Körperwissen

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Wenn man von „Bildung” spricht, und in diesem Zusammenhang auf den Prozeß des „Lernens” zu sprechen kommt, meint man die Wege zur Aneignung von intellektuellem Wissen. Davon meist völlig getrennt, spricht man vom Erlernen motorischer Fertigkeiten, und nennt diesen Prozeß dann gewöhnlich „Training”. - Ich halte diese Trennung für im Ansatz falsch. Das Gehirn „trainiert” man letztlich auch nur, und die Feinmotorik bekommt man nur in den Griff, wenn man sie mental beherrscht. - Aber der Reihe nach.

Wenn ich ein Instrument lerne, muß ich üben, d.h., ich führe bestimmte Bewegungsabläufe wieder und wieder aus, bis ich sie fehlerfrei beherrsche (dabei muß man unterscheiden zwischen dem genialen Musiker, der selbst als Kind Beachtliches leisten kann, und dem Virtuosen, der erst nach einem langen Zeitraum täglich vieler Stunden Übens sein Ziel erreicht. Nur von Letzterem ist hier die Rede).

Dabei gibt es zwei entscheidende Aspekte, einer, der eine so selbstverständliche Binse ist, daß ich mich wundere, warum er nicht im Zentrum jeder Pädagogik steht, einen zweiten, den mir wohl nur die abkaufen, die die Erfahrung bereits gemacht haben. Es geht darum, daß man jeden Fehler ebenso trainiert wie die „richtig” ausgeführten Abläufe; ferner darum, daß man Bewegungen des Körpers im Kopf trainieren kann, damit sie sitzen.



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In seinem Roman „Lea” beschreibt Pascal Mercier den Werdegang eines elfjährigen Mädchens zur gefeierten Geigerin. Ganz am Anfang, als Lea einer Straßenmusikerin beim Geigespielen zugehört hat und sich auf Anhieb in das Instrument verliebt, heißt es:

Lea nämlich hatte […] über ganz praktische Dinge nachgedacht: wie [die Geigerin] wissen konnte, wo sie Halt machen mußte, wenn sie mit der Hand den Geigenhals hinauf- und hinunterrutschte. (S.40)

(Pascal Mercier. Lea. S.40)

Nach einigen Jahren ausdauernden Übens hat sich dieses Nachdenken aufgelöst:

Daß jemand nach so kurzer Zeit in allen Lagen zu Hause war, hatte [Leas Lehrerin] in den vielen Jahren des Unterrichtens noch nie erlebt, und Lea konnte Tränen lachen, wenn ich sie daran erinnerte, wie sehr es sie beschäftigt hatte, daß [die Geigerin] so genau wußte, wo sie beim Lagenwechsel mit dem Gleiten der Hand Halt machen mußte.

(AaO, S.69)

Wie kommt es, daß eine einst ernsthaft gestellte Frage im Rückblick nur noch ein Lachen auslöst? Sicherlich liegt das nicht daran, daß Lea sie plötzlich beantworten könnte. Was ihr anfangs erklärungsbedürftig erschien, wurde selbstverständlich, und sie hat keine Ahnung mehr, warum sie die Frage einst gestellt hatte - sie hat völlig vergessen, was ihr damals Anlaß zum Staunen gab.

Wie gesagt: die Frage könnte sie noch immer nicht beantworten: sie weiß nicht, wie sie es hinbekommt, die Hand immer an die exakt richtige Stelle zu bewegen, aber sie kann das. Wenn man etwas kann, wundert man sich gelegentlich, warum ein Anderer dies eben nicht kann und womöglich nachfragt, wie dieses Können denn möglich sei. Eine nachträgliche Analyse fällt dann aber außerordentlich schwer. Wenn man sie dennoch versucht, geht es einem womöglich wie dem Tausendfüßler, der, danach gefragt, wie er denn seine vielen Beine koordiniere, ins Sinnieren gerät und darüber dann auch gleich ins Stolpern.

