Rom, April 2004

Sonntag, 25.4.

Ich bin angekommen, an einem lang erwarteten Ort.

Der Flughafen Roms heißt Fiumicino und liegt einige Kilometer vor der Stadt. Dort findet man immer noch Hinweisschilder auf seinen alten, weit einsichtigeren Namen, "Leonardo da Vinci". Ich muß vierzig Minuten auf das Gepäck warten - und beginne mich zu fragen, was ich am dringlichsten nachkaufen müßte, wäre mein Koffer beim Wechsel der Flieger in München verloren gegangen. Der Weg zur Bahn Richtung Zentrum führt über eine lange Kette aus Laufbändern und Rolltreppen. Ich weiß nicht mehr, ob ich nicht doch noch in München bin. Auch dort gab es - wie zuvor in Hamburg - eine nicht abreißende Front aus Mauern, Fenstern und glasverhangenen Nischen aus Auskünften für die Touristen und Läden, in denen man zollfreie Ware kaufen konnte.

Immer dasselbe Laufband, eines am anderen. Immergleiche Orte, einem Fließband ähnlich.

Der Zug fährt durch eine Landschaft aus Neubausiedlungen und Pinien. Das Gras leuchtet, angeregt durch den Regen, in allen grünen Farben. Noch immer begreife ich nicht, daß ich über fast zweitausend Kilometer gesprungen bin; doch ich sehe achtstöckige Wohnhäuser, ganze Blocks aus immer gleicher Architektur; sehe auch Dächer, übersät mit Antennen: Hinweise, daß dies nicht Deutschland sein kann: kein unterkabeltes Land, sondern eines, das seine Häuser mit Artefakten übersät, die wie Finger sind, die in den Himmel greifen.

Nach langem Warten auf das Gepäck und einem endlosen Gang durch Roms Hauptbahnhof Termini zur Metro war ich fast sicher, daß unser Empfang in der gemieteten Wohnung längst weg ist, wenn ich endlich den Weg geschafft hätte. Das war nicht so: die Ankunftszeit am Flughafen, die man mir mitgeteilt hatte, war offenbar von jemanden in meine voraussichtliche Ankunftszeit in der Wohnung hochgerechnet worden, der ein wenig mehr als ich von den römischen Verhältnissen verstand... Alessandra nimmt sich einige Zeit, mich durch die Wohnung zu führen, läßt es sich weder nehmen, diese Führung durch ausführlich beantwortete Anrufe auf ihrem Handy zu unterbrechen, noch, mir mindestens ebenso ausführlich Tips zu Einkaufsmöglichkeiten und der besten Verkehrsverbindung zum Vatikan zu geben: ein fast hübsches Mädchen, schlank, mit einem Erbe aus breitem Becken, kurzen Beinen und dunklen dichten Haaren, das von Vorfahren weit vor der Antike stammen könnte.

Vor acht Jahren war ich mit Mam für zehn Tage in Florenz, und ich bilde mir ein, daß wir noch auf dem Rückflug darüber sprachen, diese Reise eines Tages zu wiederholen, nur das sie uns dann nach Rom führen würde. Und dort finden wir uns jetzt tatsächlich, selbstvermittlelt (ohne Reisebüro), in einer 130qm großen Altbauwohnung mit derart hohen Decken, daß streckenweise ein Zwischengeschoß eingezogen wurde, in dem momentan Handtücher trocknen und ungenutzte Matratzen lagern, wo doch dort die beiden Schlafzimmer durch ein drittes ergänzt werden könnten. Aber wir sind zu zweit, nicht die sechs Gäste, die in dieser Wohnung Platz hätten.

Mam hat Schlafzimmer und Bad, ebenso wie ich. Es gibt eigentlich zwei Wohnungen, getrennt von einem vielleicht 30qm großen Wohnzimmer, in dem kein Teppich liegt und nur wenige Möbel stehen. Die Stimmen hallen. Der Eingangsbereich hinter einer Tür mit vier Schlössern besteht aus zwei Zimmern: die Diele bietet mehr Platz als Flur und Küche zuhause in Hamburg zusammen, ist aber nur mit einem Kleiderständer und einer Ablage möbliert. Der anschließende Raum, der mit seinen vier Türen alle Bereiche miteinander verbindet, ist etwas größer als mein Wohnzimmer. In ihm steht neben einem Sofa lediglich der Schreibtisch, an dem ich gerade vor meinem Notebook sitze und schreibe.

Alle Räume wurden wohl erst kürzlich frisch geweißt. Trotzdem hat jeder von ihnen einen eigenen Geruch - abgestandene Gerüche, an die ich mich erst nach Stunden gewöhne. Ich laufe zwischen den Orten herum, muß Socken aus meinem Schlafzimmer holen oder eine Karte vom Schreibtisch, um sie auf dem großen Tisch der "Halle" auszubreiten.

Die Wohnung ist dunkel, düster. Es regnet, seit das Flugzeug aufsetzte. Als ich das Fenster aufmache, blicke ich in einen Hinterhof, rieche wieder einen neuen Duft, die Erinnerung an in Olivenöl gedünstetem Gemüse, das Aroma südlicher Pflanzen.

Es ist vollkommen still. Ich liege im Bett und nehme nichts wahr außer den Geräuschteppich in hoher Tonlage, den meine Ohren selber hervorbringen und aus dem ich in weiter Ferne den Herzschlag heraushöre. Um Mitternacht ist im Stockwerk darüber jemand dabei, sich bettfertig zu machen oder das Haus zu verlassen. Es sind keine fünf Gehminuten zum Hauptbahnhof.

Aus einem vergessenen Grund schlucke ich gemeinsam mit der Frau, die mich begleitet, zwei große weiße Pillen. Ich verliere das Bewußtsein, nach einer unbestimmten Zeit wache ich wieder auf, finde mich in einem weiß bezogenen Bett, bin umgeben von Pflegern. Ich stehe sofort auf, äußerst benommen, neben mir das unbekannt-bekannte Mädchen, das ebenso schwankt wie ich. Eine ältere Frau, durch nichts legitimiert als ihr eisernes Beharren - sie trägt nicht einmal den Kittel einer Ärztin -, will uns zwingen, zwei große rote Pillen zu schlucken, die unseren Rausch sofort beenden würden. So, wie wir im Moment unter Drogen stünden, insistiert sie, so würde sie uns keinesfalls gehen lassen. Sie droht, uns in die Psychiatrie einweisen, würden wir die Behandlung verweigern. Taumelnd laufen wir davon, sind plötzlich auf einem großen Gelände. Wir müssen uns zwischen zwei Zufahrten entscheiden, zögern entschlußlos. Man verfolgt uns, drohende Gefangenschaft, Verwicklungen. Ich wache auf, befinde mich wieder in jenem Traum, der mich in die Bewußtlosigkeit führte. Diesmal verweigere ich die weißen Pillen.

Mo, 26.4.

Am Morgen haben sich die Wolken verzogen, die den ersten Ausflug noch mit kräftigem Regen begleiteten. Der Himmel ist makellos blau, wodurch erst deutlich wird, wie dunkel die Wohnung ist. Meine Verwunderung verfliegt, daß dieses großzügig geschnittene Apartment in guter, wenn auch - wie für die Nähe zum Hauptbahnhof in jeder Großstadt typisch - ein wenig herunter gekommenen Lage nicht für einen hohen Quadratmeterpreis vermietet wird.

Mein Weg führt über Santa Maria Maggiore zu San Piedro in Vincoli, jener Kirche, in der das Grabmal für Julius II steht, entworfen von Michelangelo. Von ihm stammen jedoch nur drei ihrer Statuen: Rahel, Lea, und den berühmten Moses. Ein Band sperrt den Zugang drei Meter vor dem Werk. Aus dieser Distanz läßt sich kaum der Gesichtsausdruck entziffern, auch dann nicht, wenn man mit dem Einwurf einer Münze eine Beleuchtung für einige Minuten erkauft.

Ich verirre mich ein wenig und stehe ungeplant an einer Aussicht auf Colloseum und Konstantinbogen, vor dem Beginn des Forum Romanum. Verblüfft umkreise ich das zerklüftete, deutlich sichtbar in einer zweiten Baustufe mit roten Backstein statt weißen Steinquadern um ein viertes Stockwerk ergänzte Bauwerk, ein eine weite Umgebung beherrschendes Rund.

Am Nachmittag will ich eine Stadtrundfahrt, finde aber erst nach langem Hin und Her den Schalter, an man die gewünschten Karten kaufen kann. Ich schaffe es nicht, mich mit meinem Englisch der Verkäuferin verständlich zu machen: sie kann mit meinem deutschen Einschlag sowenig anfangen wie ich mit ihrer italienischen Farbe. Sie dreht schließlich am Lautsprecher der Gegensprechanlage. Damit wird ihre Stimme nicht nur lauter, sondern auch verzerrt und vollends unverständlich. Entnervt gebe ich auf.

Ich gehe ohne Plan, treffe Santa Maria degli Angeli, eine Kirche, die in meinem Reiseführer gar nicht erwähnt wird [1]. Quer durch das Hauptschiff verläuft eine weiße Linie, eine vielleicht fünfzig Zentimeter breite Einlage aus Marmor. Auf ihr finden sich regelmäßige Markierungen, die kommentiert werden von einer absteigenden Folge von Zahlen (64 bis 0), sowie den Anwendungen einer Formel, in der die Angabe eines Grades, einer Minute und einer Sekunde zusammenfaßt sind. Neben ihr sind in unregelmäßigen Abständen Mosaike in den Boden gesetzt, Darstellungen der Sternkreiszeichen. Das rechte Ende schließt ein Ineinander von Kreisen ab, auf die Sterne gemalt sind, ähnlich wie bei einer primitiven Illustration der Planetenbahnen. Auf einer Linie schließlich, die dieses Sonnensystem durchkreuzt, sind Jahreszahlen in römischen Ziffern verzeichnet, die aus dem 17.Jh [2] in die späte Zukunft verweisen. Ich frage an einem Stand am Kircheneingang nach Informationen. Ein junger Mann war gern bereit, den Meridian zu erklären. Wenn ich das richtig verstanden habe, leistet er einen Ersatz zum Militärdienst, indem er Touristen die Geschichte dieses Bauwerks erklärt, nur noch acht Tage habe er vor sich.

