dann übereinstimmend sagen, Maschine 1 ginge am Besten, habe ich ein Ergebnis, mit dem ich vollauf zufrieden bin.

Man kann einwenden, daß dies doch immer noch bloß eine Meinung ist, auch wenn die vielleicht von einem Experten vorgetragen und sogar von einer Gruppe geteilt wird. Objektiv nachgewiesen sei damit aber noch gar nichts. Warum, so läßt sich fragen, verwendet man nicht ganz einfach eine Stoppuhr?

Die Stoppuhr hilft hier jedoch überhaupt nicht weiter. Ihr Einsatz erweckt lediglich den Anschein von Objektivität und legt einen Schleier über das eigentliche Problem. Die Frage nach dem schnellsten Motorrad sollte man in seiner Komplexität nicht unterschätzen. Es geht hier keinesfalls nur um die Leistung des Motors, sondern generell um Eigenschaften im Fahrverhalten. Wie liegt die Maschine auf der Straße, wie reagiert sie auf Bodenwellen, wie präzise lassen sich die Bremsen dosieren?, etc.pp. Man stellt hier die Frage nach „Qualität“, die sich letztlich nicht in einzelne Teilaspekte herunter brechen läßt. Sicher – man kann mangelnde Dosierbarkeit der Bremsleistung korrigieren, indem man am Bremshebel schraubt – möglicherweise hat man aber die falschen Reifen aufgezogen. Wenn man diese wechselt, stimmt plötzlich etwas in den engen Kehren nicht, oder man hat zu wenig Gripp beim Herausbeschleunigen aus der Kurve. Etc.pp. – ein Motorrad ist ein klassisches Beispiel für eine nicht-triviale Maschine, deren Komplexität eine Analyse prinzipiell unmöglich macht.

Außerdem – und das ist der springende Punkt – hat man es hier mit der Geschicklichkeit von Menschen zu tun, die einfach dadurch, daß sie handeln, eine Maschine beherrschen, deren Funktionieren der Verstand nicht begreifen[1] kann. Zur Komplexität der Maschine kommt noch die Komplexität der Operationen hinzu, mit denen man sie bedient. Niemand kann konkret und in allen Einzelheiten erklären, was ein Rennfahrer eigentlich tut – dieser kann aber recht zuverlässig darüber Auskunft geben, welches Motorrad besser „geht”. Wenn ich dieser Auskunft des Fahrer mißtraue und zur Stoppuhr greife, ist es sogar möglich, daß er bewußt sein Tempo manipuliert, um mich vorzuführen, ohne daß ich dies bemerken könnte. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf seine Expertise zu setzen – etwas Besseres ist schlicht nicht zu haben.

(Den Übertrag auf das Gebiet der Musik bleibe ich zunächst einmal schuldig.)

  1. [1] Im "Begreifen" liegt das "Greifen", das in diesem Fall der Hand bzw. dem Körper gelingt, nicht aber dem Verstand.
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