Tatsächlich ist das, was feinmotorisch beim Geiger beim Lagenwechsel abläuft, eine außerordentlich diffizile Angelegenheit. Wenn er nur Bruchteile eines Millimeters daneben greift, kann man das augenblicklich deutlich hören. Ein erfahrener Spieler greift aber überhaupt nicht mehr daneben (wenn, dann sind das meist deutlich gröbere Fehler, die nicht auf ein Versagen der Feinmotorik, sondern des Gedächtnisses für das Stück hindeuten). Dabei kommt es zu solcher geradezu unfehlbaren Sicherheit erst nach vielen Jahren ausgedehnten Übens. Man kontrolliert dabei aber die Feinmotorik nicht dadurch, daß man sie bewußt zu steuern lernt. Der „Sollwert” für einen präzisen Lagenwechsel ergibt sich nicht aus der Kraft, mit der sich die Hand bewegt, sondern vielmehr am Resultat, dem exakt intonierten Ton.

Man trainiert die Muskeln, steuert sie aber über das Ohr.



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Die Einsicht, daß man jeden Fehler mittrainiert, ist letztlich in jeder Predigt enthalten, die sagt, man solle es langsam angehen. Mein Motorradtrainer vom letzten Sonntag betonte immer wieder, daß ich versuchen solle, einen sauberen Turn zu fahren; die Schnelligkeit käme dann von ganz alleine. So ist es (und zwar nicht nur auf der Rennstrecke): jeder Fehler, den man im Streß von Geschwindigkeit im persönlichen Grenzbereich macht, landet genauso in der Feinmotorik wie die Dinge, die man bei niedrigerem Tempo richtig macht. Die Frage ist bloß, was zum Schluß überwiegt: häufig sind es die Schludereien und Nachlässigkeiten, die man viel zu oft und mit nachhaltiger Wirkung wieder und wieder bei sich selber hat durchgehen lassen.

Der zweite Punkt betrifft das sogenannte "mentale Training". Es gibt ja den "Instinktfußballer", der über sein Tun nicht im mindesten reflektiert, von der Straße kommt und den Ball mit stupender Sicherheit ins Tor bekommt. Diesen Typus gibt es, das steht völlig außer Frage. Interessant ist, daß man selbst im Fußball sein Gegenstück findet: den reflektierten Spieler, der sein Training und seine Technik rational prüft und steuert.

(Ich klammere hier das Thema des kindlichen Lernens bewußt aus, bin aber nicht ganz sicher, ob das wirklich legitim ist.)

Man kann einen Bewegungsablauf erlernen, indem man ihn sich in allen Einzelheiten wiederholt vorstellt. In der Vergangenheit habe ich Experimente beim Üben des Instruments angestellt und bestimmte Läufe ausschließlich mental geübt: ich konnte diese Läufe nach einer gewissen Zeit auf Anhieb fehlerfrei und in relativ hohem Tempo spielen. - Beim Motorradfahren gibt es bestimmte Dinge, die man ausschließlich mental trainieren kann, wie z.B. das Verhalten bei einem Frontalzusammenstoß mit einem Auto (schnellst möglich in den Rasten aufstehen, damit man nicht mit dem Körper in das Auto einschlägt, sondern über das Dach fliegt).



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Ein Experiment: man nehme einen scharf angespitzten Bleistift, und male damit auf einer Raufasertapete. Das fühlt sich komplett anders an, als wenn man auf einem glatten Stück Papier malt: wo, an welcher Stelle, fühlt man diesen Unterschied?

Ein zweites Experiment: man schlage eine Gitarrensaite mit einem Plektrum an. Wo, an welcher Stelle fühlt man den Kontakt mit der Saite?

Nr. 3: man fahre mit dem Motorrad in immer extremerer Schräglage, bis man spürt, daß jede weitere Steigerung dazu führt, daß das Hinterrad wegrutscht - wo vermittelt sich dieses Gefühl?

Die Antworten: man spürt den Kontakt mit dem Untergrund an der Spitze des Bleistifts, am Plektrum, am Hinterrad des Motorrads - und nicht etwa in den Nerven der Hand, oder in denen des Hintern. - Der Gedanke ist gewöhnungsbedürftig, leuchtet aber nach einigem Nachdenken ein.