In einem ordentlichen Englisch erzählt er von der Geschichte der Zeit, von der gregorianischen Wende als ihrem vielleicht wichtigsten Ereignis, und ihrer Spiegelung in diesem Kolossalbau, deren Mauern mächtig genug waren, um sich in den Jahrhunderten nicht zu bewegen. Noch heute fällt das Sonnenlicht präzise zur Mittagszeit über eine winzige Öffnung in der Decke auf die in Marmor ausgeführte Linie des Merdians im Boden der Kirche. Eine solche naturwissenschaftliche Versuchsanordnung hätte ich allenfalls den arabischen Ländern jener Zeit zugetraut, nicht jedoch dem päpstlichen Rom, das sich über die Jahrhunderte hinweg immer auflehnte gegen jeden Versuch, die Kategorien "Glauben", "Herrschaft" und "Wissen" voneinander zu trennen [3].

Der Bau dieser Kirche hat eine lange Geschichte, die bis in die römische Antike zurück reicht. Ursprünglich als Therme erbaut, konstruierte Michelangelo das damalige Seitenschiff aus ihren drei Bädern. Später erst drehte man die Ausrichtung des Altars und versetzte ihn - wie auch den Eingang - um neunzig Grad.

Regen setzt ein. Ich fliehe, komme gerade rechtzeitig vor einem Guß in der Wohnung an.

Nur wenig später verschwinden die Wolken und ich kaufe Wurst, Brot, Toilettenpapier. Man findet überraschend häufig dieselben Produkte wie in Deutschland, und die Werbung gleicht sich nicht nur in ihrer Ästhetik, sondern manchmal in identischen Fotos und wörtlich übersetzten Texten - wo, im deutschen Fernsehen, die wortgetreue Synchronisation zur Folge hat, daß der amerikanische Schauspieler hilflos falsch die Lippen bewegt.

In forciertem Tempo gehe ich die letzte Runde des Tages. Eine Gitarre ohne Korpus und ein Internetcafe finden sich auf dem Weg, der Verkäufer des Musikgeschäfts versteht immerhin "Feedback" und "Pickup", die asiatische Chefin des Cafés jedoch gar kein Englisch. Einer ihrer Kunden erklärt mir gut gelaunt, daß auch ihr Italienisch sich sehr nach China anhöre. Morgen will ich noch einmal dort vorbei gehen und das Notebook mitnehmen. Wenn ich es ihr zeige, wird sie sicherlich verstehen, daß ich ins Netz will, nicht aber mit einem ihrer Computer.

Di, 27.4.

Es ist 19:20 Uhr. Eigentlich bin ich zu müde, den heutigen Spaziergang ein zweites Mal zu unternehmen (sprich: zu müde, um mich schreibend hier - in diesem Tagebuch - zu erinnern).

Gegen halb zehn ging ich zur U-Bahn. Es herrscht ein Gedränge, wie ich das nur von Bildern aus Tokio kenne. Als der Zug am Hauptbahnhof hält, wird es noch schlimmer. Bei den spanischen Treppen [4] steigen die Meisten aus: Touristenhauptverkehr. Wahrscheinlich haben die Römer, die um sieben zur Arbeit fahren, paradisische Verhältnis im Vergleich zu mir.

Die spanischen Treppen sind in einer Weise mit Blumen geschmückt, die ihre Struktur zerstört. In ihrer Mitte hat man eine Ansammlung von Kübeln mit roten Azaleen abgestellt, die den Eindruck geben, die steinernen Stufen seien von einem Gartenbeet durchbrochen. Am Ende stellt man auf einer Tiefe von zehn Metern ein aufsteigendes Gerüst, das mit Blumen überwuchert den Abschluß der Treppe in einem Plateau versteckt und vorgaukelt, die Treppen stiegen weiter. Damit verstellt man auch die Tafeln, auf die sonst die Blicke ausgerichtet sind. Wie um das Maß voll zu machen, ist die Kirche, die hoch auf einem Hügel thronend die Treppen abschließt, von einem Gerüst überzogen, gleich einem Gesicht mit einem üblen Ausschlag.

Ich steige hinauf zu ihr, SS. Trinita die Monti, laufe durch die Altstadt mit ihren von einer Invasion aus Autos, Lieferwagen, Mopeds heimgesuchten Fußgängerzonen. Trevibrunnen, Pantheon, *Piazza Navona schließlich ein Stück am Tiber entlang, noch einmal quer durch die Stadt, am Piazza Venetia gebe ich auf und nehme den Bus.

Die Sonne sorgt ab Mittag dafür, daß die Straßen zu kochen beginnen: eine Vorahnung, wie unerträglich es in dieser Stadt in zwei Monaten sein wird. Trotzdem muß man im Schatten eine Jacke tragen.

Im Moment ist die Stadt noch fast ganz ohne Kontur, es kommt nicht umsonst, daß ich über das Wetter rede. Letztlich hat mich die Kraft der Sonne stärker betroffen als alles andere. Sie hat mich müde gemacht, während alles Gesehene in einem Kaleidoskop verwirbelt. Keine klaren Farben, keine ordnenden Gedanken. Die Stadt hat mir heute in einem gewissen Sinn meine Grenzen gezeigt.

Rom ist eine Stadt der überbordenden Attribute. Man kann sie aufregend nennen, häßlich, grau, leuchtend im Licht der südlichen Sonne, schmutzig. Oder, was sich fast am meisten aufdrängt: stinkend und laut, verseucht von den Abgasen des Verkehrs, die die Lungen belasten, ähnlich der verqualmte Kneipe mit ihren zumindest passiv rauchenden Gästen. Was auch immer man versucht, um sie zu beschreiben: sie widerlegt jeden, der sich auf eine Charakterisierung festlegen will, in dem sie - gleich einem Falschspieler - einen Stadtteil oder einen Platz, einen Aussichtspunkt oder ein Bauwerk aus dem Ärmel zieht, und damit das Gegenteil des Behaupteten beweist. Sie sei aufregend? Sieh dir den Hauptbahnhof an; häßlich? Trevibrunnen; grau? Villa Borghese; und so fort, man trifft nie den Nagel auf den Kopf.

Hinzu kommt, daß solche Gegensätze nicht nur neben-, sondern auch übereinander bestehen. Rom ist ein Palimpsest, von dem man Schichten abschaben kann, so viele man will - und das geschieht auch in der Realität, überall gibt es archäologische Ausgrabungen -, ohne auf den Grund, den Ursprung, die eigentliche Bedeutung zu stoßen. Wo auch immer man hinblickt: man hat das unbedingte Gefühl, man müsse nur ein wenig graben, um auf die Fundamente einer frühchristlichen Kirche, die Grundmauern einer antiken Therme, oder eine vom Lauf der Jahrtausende verschlungene Grabstätte zu stoßen.

Ich sitze im Schatten einer Palme in der Piazza Vittorio, von drei Seiten kommt der Verkehrslärm und übertöst alles Reden der Menschen, läßt nur ihre Gesten übrig. Zwei Männer, geschätzt Mitte Vierzig und Römer, bewegen sich synchron zueinander in einer Pantomime, die ich nicht entziffern kann. Ein vorübergehender Asiate bleibt stehen, sieht den Übungen mit grinsend offenem Mund einen Moment zu, bevor er die Hände in die Hosentaschen schiebt, sich wieder in Bewegung setzt, hinter einer Mauer verschwindet.

Die Steine werden mir zu hart, ich schlendere in Richtung Maria Maggiore. Auf dem Gehweg drängeln sich die Fußgänger zwischen Ständen, an denen Kleidung und Schmuck, Touristenramsch und Taschen, immer wieder Unmengen von allen Arten von Taschen angeboten werden. Dreimal sprechen mich Männer an und wollen mir eingeschaltete Handys verkaufen. Ich traue mich nicht zu fragen, wo sie die geklaut haben. Der Duft aus einer Bäckerei wird abgelöst vom beißenden Geruch getrockneten Urins. Später trete ich fast in Menschenscheiße, als ich durch einen Zaun auf einen von Pinien umsäumten Park schaue, im Horizont begrenzt von einem zweistöckigen, frisch geweißten Stadtpalast. Langsam verstehe ich, daß ich Blickkontakt mit den Fahrern der Autos und Motorräder haben muß, wenn ich ohne Panik die Straßenseite wechseln will. Manchmal guckt einer betont beiseite und ich weiß, er gibt Gas. Im Eurospar kaufe ich eine Flasche Rotwein aus der Toskana und zwei Flaschen Tuborg, keine halben, sondern zweidrittel Liter.

Ein Geräusch, ein Klackern - immer wieder, in unregelmäßigen Abständen: ich bin irritiert, drehe mich um, gucke hoch und runter und will verstehen, woher das kommt. In der "Halle" läuft ein Kobold unter der Decke entlang, hetzt hin und her, springt von einem Ende ans andere, verharrt irgendwo und schlägt wieder und wieder auf eine besondere Trommel mit hart gespanntem, nur kurz nachklingendem Fell. - Die Leuchtstoffröhren, die über die gesamte Länge des Raumes frei gespannt sind, in einer seltsamen Konstruktion ohne Kontakt zur Decke, standen mehr als drei Stunden unter Strom, produzierten Licht und Wärme. Jetzt werden sie langsam kälter, ihre äußere Hülle zieht sich unter lautem Protest zusammen.

