5.9.2009

Klang, Sound (8) - Thomas Mann, „Doktor Faustus”

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Thomas Mann spekuliert im „Doktor Faustus” über das Verhältnis von Klang und Struktur in der Musik, wobei er von der Beobachtung ausgeht, daß längst nicht jeder Aspekt einer Partitur hörbar zu machen sei. Vieles dort sei ausschließlich dem Auge nachvollziehbar, kontrapunktische Spielereien etwa, wo von zwei Stimmen eines Satzes die eine der Krebs der anderen ist, oder bestimmte Zahlenspiele in der Barockmusik. Musik erschöpfe sich keinesfalls in der Sinnlichkeit des Klangs, sondern habe eine weitere, visuelle Ebene.

Er geht einen Schritt weiter und vermutet, daß Musik die geistigste aller Künste sei, wobei ihr klanglicher Aspekt gelegentlich sogar ein unerwünschter, gleichwohl notwendiger Nebeneffekt ist. Sie habe eine „heimliche Neigung zur Askese”, und strebe auf einen Zustand, wo sie bar jeder sinnlichen Verwirklichung ist, „Musik schlechthin, Musik in reiner Abstraktheit”.

Thomas Mann erzählt in indirekter Rede von einem Vortrag des Lehrers von Adrian Leverkühn, Kretzschmar:

Vielleicht, so Kretzschmar, sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemüts, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben, einer Kundry, die nicht wolle, was sie tue, die weichen Arme der Lust um den Nacken des Toren schlinge[1].

Aus diesem Zusammenhang erklärt Thomas Mann seine Wertschätzung von reiner Klaviermusik, die seinem Ideal von vollständiger Abstraktion wohl am nähesten kommt. Das Klavier sei - weil ihm jede Möglichkeit der Modulation oder Lautstärkenveränderung eines einmal angeschlagenen Tones fehlt - am ehesten in der Lage, die „Musik gleichsam ohne sinnliches Medium”, in „geistiger Reinheit” zu transportieren. Thomas Mann erzählt eine kurze Begebenheit aus dem Leben des greisen Wagners, der, als er nach langer Zeit die Hammerklaviersonate Beethovens noch einmal gehört hatte, ausgerufen haben soll: „So etwas ist aber auch nur für Klavier zu denken! Vor der Menge zu spielen - barer Unsinn!”.

Nach allem, was ich bisher (im Klang-Baukasten) gesagt habe, dürfte klar sein, daß ich diese Position nicht teile. Musik besteht nicht bloß aus einer Verteilung von Note-On-Befehlen, die sich zu einer abstrakten Ordnung fügen. So sind beispielsweise Kontraste oder Übergänge von Lautstärken konstituierend nicht nur für die klangliche Wirkung, sondern ebenso für die formale Struktur. Auch der Klang eines Instrumentes ist nicht bloß ein abiträres Beiwerk, eine Farbe etwa, die beliebig ist und durch eine andere problemlos ersetzbar wäre. Gerade im Werk Wagners finden sich zahlreiche Stellen, wo Klangfarben strukturelle Bedeutung haben - von der zeitgenössischen Musik ganz zu schweigen, deren Struktur sich gelegentlich komplett durch den Klang konstituiert[2].

  1. [1] Den „Doktor Faustus” kann man vielleicht nur dann verstehen, wenn man sich mehr als nur ungefähr im Werk Richard Wagners auskennt: Kundry ist die mystische Frauengestalt, die, von Klingsor gezwungen, den „reinen Toren” - Parzifal - zu verführen und seiner Unschuld zu berauben sucht. - Hinter dem zitierten Satz verbirgt sich eine ganze Armada von unausgesprochenen Konnotationen, von denen man heute, 66 (Niederschrift des Doktor Faustus) bzw. 127 (Uraufführung des Parsifal) Jahre später, kaum noch eine Ahnung hat.
  2. [2] Auch Thomas Manns Einschätzung, daß reine Klaviermusik die Königsgattung in der abendländischen Kunstmusik sei, mag ich nicht recht teilen. Das Klaviersolo steht zwar auch auf meiner virtuellen Liste recht weit oben, wird aber deutlich geschlagen - nicht von der Sinfonie oder der Oper, sondern vom Streichquartett. Die Komponisten können hier, wie für das Klavier, nur wenig tun, um die Klangfarben zu variieren. Sie müssen aber mit genau vier Stimmen auskommen, und haben nicht die Möglichkeit, mal eben - wie auf dem Klavier - einen Akkord aus dem Nichts zu zaubern. Dabei steht ihnen immer noch ein großer Tonraum aus ca. fünf Oktaven zur Verfügung, sowie weitreichende Möglichkeiten zur dynamischen Gestaltung, welche weit ausgreifende Formverläufe erlauben - aber wie gesagt: mit nur vier Stimmen. Es gibt viele Komponisten, die große Musik für das Klavier geschrieben haben. Jene, denen gleiches für das Streichquartett gelang, kann man an zwei, drei Händen abzählen.

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