Ein schlichter Zeigestock beispielsweise steckt in seiner Handhabung bereits voller Wunder. Wenn wir ihn mit geschlossenen Augen auf eine Wand zubewegen und diese dann mit der Spitze des Zeigestocks [...] betasten, dann erleben wir den Widerstand, den sie bietet, nicht in den Fingerspitzen oder in der Hand, sondern vorne an der Spitze des Zeigestocks. Genauer noch: es ist nicht nicht einmal so sehr der Widerstand, den wir erleben, sondern es ist ganz unmittelbar die Wand selber.
- Bernt Spiegel, Die obere Hälfte des Motorrads (Hervorhebungen im Original)



Es geht um den Begriff des Werkzeugs. Ein Werkzeug verlängert die Wahrnehmung des eigenen Körpers und wird zu dessen integrativem Bestandteil.

Ich tippe das Thema hier nur an; m.E. hat die Beobachtung, daß der menschliche Körper um äußere Gegenstände erweiterbar ist, Auswirkungen auf das gesamte Konzept der Dialektik zwischen Mensch und Natur.

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"Ein potenzieller Organspender", hörte ich eine Mutter zu ihrem Kind sagen, das mit offenem Mund einem Supersportler hinterher sah, dessen Fahrer sich - im Stadtverkehr - bemühte, den erste Gang auszudrehen. - Das Kind hat den Spruch sicherlich nicht verstanden, ebensowenig wie der Moppedfahrer sein eigenes Motorrad.

Man hört gelegentlich, daß die Lust an der Geschwindigkeit sich dem in dieser Situation freigesetzten Adrenalin verdankt. Das mag so sein: Adrenalin kommt ins Spiel, wenn man sich in einer Situation befindet, die über dem persönlichen Limit liegt - wenn man kurz davor steht, die Kontrolle zu verlieren, und Angst hat. Tatsächlich kann man einen bewußt herbeigeführten Kontrollverlust genießen - beispielsweise beim Bungeespringen, Achterbahnfahren oder auch bei der Autobahnraserei. Auch wer aus dieser Motivation sein Motorrad über die Rennpiste scheucht, mag auf seine Kosten kommen. Er ist dann aber eines gewiß nicht: wirklich schnell.

Schnelles Fahren funktioniert nur, wenn man jederzeit die Kontrolle hat, entspannt ist, und sich wohl fühlt. Die Rede vom "Leben am Limit" führt völlig in die Irre, weil sie suggeriert, ein Rennfahrer sei ständig an seinem persönlichen Limit, und wäre dann besonders gut, wenn er seine Angst überwindet. Wer sich überwinden muß verkrampft, und verreißt selbst Dinge, die er eigentlich beherrscht, Stichwort: Lampenfieber, Prüfungsangst.

Jetzt habe ich am Eingangsabsatz gut vorbeigeredet: wer bloß angeben will, sucht nicht einmal den erwähnten Kontrollverlust - von der Erfahrung der Rennerei ganz zu schweigen.



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Auf der Rennstrecke fährt man in eine Kurve, ohne auf den Tacho zu schauen: man konzentriert sich voll auf das Fahren, und trifft das richtige Tempo, ohne darüber nachzudenken.

Wenn ich mir Katharina Wagners Notat auch nur einen Moment ansehe, wird mir klar, daß hier etwas nicht stimmt, und zwar ohne Note für Note bewußt nachvollziehen zu müssen. Da reicht ein Blick.

Bei der Arbeit am Code für diese Site habe ich nach einigem Gestocher einen rekursiven Ansatz versucht - und wußte beim Tippen unvermittelt, daß ich gerade prinzipiell auf dem richtigen Weg bin.

Die Evidenz des Verlaufs der Rennstrecke führt zu körperlichen Handlungen - ich ziehe die Bremse, gebe einen Lenkimpuls, und falle in die Schräglage.

Der Anblick eines Notats führt dazu, daß ich die notierte Musik höre - und zwar nicht im übertragenen Sinn, das ist keine Metapher: das Erlebnis entspricht jenem, das ich habe, wenn die Passage auf dem Klavier gespielt wird.