Ich trinke vom letzten Pflaumenwein, den wir am ersten Abend beim Chinesen zwei Schritte rechts von unserem Tor gekauft hatten. "Al Presto" ist keine Bezeichnung für ein Tempo, sondern italienisch für: "bis bald". Schnell: ins Bett. Al Presto.

Mi, 28.4.

In jedem Gebäude Roms sind Steine verbaut, die bereits seit zweieinhalb tausend Jahren immer wieder neue Verwendung finden, fast überall muß man nur ein wenig Erde beseite fegen und findet Artefakte der Geschichte, unter diesen gleich wieder eine nächste Schicht (aber das hatten wir schon).

Eine der korinthischen Säulen der Maxentiusbasilika [5] steht heute vor Santa Maria Maggiore, auf ihrer Spitze eine Marienfigur. Die bronzenen Tore der Kurie [6], dem Versammlungsort des römischen Senats der Antike, wurden im 17.Jh zum Hauptportal der Basilika San Giovanni. Die Kurie selber blieb gut erhalten, weil sie im 7.Jh zur Kirche S.Adriano umgewidmet wurde. Santa Maria Antiqua, Roms älteste Kirche, ist ein umgewandeltes kaiserliches Gebäude. Papst Bonifatius IV ließ 608 eine Säule für den byzantischen Kaiser Phokas errichten und schloß damit die Bautätigkeiten der Antike im Forum Romanum ab, die bereits 498 v.Chr. mit der Errichtung des Saturntempels [7] begonnen hatten - er bedankte sich, daß man ihm das Pantheon abgetreten hatte und ihm damit erlaubt war, es in eine Kirche zu verwandeln.

Dies nun sind einige offensichtliche Verzahnungen zwischen dem antiken Rom mit Mittelalter, Renaissance und Neuzeit. Im Forum Romanum bekommt man davon einen nachhaltigen Eindruck. Es sind zwei scheinbar unverbundene Dinge, die man erlebt, und die im Nachhinein diesen Kontext konstituieren: zum einen wird man überwältigt von der Größe der antiken Stadt. Zum anderen wird aber - gerade in Verbindung mit dieser Wucht der schieren Dimensionen - deutlich, was alles verloren ging, bevor die Renaissance das Unternehmen Neuzeit auf den Weg brachte.

Zum einen: Ich stelle mir vor, was ein Besucher empfunden haben mag, wenn er zum ersten Mal im "Nabel der Welt" eintraf, eine Beschreibung Roms durch die feindlichen Legionäre im Ärmel, die er bisher als Anmaßungen zurückweisen konnte. Weil er aber nirgends auf der Welt auch nur eine Ahnung davon bekommen konnte, was ihn hier erwartet, muß es ihn wie ein Blitz getroffen haben. Das römische Volk wird öfters bei solchem Schauspiel zugegen gewesen sein: der geschlagene Barbarenhäuptling, der in Ketten die Via Sancta heraufgeführt wurde und seine Niederlage ins Bodenlose steigerte, als ihm beim Schauen der Kulisse das Maul offen stand. Der Stolz, zur Elite der Menschheit zu gehören, wurde in solcher Inszenierung geboren. Wer sich derart allen anderen Sterblichen überlegen fühlte, konnte seinem Kaisern den Anspruch nicht verwehren, ein Gott zu sein. Nietsches Zaratustra ging hier unter leibhaftigen Menschen, der Übermensch hatte ein Zuhause, er lebte in der Gestalt eines jeden freien Bürgers Roms zu jener Zeit.

Zum anderen: "Fortschritt der Geschichte" wird ein unglaubwürdiges Konstrukt, denn es leugnet den Glanz, in dem die frühen Hochkulturen erstrahlten. Diesen Glanz kann man im Forum Romanum, in den Ausgrabungen des Zentrums der Welt für tausend Jahre, - ganz entfernt, mit viel Phantasie und nur mit gutem Willen - zumindest erahnen. "Fortschritt" meint, wenn wir davon reden, "Fortschritt der Technik". Darum ging - und geht - es nicht. Das Vermögen zu fliegen oder mit einem Menschen in Singapur in Echtzeit zu sprechen spielt letztlich keine Rolle. Es ging - geht! - um Größe, Würde, Gottesnähe. Aus meinem Bild des Barbaren, der auf eine grenzenlos überlegene Kultur trifft, könnte man herauslesen, ich verträte die Meinung, die Distanz zwischen den kulturellen Leistungen sorge für den Kniefall auf der einen und Überhebung auf der anderen Seite. Tatsächlich ist das wohl zum Teil der Fall. Es ist aber eben nur ein - eher belangloser - Teil der Erklärung. Denn wenn eine Kultur einzigartig ist, läßt sich etwas wie Distanz überhaupt nicht mehr ermessen oder erfahren. Der Versuch, das Verhalten des Barbaren psychologisch zu erklären, läuft ins Leere, denn er versucht, individuelle Maßstäbe anzuwenden auf etwas, das selbst im gattungsspezifischen Rahmen ohne Maßstab ist.

Am frühen Abend gehe ich wieder durch die Straßen der Umgebung, die Hände in den Taschen der Hose. In der Wohnung ist es kalt, solange draußen die Sonne scheint. Auf dem Platz vor Maggiore setzte ich mich auf die Stufen vor der Maxentiussäule, schreibe von ihr ab:

Pauls*V*Pont*Max
Columnam
Veteris*magnifi*centiae
Monumentum
Informi*situ*obductam
Neglectam

usf. Die Inschrift schließt mit:

Anno*sal*MDCXIIII*Pontif*IX*

ich habe die Jahreszahl gesucht, hier steht sie: 1614.

Mein Fotoapparat liegt vor einem Mosaik aus buntem Glas, dem Fenster der Diele unserer Wohnung (ich hätte sonst die Säule fotografieren können). Beim Blick in den Himmel steht neben der Mariengestalt bei vollem Tageslicht die zunehmende Sichel des Mondes.

Mam hat ein Glas umgestoßen, Wein, der sich ausgerechnet über einen der (angeblich) kostbaren Stühle ergoß. Das wäre nicht passiert ohne meine Idee, diesen Stuhl als Beistelltisch zu mißbrauchen und neben das Sofa zu stellen, und auf seine Lehne den Wein. Dies wäre kein Wort wert, wären da nicht der Ärger, die Ängste und Vorhalte ("So eine überflüssige Geschichte" - "Was wird unsere Vermieterin sagen" - "Ich hätte ja..."). Eine Unachtsamkeit fährt hinein in ausgerechnet diese Tage und zeigt, wie unbedeutend eigentlich jeder Tag ist, bedrückt mit diesem ganzen Unfug aus Alltag, alltäglicher Ängstlichkeit.

Der Wecker klingelt. Acht Uhr. Noch benommen schalte ich ihn aus, verstelle den Alarm auf zwanzig Minuten später. Im Einwickeln in die Decke falle ich aus dem Bett, kann mich zu keiner Anstrengung aufraffen, schlafe weiter auf dem Boden.

Ich wache auf, schalte die Beleuchtung des Weckers ein, zehn nach sieben, noch fünfzig Minuten, bis er losgeht.

Do, 29.4.

Die Metro ist gut besetzt, aber man kommt ohne Körperkontakt aus.

Der Platz vor der Peterskirche ist durch die zahlreichen Übertragungen im Fernsehen eigenartig vertraut. Ausnahmsweise gibt es keine Verblüffung über die Unangemessenheit von Bildern angesichts der tatsächlichen Verhältnisse. Die Menschenmassen, die jeder Bericht über Weihnachts- oder Osteransprache des Papstes in den Blick rückt, stellen die Größenverhältnisse auch auf einem Foto klar.

Die Peterskirche [8] selber hingegen wirkt einerseits kleiner als erwartet, weil man die Riesenfläche stets übersehen kann und dabei fast vergißt, daß man sich in einem Raum und nicht auf einem von Häuserwänden begrenztem Platz befindet. Andererseits, als ich in die Höhe schaue - das Hauptschiff ist immerhin fast fünfzig, die von Michelangelo entworfene Kuppel in der Mitte über dem Grab des Petrus 137 Meter hoch! -, kommt der Gleichgewichtssinn durcheinander und mir wird schwindlig. Das ist kein Wortspiel: ich bin am Schwanken, denn ich habe den Kontakt zum Boden verloren.

Eine Nonne kniet vor dem Beichtstuhl, für alle gut sichtbar, hält Blickkontakt mit dem Priester, der ihr etwas erwidert, sie vielleicht ermahnt. Elektrische Wagen fahren durch das Hauptschiff und transportierten Paletten mit grauen Plastikstühlen. Im linken Seitenschiff findet eine Messe statt. Auf den Bänken sitzen neben den Gläubigen einige Touristen, die sich auch dann nicht vom Ausruhen abbringen lassen, als alles aufsteht zum Gebet.

Michelangelos Pietà ist beschützt hinter Panzerglas. Näher als fünf Meter kommt man nicht heran. Trotzdem wirkt sie, bewirkt, verändert etwas im Betrachter. Mir wurde das erst im Nachhinein bewußt, als ich in der "Schatzkammer" von San Pietro eine Kopie des Werkes aus unmittelbarer Nähe sah: eine wahrscheinlich sehr gute Kopie, die dennoch kalt wirkte, wie eine Demonstration, ein Lehrstück, ein Kommentar. Es gibt unzweifelhaft Werke, die jenen Glanz in sich hineingenommen haben, der aus der jahrhundertelangen Bewunderung entstammt, die man über sie ergoß. Diese Aura kann man ohne weiteres erfahren. Zumindest das Original entfaltet seinen Glanz, und zwar selbst dort, wo man es versteckt, wo man - wie bei der Pieta - die Details nicht mehr sehen, geschweige denn berühren kann.