Die Evidenzerfahrung am Computer löst vielleicht keine direkte (passive oder aktive) Reaktion des Körpers aus - darin ähnelt Computercode Sprache. Wenn ich etwas sage - etwa ein schlagendes Argument in die Diskussion werfe, oder jemanden anschreie - provoziere ich jedoch letztlich physische Veränderungen. Dann bewirke ich bei einem Menschen eine Reaktion mit seiner Stimme (oder der geballten Faust). - Ebenso steuert Code letztlich Hardware und bringt einen Drucker zum laufen oder einen Server dazu, die neuesten Nachrichten auf dem Bildschirm zu zeigen. Das wirkt letztlich wie der Gedanke, der dazu führt, daß das Motorrad in die Kurve klappt.



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Es gibt eine Evidenzerfahrung, die nahezu jeden verblüfft, der mit Musik eher peripher - als interessierter Zuhörer - zu tun hat, aber auch bei vielen ausgebildeten Musikern auf skeptisches Fragen stößt: das Phänomen des "Absoluten Gehörs". Da kann jemand aus dem Nichts heraus sagen, daß gerade ein A-Dur-Akkord erklingt - nicht nur, daß es sich um Dur, nicht Moll, handelt, sondern auch, ganz ohne Zweifel, um A- und nicht As- oder B-Dur. Tatsächlich werden angesichts dieser Fähigkeit selbst jene schwach, die sonst jedes Talent als erlernt und erworben betrachten, nicht jedoch als genetisch vererbt: hier sind sie i.d.R. ratlos, und vermuten dann doch eine angeborene Begabung.

Dies ist nicht der Fall. Absolutes Hören kann man trainieren - und durch mangelnde Pflege auch wieder verlieren.

Zunächst muß man sich klar machen, daß ein absolutes Gehör nicht etwa entweder vorhanden ist, oder überhaupt nicht existiert: es gibt eine ganze Reihe von Graden und Zwischenstufen. Wer ein Instrument selber spielen kann, hat eine gute Chance, zumindest für dieses Instrument exakt den gespielten Ton zu benennen. Auf einer Gitarre z.B. klingen die leeren Saiten anders als jene, auf die ein Finger drückt - und zwar für jemanden, der diesen Unterschied Tag um Tag für Jahre erlebt, völlig zweifellos erkennbar. Damit wird es dann einfach, z.B. einen E-Dur-Akkord, in dem die leere hohe E-Saite mitschwingt, von einem F-Dur zu unterscheiden, in dem jeder Ton von einem Finger gegriffen wird.

Ähnliches kann man bei Streichinstrumenten finden: leere Saiten stechen derart aus dem allgemeinen Klangbild heraus, daß ein "klassischer" Geiger lernt, sie zu vermeiden und möglichst durch denselben, gegriffenen Ton auf der nächst tieferen Saite zu ersetzen. Doch auch diese gegriffene Note klingt anders: sie bekommt, durch die wie immer gedämpft mitschwingende Leersaite, eine unüberhörbare Eigenresonanz. Gleiches gilt für alle Noten, die eine oder mehrere Oktaven über oder unter einer Leersaite stehen: durch Ober- bzw. Untertöne regen sie jene zum Schwingen an, und erzeugen eine ganz eigene, im Verlauf des Umgangs mit dem Instrument immer besser erkennenbare Farbe.

Auch bei den Holz- und - besonders deutlich - Blechblasinstrumenten gibt es solch herausgehobene Töne, und zwar überall dort, wo man es mit einem sog. "Naturton" zu tun hat: das sind all jene Töne, die zu der Obertonreihe des Grundtons eines Blasinstruments gehören. Ein sehr schönes Beispiel für das Funktionieren dieser Art des "absoluten" Hörens findet man dort, wo es versagt: es gibt gelegentlich eine (große) Abweichung von einer Quinte oder Quarte, wenn der Hörer sich in der Grundstimmung des Instruments vertut und etwa eine F-Posaune mit einer in B verwechselt. Dieser Fehler ist sehr typisch gerade für jene, die sonst auf den Halbton genau Auskunft geben können.

Selbst auf einem wohltemperiert gestimmten Klavier gibt es Farben, die sich mit einer bestimmten Tonart verbinden - es-moll klingt, selbst dort, völlig anders als e-moll. Ich kann das nicht näher begründen, vermute aber, daß es beim Stimmen des Instruments ein bestimmtes Vorgehen gibt, das dazu führt, daß letztlich doch keine exakt temperierte Stimmung erreicht wird.