Von dieser Ausnahme abgesehen kam mir der Innenraum der Kirche vor wie die Wettkampfarena toter Päpste: sie alle liegen unten in der Krypta begraben, und wer es zu besonderem Ruhm gebracht hatte, durfte sich oben in einer Figurengruppe zwischen zwei Säulen oder sogar mit eigener Kapelle in einer eigens erbauten Apsis monumental verewigen. Petrus und die Märtyrerpäpste dienen der Legitimation für die in Stein gemeißelten hochfahrenden Gesten von Herrschern mit dem Anspruch auf die ganze Welt.

Die Engelsburg zeigt, wie sich die Päpste der frühen Neuzeit ihre Mission vorstellten: eine starke Mauer mit vier Bastionen an den Ecken, ausgestattet mit Kanonen, steinernen Kugeln, Schießscharten. Die Burg dahinter diente nicht bloß dem Überleben. Dafür ist sie zu groß, mit allzu verschwenderischen Räumen ausgestattet, die eher an Ratssäle erinnern als an die Unterkünfte einer Ritterburg. Aus ihnen wurde ein Museum, in dem auch die goldenen Becher zu sehen sind, aus denen man im Falle einer Belagerung trank.

Mein Panino war zu lange im Ofen, angebrannt. Die Bedienung im Bistro verpackt sie versteckt durch ihren Körper. Der Eisverkäufer scherzt zwischendurch mit Freunden, als wir auf die Sorten zeigten und korrigiert fast beleidigt unsere Versuche, ihre Namen zu sprechen. Ich gehöre zu den Touristen, und die kommen immer nur einmal.

Mein Gang führt über die Engelsbrücke, auf der gerade ein Hochzeitspaar die offiziellen Fotos machen läßt. In der Altstadt gibt es eine Straße, antike Möbel und verwandte Ware, dreißig oder mehr Geschäfte, versammelt Tür an Tür. In der Ferne taucht die spanische Treppe auf, von Blumen und Menschen schier überladen, sie würde sinken, wenn sie ein Schiff wäre. Die Via del Corso ist eine exklusive Einkaufsstraße, aber auch hier, wie überall in Rom, gibt es viele kleine Einzelhändler, die großen Kaufhäuser haben sich nicht durchgesetzt. Die Werbung ist ähnlich oder sogar identisch mit der in Deutschland, das Marketing setzt auf Identifizierung, Marken, Okkupation von Lebenswelten. Trotzdem scheint sich eine römisch-italienische Eigenart dagegen zu wehren, alle Ware unter einem Dach zu versammeln. Mehrfach bin ich auf Werbung für das La Fayette in Paris gestoßen, und zwar mit denselben Plakaten, die ich bereits vor zwei Jahren in Paris sah. Im Zentrum Roms wird man dazu aufgefordert, sich ebenso lächerlich zu machen, wie jene Besucher der Passage in Paris - Warenwelten, die man mit dem Zentrum der Welt verwechslen würde, ginge es nach dem Willen der Erfinder.

Via del Corso, die Menschen bummeln die Läden entlang. Eine Gruppe lachender Männer in der Aufmachung antiker Legionäre kommt entgegen, treibt einen halbnackten Mann vor sich her. Eiserne Ringe umschlingen seinen Hals, seine Hand- und Fußgelenke, sie sind durch schwere Ketten verbunden, hindern sein Gehen. Man schaut in die Fenster der Läden, ignorieren die verschmutzte Gestalt mit verfilztem Bart und langen Haaren, die gestoßen wird, schließlich torkelt. Hält trotzdem eine umgedrehte Baseballkappe bettelnd nach rechts und links, ein paar Euros liegen schon in ihr, sie fleht und bittet, Furchen aus Tränen im Gesicht. Stolpert. Die Kappe fällt mit ihr zu Boden, aus ihrer Hand, die Münzen fliegen klingend davon. Einer der Legionäre tritt ihr fröhlich fluchend in die Seite. Eine Greisin in der Kleidung einer Nonne bückt sich, sammelt die Münzen von der Straße, gibt wie heimlich eine hinzu und drückt dem Gefangenen Kappe und Geld wieder in die Hände, duckt sich weg unter den Händen seiner Bewacher. Am Straßenrand hantiert einer mit dem Fotoapparat, stellt sein Teleobjektiv scharf auf die Szene.

Fr, 30.4.

Ich steige auf das Kapitol, einen der klassischen Hügel Roms. Die Reiterstatue Marc Aurels erscheint auf der Spitze der Treppenanlage des Platzes. Das Kapitolinische Museum [9] habe ich dazwischen geschoben, weil der Himmel auch nach dem nächtlichen Regen noch dunkel aussah. In den staatlichen Anlagen gibt es Freitickets für alle unter achtzehn und über fünfundsechzig. Beim Gang durch die Säle merke ich, daß ich längst nicht mehr zwischen all diesen verschiedenen Marmorstatuen und -köpfen unterscheiden kann. Es gibt wenige Sachen, die herausfallen, Aufmerksamkeit fordern. Hier sind es vor allem die von Bildern lange bekannten Sachen: die Bronzefigur der Romulus und Remus säugenden, "kapitolinischen" Wölfin aus dem 5. Jh. v.Chr.; aber auch Büsten von Sokrates, Cicero und Nero, deren Fotografien immer wieder in Geschichtsbüchern auftauchen. Ich kenne mich mit der Kunst der römischen Antike nicht aus, und es geht mir wie jedem, der ohne Hintergrund Kunstdinge an sich vorüberziehen läßt: es gibt ein helles Rauschen und hinterläßt keine Eindrücke außer denen, die man längst hatte.

Später laufe ich einen langen Weg, zunächst zu den Thermen des Caracalla, einer Badeanlage aus der Antike. Die Zeit hat nur gewaltige Mauerreste aus rotem Klinker übrig gelassen, die man sich heute schwer als Teil eines zusammenhängenden Bauwerks vorstellen kann. In den ehemaligen Umkleideräumen gibt es noch etwas von dem Belag, der die Fußböden bedeckte, kleine schwarze und weiße Steine, angeordnet zu abstrakten Mustern und schematischen Ornamenten, man darf sogar darauf herumlaufen. Zusammen mit dem Lageplan von Schwimmbecken, Turn- und Aufenthaltsräumen bekomme ich einen gewissen Sinn, stelle mir badende Menschen vor, nasse Haare und Spaß an der Bewegung, nicht viel anders als heute.

Die Lateransbasilika [10] - wieder steht ein Obelisk mit aufgesetztem Kreuz auf dem Vorplatz - ist die ranghöchste der vier Patriarchalsbasiliken Roms. Bereits unter Konstantin entstand hier eine große Kirche. An den Säulen ihres Hauptschiffs stehen riesige, sieben Meter hohe Figuren der zwölf Apostel. In einigen Ecken hebt dann erneut der eine oder andere Papst mit immer derselben segnenden Geste die rechte Hand. Das wirkt wie die Drohung, sie zur Ohrfeige weiter zu heben.

Ein Elekrobus fährt quer durch die Innenstadt zum Piazza del Popolo, nimmt enge, für den allgemeinen Verkehr gesperrt Straßen, ruckelt sich hoch zu jenem Platz, der einst den ersten Eindruck von der Stadt bot, nachdem man die Stadtmauern durch die Porta del Popolo durchschritten hatte. Goethe trat hier, von der Via Flamina kommend, in Rom ein [11]. Hier startet die Via del Corso [12] und durchschneidet die zentrale Nord-Südachse bis zum Palazzo Venetia. Rechts und links von ihr beginnen zwei Straßen, symmetrisch im stumpfen Winkel. Die eine streift den Tiber und löst sich bei der Piazza Navona in ein Gewusel aus kleinen Gassen auf. Die andere geht an den spanischen Treppen entlang und erreicht das Quirinale, die Sommerresidenz der Päpste der Renaissance. Zwischen diesen Achsen liegt die Altstadt. Mitten auf dem Platz steht wieder ein Obelisk auf einer von vier wasserspeienden Löwen umgebenen Plattform. Fünf Stufen führen dort hinauf, ein Sitzplatz mit einer Ahnung, einem Hauch von der ganzen Stadt.

Ich gehe ebenso wie gestern durch die Einkaufsstraßen auf dem Corso und seinen Seitenstraßen, blicke in die Läden. Meine Pizza kaufe ich bei einem sachlich-höflichen Bäcker, der mich mit einer Wortstafette aus "Prego" und "Gracie" bedenkt. Zweimal warte ich auf einen Bus, der nicht kommt. Vielleicht bin ich nicht geduldig genug. Es stippert vom Himmel.

Wir verlassen die Bar nach einem Pint irischen Bier für Mam, zwei für mich, Mam sagt: "Nach all dem Bier werde ich sehr gut schlafen. Du bist doch sicher auch schön müde?" Ich: "Mit Alkohol werde ich gewöhnlich erst richtig geschwätzig." Pause. Mam: "Ich finde nicht, daß Du gerade sehr viel sagst." Ich: "Das liegt daran, daß ich so müde bin."

Sa, 1.5.

Der erste Mai ist ein wichtiger Feiertag in Italien, an zentralen Punkten der Stadt sind Bühnen aufgebaut, es gibt Sternmärsche, Demonstrationen. Die meisten Bars und alle Läden haben geschlossen, das gibt es sonst nicht einmal Sonntags. Ich versuche, in die Gärten hinter dem Quirinalspalast zu kommen, aber dort werden die Zugänge abgeschirmt - kein Wunder: ich lese gerade, dies sei der Amtssitz des italienischen Staatspräsidenten. Zudem werden heute zehn neue Staaten offiziell in die EU aufgenommen. Vielleicht gibt es im Palast eine Feier. Autos fahren wichtigtuerisch im Fußgängerbereich umher. An den Toren steht Militär mit Maschinenpistolen in weiß behandschuhten Händen.

Ich laufe eine längere Strecke aus der Stadtmitte heraus, passiere den Bahnhof im Norden Richtung Universitätsviertel. Auf einer auf der Karte ausgewiesenen Grünfläche will ich Pause machen, sie erweist sich aber als abgeschirmter Sitz der englischen Botschaft. Es scheint, dies ist wie mit den Stränden: dies ist meistens Privatbesitz, die Öffentlichkeit ist überhaupt nicht oder nur gegen Eintritt zugelassen. Ich treffe auf die Kirche der heiligen Agnes [13], gestiftet im 4. Jh., in der heutigen Form von Papst Honorius (625 - 638) erbaut. Ihre Türen sind geschlossen, nur das Mausoleum läßt sich zufällig betreten, weil dort gerade eine Hochzeit stattgefunden hat. Man kann hier sehen, was passiert, wenn ein historischer Ort nicht gepflegt wird und herunterkommt, weil er nicht im öffentlichen - touristischen - Blickpunkt steht: die Mosaiken sind stark verblaßt, zum Teil bereits völlig unkenntlich und unwiederbringlich verloren. Seltsam: die Ornamente an der Decke wirkten wie neu: als hätte man mit der Restauration begonnen, aber nicht zuende geführt.

Als nach zwanzig Minuten noch immer kein Bus kommt (ich hatte bis kurz zuvor welche in beide Richtungen fahren sehen), muß ich zu Fuß zurück, denselben Weg wie auf dem Hinweg, weil ich längst über den rechten Rand meiner Karte hinaus gelaufen bin und keine Lust habe, mich zu verirren. Auf der anderen Straßenseite der Via Nomentana finde ich einen ausnahmsweise frei zugänglichen Garten. Viele Besucher nutzen das wunderbar chaotisch bewachsene Grundstück mit seiner verfallenden Villa und ebenso heruntergekommenem Theater: die Bauten der Villa Torlonia wurden erst zur Jahrhundertwende im neoklassizistischen Stil errichtet und dienten später Mussolini als Privatresidenz. Die Anlage hat einen sehr eigenen Charme. Die Villa will mit ihren dorischen Säulen und dem eleganten Schwung ihres Grundrisses den Eindruck schlichter Größe erwecken, scheitert jedoch schon im ersten Geschoß, wo Säulen aus Platzmangel als Relief, wie aufgemalt, ausgeführt sind. Die sich im Park sonnenden Menschen schauen ratlos, als ich hier fotografiere.

Die Notizen der letzten beiden Tage kommen mir zunehmend farblos vor, sie klingen uninteressierter als zu Beginn. Die Aufgeregtheit der ersten Tage ist verflogen. Die Farben der Hauswände, das unentwegte Gewoge des Straßenverkehrs, die allgegenwärtige Überwältigungskunst: all dies hat einen grauen Mantel aus Gewohnheit übergeworfen und ist - jetzt schon - alltäglich. Es wird selbstverständlich, zum Lesen einen Platz zwischen den Treppenstufen von Maria Maggiores Obelisk und einer kleinen Grünanlage zu wählen, von der aus man das Colosseum sehen kann. Auch die stundenlangen Spaziergängen und Abende ohne Fernsehen und Musik, das hastige und schlechte Essen und die Untätigkeit in sportlicher Hinsicht: all dies ist der Rhythmus der Tage, wie er schon eine halbe Ewigkeit zu gehen scheint.

Ich habe nur noch zwei leere Filme, Nummer sieben liegt zur Hälfte belichtet im Apparat, Nachschub kostet fast doppelt so viel wie in Hamburg. Es wäre leichter Größenwahn, finge ich jetzt an, ein ästhetisches Konzept für meine Fotos zu erläutern. Wie jeder Tourist mache ich (auch) meine Postkarten, nur um mir selber zu beweisen, wo ich war - was natürlich schon ein Konzept ist, das nicht "jeder Tourist" hat, denn die üblichen Inszenierungen vor den Digicams sind für die daheim Gebliebenen gedacht, als Beweismaterial.

Trotzdem. Ich versuche, nicht bloß das Gesehene gleichsam zu verdoppeln, sondern meine eigene Sicht zu dokumentieren. Wenn ich mit dem "Fotoblick" eine Szenerie untersuche, ist mir bewußt, daß räumliche Verhältnisse in einer Fotografie völlig anders wirken, als im alltäglichen Sehen. Normalerweise blendet das Bewußtsein Vorder- und Hintergründe aus, man nimmt nur den Hauptgegenstand war. In einem Foto geht das nicht, weil dort alle räumlichen Verhältnisse zusammengefaltet erscheinen. Die Straßenlaterne überdeckt plötzlich einen Teil der Kirche, die klar getrennt vor dem Auge lag, etc. M.E. liegt die Kunst nun darin, solche Überlappungen fruchtbar zu machen, statt sie durch ein sauberes Sichtfeld auszubügeln. Ich versuche zu lernen, räumliche Ebenen zusammengefaltet zu denken und als zweidimensionale Grafik zu sehen. Manchmal gelingt mir das: dann kann ich in einer Szenerie hin und her wandern und ihre Bestandteile aus verschiedenen Ecken des Raums in ein Foto zusammenfallen sehen.

Dann gibt es - natürlich - die Wahl des Ausschnitts, wobei das die Fähigkeit des zweidimensionalen Blicks voraussetzt.

Mein dritter Punkt wäre die Gestaltung der Tiefenschärfe. Ich habe bisher zwei Möglichkeiten gefunden: Manipulation der Blende (was nun jeder kennt), und Lichtverhältnisse. Wenn die Objekte viele Schatten werfen, kann man auch auf einem Foto gut nachvollziehen, wo vorne und hinten ist. Trübes Licht hingegen gibt flache Bilder, zweidimensionale Räume. Manchmal erreicht man sogar etwas wie eine "mittelalterliche Wirkung", wo die einzig verfügbare Information über die räumlichen Verhältnisse in den unterschiedlichen Größen gleich großer Dinge liegt. Spätestens hier wird klar, daß Fotos Inhalte ganz anders transportieren als der Blick des Bewußtseins: sie müssen Kriterien der Vergleichbarkeit erst an Bord nehmen, selbst in Zusammenhängen, wo dies sonst selbstverständlich ist. Das Foto von einer riesigen Kirche macht nur Sinn, wenn sich auf ihm irgendwo ein paar winzige menschliche Gestalten tummeln. Als einzige Möglichkeit, große Entfernung zu schildern, habe ich bisher in der Verwendung möglichst starker Teleobjektive gefunden: hier rücken die Abstände künstlich zueinander; die Verdichtung wirkt als Verfremdung, die leicht durchschaubar ist.

So, 2.5.

Eigentlich wollte ich in den Stadtteil Trastevere ("Tevere", mit Betonung auf der ersten Silbe, ist der Tiber, "Tras" ist "Trans", dahinter. Man kann Busfahrer in den Wahnsinn treiben, indem man "Traste-vere" sagt, den Namen auf der dritten Silbe betont). Eigentlich fahren die Busse der Linie 70 zum Piazza Venezia, wo ich umsteigen wollte. Nachdem ich zehn Minuten gewartet habe, erscheint endlich ein Bus, jedoch mit einem ganz anderen Ziel auf der Anzeige als üblich. Der Busfahrer schüttelt immer wieder den Kopf, als ihn die Wartenden nach erwarteten Haltestationen befragen, "Venezia?", Kopfschütteln, der Bus fährt halb leer weiter. Ich nehme die Metro zum Colosseum, einem kurzen Fußweg vom ersten Ziel entfernt. Dort zeigt sich, daß das Stadtzentrum weiträumig abgesperrt ist, Männer in Sportkleidung tragen Nummern auf den Shirts, wie bei einer Laufveranstaltung. Ich gebe meinen Plan auf.

Das Nationaldenkmal für den ersten König des unabhängigen Italiens ist ebenso häßlich wie wohl alle Bauwerke, die eine nationale Identität stiften wollen, nur noch größer und monströser. Schließlich muß es nicht nur das Hermannsdenkmal oder den Invalidendom in Paris übertrumpfen, sondern auch noch die Prachtentfaltung der eigenen Vorfahren. In seinen Eingeweiden kann man viele Treppen hochsteigen und in einem Museum militärischer Helden gedenken. Ich verzichte und schaue lieber von der Aussichtsplatform auf das Panorama der Stadt.

Im gleichen Bauwerk befindet sich ein Museum, in dem eine Ausstellung mit Werken von Paul Klee zu sehen war. Die Bilder sind nicht besonders glücklich gehängt, in den meisten reflektiert die Beleuchtung. Besonders die Werke in monochromen dunklen Farben muß man aus nächster Nähe ansehen, um Details zu erkennen, ein Gesamteindruck aus der Distanz ist nicht möglich. Zum Ausgleich gibt es eine sehr große Zahl von Werken aus allen Schaffensperioden des Künstlers in chronologischer Reihenfolge - das wird nicht stur durchgezogen, manchmal gibt es Gruppen von inhaltlich zusammengehörigen Sachen. Ich bin überrascht, wie stark der junge Paul Klee von der "ornamentalen Gegenständlichkeit" des Jugendstils beeinflußt war. Alle Bilder (auch im Spätwerk) haben einen Titel, der einen zumindest im Nachhinein erkennbaren Gegenstand des Bildes benennt. Im Frühwerk ist diese Gegenständlichkeit durch den Versuch gebrochen, eine graphische Ebene gewissermaßen "dagegen zu ziehen". Das dreht sich später: der graphisch-formale Aspekt schiebt sich immer mehr in den Vordergrund, ohne aber gänzlich zu dominieren, immer gebremst vom Benennen von "Dingen". Viele Sachen, die ich bislang für rein abstrakte Formspielereien gehalten hatte (z.B. - ganz prominent - die "Hafenstadt mit Flaggen"), gewinnen ganz unerwartet eine neue Ebene, Bedeutung. Der Vergleich ist völlig unangemessen - aber zumindest in den hintergründigen Untertiteln, manchmal auch im subversiven Humor, ähnelt Klee seinem ganz unbeschreiblich anderen Namensvetter, Paul Flora.