Je mehr Musik man hört, desto selbstverständlicher werden all diese Nuancen - und wenn man damit länger pausiert, tut man sich hinterher genauso schwer wie ein Läufer, dem vernachlässigtes Training die Beine bleiern macht. Auch die jeweilige Tagesform, die für den Abruf aller antrainierten Fähigkeiten eine große Rolle spielt, kommt hier zu tragen: wenn man müde oder aufgeregt ist, kann es einem sowohl das Hören[1] wie auch den Lauf verhageln.

  1. [1] Ich kann mich an die Gehörübungen bei meiner Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule erinnern: gewohnt, alles absolut zu hören (und dadurch mit einem ziemlich mittelmäßigen relativen Gehör gestraft), hätte ich sie in der Aufregung fast verhauen.


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Vor kurzer Zeit hatte ich behauptet, daß es einen prinzipiellen Unterschied mache, ob man nach einem Erlebnis des eigenen Körpers sucht, oder sich in einen Rausch begibt, bei dem der Körper verschwinden soll. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob man es hier nicht letztlich mit zwei Enden ein und desselben Phänomens zu tun hat.

Ein wichtiger Aspekt beim Motorradfahren ist das Erlebnis des eigenen Körpers, der - vom Werkzeug der Maschine "verlängert" - den Fliehkräften ausgesetzt und dadurch in seiner Schwere und Beharrlichkeit spürbar wird.

Im Drogenrausch tritt der Körper hingegen aus dem Fokus der Aufmerksamkeit - er wird sogar zum Störfaktor, etwa wenn man zum Klo muß, obwohl man sich nicht rühren kann.

Beiden Zuständen ist aber gemeinsam, daß in ihnen die abwägende Funktion der Vernunft abhanden kommt. Es gibt kein "Ich" mehr, daß sich mit Kritik und Reflektion - womöglich über Fehler und Nachteile der eigenen Person - zu Wort meldet; es gibt nur noch triebgelenkte Impulse, ein Gefühl des Auflösens des Ichs und der Einheit mit der Welt.

Schopenhauer unterscheidet zwischen "Verstand" und "Vernunft". Jene Ebene, auf der Menschen sich intuitiv entscheiden, ist jene des Verstandes, über die auch die Tiere verfügen:

Wir finden oft die Verstandesäußerungen der Thiere. [Uns] überrascht [...] die Sagacität jenes Elephanten, der, nachdem er [...] schon über viele Brücken gegangen war, sich einst weigert, eine zu betreten, über welche er doch wie sonst den übrigen Zug von Menschen und Pferden gehn sieht, weil sie ihm für sein Gewicht zu leicht gebaut scheint [...].

(Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1.Band, 1.Buch, §6)

Der Begriff Bernt Spiegels von der "Tiefenperson" klingt moderner, benennt aber im Kern dasselbe: gemeint ist auch hier jene Ebene, auf der sich Gewißheit über eine Situation unvermittelt und unbewußt einstellt (sie ist, in Spiegels Terminologie, "nicht bewußtseinpflichtig").

Letztlich findet sich dann doch ein diametraler Gegensatz zwischen Rausch- und Körpererfahrung: zwar tritt jeweils die "Vernunft" zurück; wo der Haschischkonsument aber auch den Verstand und gewissermaßen den Bereich des Lebendigen zurückläßt, bleibt der Marathonläufer immer noch in einer Welt, der es um Entscheidungen zu tun ist, selbst wenn diese nicht mehr rational abgewogen, sondern intuitiv getroffen werden. Im Rausch verschwindet selbst die Zeit; im Körpererlebnis wird sie zurechtgebogen und intensiviert.



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Alle Beispiele, die ich bisher zu der Wechselwirkung von Körper und Geist gegeben hatte (Motorrad fahren, ein Instrument spielen, Computer programmieren) haben gemeinsam, daß sie jeweils auf Evidenzerfahrungen basieren, die nicht rational gesteuert werden, obwohl ihre Grundlagen zuvor (idR. bewußt) eingeübt werden mußten. Ähnliches läßt sich von einem Gebiet sagen, das eine Grundlage des menschlichen Daseins betrifft, der Sprache.

Wenn ich spreche, denke ich nicht über Syntax oder Semantik nach, geschweige denn über die Folgen aus Vokalen und Konsonanten, die die Silben bilden, aus denen sich wiederum einzelne Wörter zusammen setzen. Ich bewege mich dann vielmehr auf einer Ebene, die von den die Sprache konstituierenden Elementen denkbar weit entfernt ist: ich drücke aus, was ich denke. Sprache ist das Mittel, mit dem sich das menschliches Denken, damit auch das Bewußtsein vom eigenen Ich ausdrücken läßt – Kategorien also, die nach allgemeiner Übereinkunft zur Basis dessen zählen, was das Menschsein ausmacht.

Sprache und Denken sind zwei Seiten derselben Medaille. Dabei hat Sprache aber eine klar definierte Funktion, nämlich die Fähigkeit der Kommunikation mit Anderen. Menschen sind nur in einer Gruppe überlebensfähig. Einsiedler sind eine extreme Ausnahme. Die Sippe ist - mit großer Wahrscheinlichkeit - die Urform gesellschaftlicher Organisiertheit, die selbst heute noch eine – wie auch immer transformierte – Rolle spielt. Sprache ist damit ein Faktor, der ganz erheblich die Überlebenschancen der Gattung erhöht, nicht weniger als alle Formen des Gebrauchs von Werkzeug. Werkzeuggebrauch, planendes Handeln, Kommunikation durch Sprache – diese drei Fähigkeiten gelten als entscheidende Unterschiede, die die Menschheit von der Tierwelt absetzt. All diese Kategorien haben ihren gemeinsamen Nenner in der Fähigkeit des Denkens, im Umgang mit Abstraktionen.

Wenn man sich ansieht, wie der Spracherwerb von Kindern vonstatten geht, findet man eine starke Analogie zu all jenen Lernprozessen, die auf anderen Gebieten ablaufen. Ein Neugeborenes kann theoretisch alle Sprachen der Welt lernen – im Gebrabbel eines Babys finden sich sämliche Laute aller weltweit gesprochenen Sprachen. In einem komplexen, noch längst nicht verstandenen Prozeß werden nach und nach all jene Laute aussortiert, die von den Bezugspersonen nicht verwendet werden, und irgendwann kommen die ersten einsilbigen Worte, die einen für Andere faßbaren Sinn ergeben.

Es findet letztlich das statt, was bei jedem Prozeß geschieht, in dem eine Fähigkeit eingeübt wird - es gibt eine Wechselwirkung zwischen eigener Praxis und Rückkopplung durch den Gegenstand der Übung. Das Motorrad fährt in immer höherer Schräglage, die Läufe auf dem Instrument gelingen immer schneller, und aus den Reaktionen der Umwelt erfährt das Kleinkind, welche Silben und Wortkombinationen verstanden wurden und Sinn ergeben. Im ersten Fall ist das Resultat die Beherrschung der Maschine durch eine immer besser trainierte Feinmotorik, im letzteren eine ständig verbesserte Fähigkeit in der Mitteilung eigener Bedürfnisse und Wünsche durch ein immer besser funktionierendes Denken.

Wer begreifen will, was Denken ist, muß zu begreifen versuchen, was Träumen ist. Nirgends zeigt sich menschliches Denken in so primitiver Verfassung wie im Traum, selbst noch im 21.Jahrhundert.

(Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008)

Türcke verweist – ohne auf seine Argumente an dieser Stelle näher einzugehen - auf die physische Grundlage allen Denkens, und versucht, unter Rekurs auf Siegmund Freud, die Fundamente alles Geistigen zurückzuführen auf den Kampf der Menschen ums Überleben in einer feindlichen Natur. Meine Überlegungen gehen insofern in eine ähnliche Richtung, als ich die Trennung von Körper und Geist für ein Konzept halte, das viel zu kurz greift. Die sinnliche Erfahrung der Umwelt sowie Rückkopplungsprozesse zwischen dieser und dem Körper sind dafür verantwortlich, daß sich Sprache - und damit Denken - entwickeln kann.

[Ich muß mich zunächst vertagen.]



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