Ich streife durch die Kaiserforen, einen Abenteuerspielplatz mit unübersichtlichen Treppen, ins Leere führenden Zugängen, das Gefühl für Raum und Richtung zerwürfelnden Zwischenstockwerken. Das Original in der Antike muß völlig anders funktioniert haben. Die klare Ordnung der Anlage wird heute aber nur noch aus den Rekonstruktionen auf den Tafeln vor den Ruinen ersichtlich - und dies, obwohl im letzten Jahrhundert viel Arbeit in die Ausgrabungen geflossen ist, was, wiederum auf den beschreibenden Tafeln, Fotos der Anlage, die vor einigen Jahren gemacht wurden, klar machen.

In Winkeln und Ecken der Foren ist eine Fotoausstellung aufgebaut. Es gibt die schwarz-weißen Arbeiten eines Fotographen [14], die - zum einen - von Leiden und Tod im Krieg sprechen, von den 60ern bis heute, in Irland bis Somalia. Eine zweite Serie zeigt den Einbruch der westlichen Zivilisation in den Alltag der Völker Eritreas - und es ist verrückt, denn diese Fotos finde ich fast langweilig. Sie zeigen immer dasselbe. Naturvölker in der Berührung mit Waffen. Automatische Gewehre. Kalaschnikows.

Einen Kontrast bilden Rombilder, die aus dem Hubschrauber aufgenommen wurden und durch einen prägnanten Verlauf in der Tiefenschärfe auffallen: die untere Mitte liegt wie unter einer Lupe, während sie an den Rändern zerfließen, zerfallen. Vom gleichen Fotografen gibt es einen kurzen Film, mit identischer Technik, denselben Motiven. Nur kommen hier Ton und Schnitt hinzu: verfremdete Hubschraubergeräusche und Minimal Music unterlegen eine Montage von Aufnahmen allbekannter Bauten wie Colosseum und Piazza del Popolo gegen Bilder von ebenso artifizieller Hochhaus- und Autobahnarchitektur.

Die Pizza ist belegte Pappe, nicht einmal richtig heiß. Eigentlich hätte ich mich ja dafür über die Bedienung ärgern müssen. Die aber war guter Laune und gab ein Stück davon ab, an mich, an alle Gäste.

Die Straßenbahnlinie 8 fährt aus der Innenstadt über Trastevere in eine Region, die nicht mehr auf meiner Karte stand. Ich fahre mit, weniger aus Neugier, wohin die Reise ginge, als mit der Idee, meine Füße auszuruhen. Hochhaussiedlungen. Ein Krankenhaus in einem umfunktionierten Sommerpalast. Der Müll eines gerade geschlossenen Marktes. Immer ein Gemisch aus allen Völkern, Chinesen, Pakistani, tief schwarze, für mich keiner Nation zuordnenbare Gesichter, die Italiener scheinen in der Unterzahl.

Im irischen Pub gibt es wieder ein paar Pinten Kilkenney. Der Kellner liefert an einen Tisch nebenan Essen, nachdem er davon genascht hat. Woanders wäre das befremdlich. Hier fällt es kaum auf, denn die Bedienung ist von den Gästen nicht zu unterscheiden. Ihre Kleidung ist sowieso dieselbe, aber auch ihr gelöstes Benehmen ist wie das unter Freunden. Der Mann, der uns das Bier bringt, schäkert mit jemandem, der mindestens einen Kopf größer ist und lachend eine kecke Zahnlücke zeigt.

Mo, 3.5.

Es half nicht, früher aufzubrechen. Als ich beim vatikanischen Museum ankomme, denke ich einen Moment lang, daß die Schlange ja recht flott an den Kassen vorbeigeführt werde. Nach 500 Metern schien sie zu enden, aber da kam nur eine Ecke, hinter der sie sich schier endlos weiterzog. Nach mindestens 2 km verschwand sie, setzte sich uneinsehbar hinter einem Häuserblock fort. In der Erwartung stundenlanger Warterei gebe ich meinen Plan auf. Das Versprechen, die sixtinische Kapelle zu sehen, war ein wichtiges Argument für meine Reise nach Rom. Egal. Die Perspektive hat sich ja längst schon geändert.

Statt dessen wandere ich durch die Gärten der Villa Borghese. Den kleinen Teich in der Mitte bewohnten Enten und Schildkröten in friedlichem Miteinander. Die Ruhe, die die Distanz zum Straßenverkehr verspricht, wird immer wieder von Motorsägen zerrissen. Vom Pincio, einem Park oberhalb der Piazza del Popolo, hat man einen wunderbaren Ausblick über die Stadt. Der Reiseführer sagt, man müsse ihn bei Sonnenuntergang besuchen, dann liege die Peterskirche im Gegenlicht.

Ich versuche einen Geschäftebummel. Das war der nächste Plan, der scheitert, diesmal, weil die Geschäfte montags erst am späten Nachmittag öffnen. Der Elektrobus trägt mich quer durch die Stadt, durch seine offenen Fenster weht warme Sommerluft. Die Hektik auf den Straßen wird fast unwirklich durch den Kontrast zur steinernen Gelassenheit der vorbei fließenden Häuser, Mauern, Paläste.

Ein weiterer Bus bringt mich zur Via Appia Antica, einer 300 v. Chr. begonnen Straße, die Rom mit den südlichen Provinzen verband. Nach römischem Recht durfte niemand innerhalb der Stadtgrenzen bestattet werden. An den Rändern der Appia stehen deshalb zahlreiche Grabstätten, die von reichen Römern und - unter der Erde, in den Katakomben - die der ersten Christen.

Ich fürchte mich vor vielen rutschigen Treppen, zu Unrecht, denn die Gräber sind in Tuffstein geschlagen, der nicht nur weich ist, sondern auch alle Feuchtigkeit aus der Luft zieht. Pater Korte [15], ein in Köln geborener Mönch des katholischen Salesianerordens, ist der Führer meiner kleinen deutschsprachigen Gruppe. Irgendwann müssen wir darauf warten, daß eine andere Führung Platz macht. Er fragt, ob jemand erkenne, was dort für eine Sprache gesprochen werde: es war Finnisch, wobei sein japanischer Ordensbruder einen Ghettoblaster in die Luft hielt und die Ansprache mit stumm deutenden Gesten begleitete.

Die Katakomben sind weder naß noch glitschig, und man bekommt man auch keine Totenschädel oder Menschenknochen zu sehen. Es ist nur kalt, schließlich ist man zehn oder zwanzig Meter unter der Erde. Die frühen Christen nahmen den Gedanken der Wiederauferstehung sehr wörtlich und gaben jedem Toten eine eigene Grabstätte. Deshalb dehnten sich die Katakomben in den dreihundert Jahren ihrer aktiven Nutzung immer weiter aus, über 20 Kilometer bzw. 15 Hektar erstreckt sich die Anlage heute, in der Tiefe von bis zu zwanzig Metern stapeln sich die Gräber ohne Lücke übereinander. Dabei sind die Katakomben des Kalixtus [16] - wenn auch die bedeutendste und größte - nur eine von vielen.

Eine zentrale Rolle spielte der Brauch, die Toten zu besuchen. Man sprach mit den verstorbenen Angehörigen, die man im Paradies an der Seite des Heilands wußte, man bat vielleicht die Mutter um ein gutes Wort für den kranken Sohn, ihren Enkel. Der Pater deutete dies als Wurzel für die Heiligenverehrung des Katholizismus - zu den Heiligen betet man, weil man sie in besonderer Nähe zum Gottessohn weiß.

Von den 500.000 Grabstätten gehören knapp die Hälfte Kindern. Meine Gruppe wird zu zwei schmalen, mit Marmor besetzten Gräbern geführt, die gerade genug Platz haben für zwei Babys. Achtzig Prozent der Grabplatten sind aus Tuffstein, weil man zu arm war, das bevorzugte - weil beschreibbare! - Marmor zu verwenden. Die Platten der beiden Babys sind aber blank, unbezeichnet. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind dies deshalb die Gräber von Neugeborenen, die man, wie es eine in der Antike akzeptierte Sitte war, ausgesetzt hatte, um unerwünschten oder mißgebildeten Nachwuchs loszuwerden. Die Christen brachen mit dieser Tradition. Selbst wenn sie das Leben nicht mehr retten konnten, sorgten sie zumindest dafür, daß die Leichen ein würdiges Begräbnis bekamen. Dafür opferten sie sogar den kostbaren Marmor, der später vielleicht für das Grab der eigenen Angehörigen fehlte.

Die Beschriftungen sind häufig in unzulänglichem Latein, in Marmor geschlagen von halben Analphabeten. Auf der Grabplatte einer "Faustina" findet sich das Symbol einer Säge. Man nimmt an, daß sie nach dem Tod ihres Mannes dessen Tischlerei weiterführte, so daß ihre Familie schließlich auch die Frau mit dem Männerberuf identifizierte.

Die Gräber der Märtyrerpäpste sind gemeinsam in einem Raum untergebracht, der unsere etwa zwanzigköpfige Gruppe nur knapp aufnimmt. Unter Konstantin wurde er zu einer kleinen Kapelle mit Ziersäulen und einem Altar ausgebaut. Dieser Ort sprengt die Peterskirche. Wo man dort hohle Pracht und Angeberei findet, herrscht hier wahrhaftig Würde und Größe.

Nach Jahren, so kommt mir das vor, höre ich wieder Musik. Ich habe eine Aufnahme von Bachs Orchestersuiten in einem CD-Laden in der Nähe gekauft, sehr romantisch großes Orchester mit deutlichem Vibrato in den Streichern und arg pathetischer Agogik. Die Air findet man in der dritten Suite. In unserer Wohnung gibt es einen CD-Player, eine gruselige Anlage, die selbst mit Norah Jones nicht zurande kommt - erst recht nicht mit dem Gemisch aus der Kirchenakustik der Aufnahmen von den Bachschen Suiten mit der Wiedergabe in einem großen Raum ohne Teppich und mit wenig Möbeln: der Nachhall der Produktion wird verhallt vom Hall bei der Reproduktion...

Di, 4.5.

Als ich am frühen Nachmittag nochmals zum Vatikanmuseum komme, war ich davon überzeugt, daß ich wie am Tag zuvor umkehren würde. Doch es gab keine Schlange, ich bewege mich zwar in einer dichten Menschmenge, aber ohne Wartezeiten.

Die Säle und Gänge sind derart dicht mit Exponaten allerhöchster Qualität zugestellt, daß man eigentlich nur mit offenem Mund in all die Wunder schauen kann, ohne zu begreifen, was dort an einem vorüberzieht. Man blickt sich um, und wird schwindlig. Rechts und links ist kaum eine Wand zu sehen vor lauter Statuen, Bildern. Man tritt auf die in marmornen Fußböden eingelassene kostbare Mosaike. Unter der Decke ein Fresko neben dem anderen. Ägyptische Mumien, endlose Reihen von antiken Statuen und Büsten, gigantische gewebte Teppiche aus dem 16. Jh., sowie zahllose Fresken an Wänden und Decken, mit den Stanzen Raffaels als erstem und der von Michaelangelo bemalten sixtinischen Kapelle als endgültigem Höhepunkt. Es ist ein wenig so, als wäre man um einen vom Straßenverkehr umtosten Platz gegangen, und müßte hinterher die Typen aller vorbeigefahrenen Autos benennen, in all ihren unterschiedlichen Ausstattungen und Farben.

Hängengeblieben ist überraschend viel, wenig - vieles ein wenig, erstaunlich viele starke erste Eindrücke. Da sind einmal die ägyptischen Sarkophage, denen dreitausend Jahre nichts von ihrer strahlenden Farbigkeit nehmen konnten. Die Laokoongruppe, die wohl berühmteste Skulptur aller Zeiten, steht frei zugänglich in einer Ecke, lediglich im Abstand von einem Meter durch ein Seil vom Betrachter getrennt. In langen Gängen sind antike Skulpturen aufgereiht, die sich in ihren Nischen fast bewegen, gekleidet in wehende Gewänder, mit großem Ausdruck in den Gesichtern. In den Fresken Raffaels wird die klare Struktur mit zentralem Fluchtpunkt durch das pulsierende Leben der Menschenmassen kontrastiert. Figuren deuten und gestikulieren in die Richtung des weitab vom räumlichen Zentrum sitzenden Papstes, dessen segnende Geste gegen die Ordnung des Raumes zur bestimmenden Mitte wird. Auf einem anderen Bild flieht ein Reiter im Vordergrund zum rechten Bildrand.

Immer wieder blitzte es von einem Fotoapparat, zerstörte Farbpigmente zerstäuben unsichtbar. Die amerikanische Reiseleitung hat einen Ton am Leib, bei dem man fürchtet, daß selbst die steinernen Figuren Lust bekommen zu fliehen. Wie im Protest flüstert eine Frau in das Mikrophon vor ihrem Mund. Als ihr immer mehr Leute mit einem Kabel zwischen Ohr und um den Hals baumelnden drahtlosen Empfänger folgen, begreife ich, daß sie nicht schreien muß, um laut zu sein.

Beherrschend war, natürlich, der Eindruck von der sixtinischen Kapelle. Jeder Wegweiser durch das Museum hat vom Anfang an immer einen Pfeil mit dem Hinweis: "Capella Sistina", die Besucherströme sind wie in einen Fluß gefaßt, der auf die berühmten Gemälde zuströmt. Das zentralen Bild kennt jeder, Michelangelos Darstellung von der Beseelung Adams: die ausgestreckten Arme, Gott und Mensch einander zugewandt, die Zeigefinger kurz vor der Berührung. Auch von den anderen Fresken kannte ich Reproduktionen seit Jahren. Die Schöpfungsgeschichte unter der Decke und das Jüngste Gericht an der Westwand sind vertraute Gefährten. Insofern hätte ich eigentlich nicht überrascht sein sollen.

Doch das Wissen um die Existenz einer Sache ist etwas völlig anderes als deren Erfahrung. Was in den Kunstdrucken nah und im Detail erkennbar ist, wirkt im Original aus überraschend großer Ferne. Der Überblick zeigt ein durchaus anderes, unbekanntes Werk. Der befremdlich dickliche Jesus des Jüngsten Gerichts bekommt einen Sinn erst in den Proportionen der gesamten Wand, wo er plötzlich eigenartig isoliert wirkt, einsam in der Ausübung seiner Macht. Die herkömmliche Darstellung des Heilands als asketische Figur wäre aber fehl am Platz, wo die Posaunen erschallen und Christus nicht mehr nur für die Überwindung des Todes steht, sondern nur eine Elite an seiner Seite zuläßt und den Rest zu ewiger Höllenqual verdammt.

Den Vormittag habe ich fast vergessen, der Kontrast war einfach zu groß. Dabei hatte das Nationalmuseum [17] eine durchaus beeindruckende Darstellung protoantiker (???) Kunst: Grabfunde aus Bronze- und früher Eisenzeit, Didaktik zur prähistorischen Besiedlung Mittelitaliens anhand von Karten und Keramiken, Schaubildern und Waffen.

Die Via Veneto ist eine vom Verkehr verseuchte stinkende und laute Straße. Trotzdem versammelt sie zahlreiche Hotels mit fünf Sternen. Laut Reiseführer ist dies die Adresse für Luxus und teure Geschäfte. Tatsächlich gibt es einige enge Läden, in denen Schuhe und Lederbekleidung zu unerschwinglichen Preisen angeboten wurden. Luxus stelle ich mir anders vor.

Seit einigen Tagen träume ich nicht mehr.

Mi, 5.5.

Mittlerweile muß ich nachsehen, wenn ich wissen will, welchen Wochtag wir haben. Der Tagesablauf ist von monochromer Farbe, mit einem regelmäßigem Muster aus den Ritualen nach dem Aufstehen, der Müdigkeit am Abend, und der täglich gleichermaßen die Sinne verwirrenden Vielfalt von gesehenen Dingen in den Stunden dazwischen.

Das Wetter ist schlechter geworden, morgens regnete es noch ein wenig. Das Museo Nazinale Palazzo Massimo ist gewissermaßen eine Zweigstätte des Nationalmuseums an den dioklesianischen Thermen. Trotz der Empfehlung des Reiseführers gehe ich die beiden Stockwerke eher gelangweilt ab. Die z.T. stark angeschlagenen Statuen und Porträtköpfe sind mir in ähnlicher Form schon derart oft begegnet, daß ich übersättigt gähne, Schande über soviel Ignoranz.

Die Läden auf dem Via del Corso führen die typischen Waren für eine großstädtische Einkaufsstraße: Leder, Schuhe, alle Arten von Bekleidung, sogar ein Geschäft für Multimedia, in dem es eine nennenswerte Klassikabteilung gab. Ich halte Ausschau nach einem Paar Slippern aus italienischer Herstellung. Irgendwann betrete ich einen Laden, dessen Schaufenster vielversprechend aussieht. Drinnen ist aber nicht viel mehr als eine Kasse, ein paar Sitzgelegenheiten zur Anprobe, ein wenig versteckt eine kleines Lager mit Regalen voller Schuhkartons. Wahrscheinlich hätte ich im Schaufenster meine Auswahl treffen und im Geschäft nach meiner Größe fragen müssen, zuviel Aufwand für heute angesichts der Sprachbarriere und der Befürchtung, es ein weiteres Mal mit einem der notorisch unhöflich bis arrogant auftretenden Verkäufern zu tun zu bekommen.

Am Corso gibt es eine barocke Marienkirche [18], die im Reiseführer nicht erwähnt ist und auch auf dem Stadtplan nicht mit ihrem Namen verzeichnet steht. Man sieht von außen auch nur die Türen, ich bin gar nicht sicher, ob sie überhaupt einen Glockenturm hat. Der einschiffige Bau ist innen komplett in Marmor von unterschiedlichster Struktur und Farbe ausgestattet. Neben den sechs Kapellen an den Seiten findet sich ein mächtiger, prachtvoll ausgeführter Hauptaltar, umgeben von überlebensgroßen Engeln [19] und Heiligenfiguren aus dem Hochbarock. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Bernini und seine Schüler die Figuren geschaffen. Trotz der Dutzenden Kirchen, die ich in den letzten Tagen gesehen habe, gehe ich eine Weile staunend umher, einziger Gast in einer wie vergessenen Welt.

Ich rempele weiter mit den Leuten auf dem Corso, kaufe ein Eis und die Zeitung, setze mich damit auf Treppenstufen vor dem Piazza del Populo. Später ziehe ich los, zu einer zweiten Tour durch die vatikanischen Museen. Es ist wie gestern: die endlosen Schlagen, die es morgens wahrscheinlich wieder gegeben hatte, sind verschwunden. Es geht zügig durch die Sicherheitskontrolle. An der Kasse steht vor mir lediglich ein japanisches Paar. Obwohl wir den Tag getrennt unterwegs sind, laufen Mam und ich uns erst in der Pinakothek über den Weg, Stunden später ein weiteres Mal kurz vor dem Ausgang, noch in der sixtinischen Kapelle. Rom ist recht klein an gewissen Tagen.

Der zweite Gang durch das Museum geht etwas rascher vonstatten, denn ich habe ja schon eine Idee von seiner Topographie und weiß, wo ich länger stehen bleiben will.

Gleich die ersten Säle mit den ägyptischen Sachen: wieder die frischen Farben der mehrtausendjährigen Sarkophage. Die Figurengruppe aus Hadrians Villa in Tivoli, in glänzend schwarzem Marmor. Eine mit faltenreich fließender Tunika bekleidete Menschengestalt, auf dem Hals der Kopf eines Hundes, die Darstellung eines ägyptischen Anubis [20] nach der Berührung mit der Kultur Roms.

Dann kommt eine kleine Sammlung von Zeugnissen der frühesten Hochkulturen, summerische und assyrische Tongefäße, Waffen aus Bronze, und, besonders faszinierend für mich, viertausend Jahre alte Schriften. Die Keilschrift ist winzig klein, die Vertiefungen sind wie mit einer Stecknadel geschrieben und so eng aneinander gedrängt, daß kaum noch Fläche zwischen ihnen stehen bleibt. Viele Tafeln dokumentieren Verträge und Gesetze, es gibt aber auch ein Bruchstück aus dem Edda-Epos, schließlich sogar einen Brief: eine Tafel guckt hervor aus einem beschrifteten Umschlag aus gebranntem Ton.

Ich weiß nicht mehr, in welcher Reihenfolge die Skulpturen und Büsten, Reliefs und Torsi aus den verschiedenen Epochen des Altertums angeordnet waren - wahrscheinlich weiß nicht einmal der Kurator, nach welchen Prinzipien die Reichtümer aneinander gereiht sind. Es gibt zwei große Säle, in denen ausschließlich Tierfiguren stehen. Eine Ausstellung - die allein wohl einem Museum zu Weltruhm verhelfen würde, die hier aber ohne große Erlärung versperrt ist und die man nur hinter einer Absperrung erahnen kann - zeigt Büsten der antiken Kaiser: vier, sechs Regale stehen übereinander, aufs Engste mit Exponaten zugestellt, auf beiden Seiten der mindestens hundert Meter langen Halle.

Im Cortile Ottogone - der achteckigen Halle - fallen die Laokoongruppe und die Figur des Apoll heraus. Die Figur des Perseus aus dem 18. Jh. wirkt weniger als späte Reflexion, eher wie ein fast schon zeitgenössisches, gleichwertiges Gegenstück. Ein wenig weiter steht der belvedersche Torso, der selbst im spärlichen nachmittäglichen Verkehr von geführten Gruppen eng umstellt ist [21].

In der sixtinischen Kapelle herrscht ein ausgesprochen entspanntes Gedränge. Ich finde sogar einen Sitzplatz an der Ostwand, von der aus man die Deckenfresken von der richtigen Seite sieht. Sitze dort, sehe nach oben, vor mir die nach oben ausschauenden Besucher. Die ihren Führenden zuhörenden Gruppen. Das Menschengewirr.

Do, 6.5.

Die Paulusbasilika [22] im Süden Roms geht auf das 4. Jh. zurück, war aber im 19. Jh. abgebrannt und mußte völlig neu errichtet werden. Bis zum Neubau der Peterskirche im 16. Jh. war dies die größte Kirche der Welt [23]. Auf der Höhe der Seitenschiffe befinden sich die Porträts sämtlicher Päpste, von Petrus bis Johannes Paul II. Sie sind mit Jahreszahlen in einem seltsamen, lateinisch anmutenden System bezeichnet, das ich nicht enträtseln kann.

Die Leiterin einer amerikanischen Reisegruppe macht großes Getue, weil sie keine passende Münze für die Beleuchtung der Fresken über dem Hauptaltar findet. Erst als ihr jemand aushilft und man im Licht der elektrischen Lampen auch jedes Detail dort hoch oben erkennen kann, erklärt sie detailiert, was man dort sieht: Jesus erhebt die Hand zum byzantinischen Segen (Daumen und Ringfinger berühren sich, die übrigen Finger der Rechten ausgestreckt). Unten das leere Kreuz, der Speer, mit dem man ihm in die Seite stieß, der Stab mit dem in Essig getränktem Schwam. Was man dort sieht, Kindermärchenstunde für Greise, zu spät Geborene.

In der Mitte des Kreuzganges steht eine sechs, sieben Meter hohe Paulusfigur mit erhobenem Schwert in der Hand. Ich mache ein Foto aus starker Untersicht, direkt hinter dem Kopf das Gegenlicht der Sonne.

Zwei Haltestellen mit der Metro weiter nördlich findet man die Cestiusyramide [24], ein 27 Meter hohes, etwas bizarres Grabmal für einen hohen römischen Herrn 12 v. Chr., das in die Stadtmauer integriert ist. Von hier aus will ich in Richtung Monte Aventino gehen, einen der sieben Hügel, die den Kern der Stadt bilden. Ohne Lust auf die Karte zu schauen verirre ich mich in einem Gewirr aus schmalen Seitenstraßen, Märkten, Sackgassen. In einer Ecke des Viertels konzentrierten sich Kfz-Werkstätten, der Straßenrand ist vollgestellt mit beschädigten und ausgeschlachteten Autos. Erst als ich am Tiber stehe, kann ich mich wieder orientieren, stelle fest, daß ich in die entgegengesetzte Richtung gegangen war.

Auf dem Aventin gibt es einen Platz, von dem aus man ganz Rom vor sich ausgebreitet sehen kann. Ich sitze eine Weile auf der breiten Mauer, die den Aussichtspunkt umgibt, zusammen mit zwei Katzen, die mich eher beiläufig anmaunzten und die Mauer noch besetzt halten, als ich schließlich gehe. Auf dem höchsten Punkt des Hügels stehen direkt nebeneinander drei alte Kirchen. Santa Sabina aus dem 5. Jh. strahlt die Würde einer frühchristlichen Basilika aus. Daneben steht Sant'Alessio mit einem verwunschenem Kreuzgang. Der Verkehr von den viel befahrenen Straßen am Ufer des Tibers wird hier zu einem leisen Rauschen. Schließlich folgt Santa Anselmo, ein umgebauter antiker Palast, der im 8. Jh. zur Kirche geweiht wurde. Mein Reiseführer erwähnt Santa Maria del Piorato, eine Anlage aus dem 18. Jh., die ich aber auf der Karte nicht finde. Wenn man sich von den Hauptattraktionen entfernt, wird es verwirrend.

Irgendwo spricht mich aus einer Gruppe von zwei Paaren ein Mann an: "'Scussi Seniore", gefolgt von einem Schwall italienischer Worte. Ich hebe die Hände, in etwas hilfloser Grammatik: "I'm sorry, but I don't understand any Italian", worauf der Mann ratlos zu seiner Begleiterin blickt. Diese: "Er sagt, daß er kein Italienisch versteht...", was ich lachend unterbreche: "...dafür kann er aber ganz gut Deutsch". Ihre Frage, wo man hier ein Restaurant findet, kann ich trotzdem nicht beantworten.

Es fängt an, kräftig zu regnen, ich fahre mit der Metro zurück zur Wohnung, lese Zeitung, fahre schließlich, als der Regen nachläßt, nochmals Richtung Corso. Dort stolpere ich erst wieder über zwei Kirchen, die im Reiseführer nicht erwähnt werden [25]. Doch ich will im CD-Geschäft stöbern. Es gibt zwei davon, beide mit ordentlicher Klassikecke. Bachsche Motetten laufen, während ich schreibe.

Dies ist der vorletzte Tag, und ich bin merkwürdig froh, daß es Samstag nach Hause geht. Diese Stadt kann außerordentlich ungastlich wirken, besonders, wenn sie die mediteranen Farben im Regenwetter verliert und es scheint, als würde der Belag aus Abgasen von den Häuserwänden herabgewaschen und flösse nicht nur über die Straßen, sondern auch in die Gemüter der Passanten.

Es gibt vier Patriarchalsbasiliken, die Maria Maggiore um die Ecke, die Lateranskirche, von der aus Buslinie 218 zu Appia Antiqua und Katakomben geht, St. Peter am Vatikan und St. Paul weitab vom Schuß. Die beiden letzteren verdanken ihre einzigartige Bedeutung den Orten, an denen sie errichtet wurden: über den Gräbern der zentralen Gestalten des Urchristentums. Aus welchem Grund aber sind die beiden anderen Basiliken so wichtig? Was unterscheidet überhaupt eine Kirche von einer Basilika, diese von einem Dom?

Was hatte Papst Leo X [26] auf der Seele, wenn er spät nachts zu Bett ging? Träumte er? Oder hatte man sich im Kaufmannsgeschlecht der Medici, dem er entstammte, solch überflüssige Flausen längst abgewöhnt? - Warum trägt Paulus das Schwert? Wer hat Petrus eingeredet, Christus nähme mit seinem Sterben am Kreuz stellvertretend die Schuld der Menschen auf sich? - Wie sieht die Bruchstelle aus, welche die heilige Helena schuf, als sie ihren Sohn, den römischen Kasier, dazu brachte, sich von den Göttern der Antike, zu denen er selber ja gehörte, abzuwenden, um Christus zu folgen? Wie, genau, sieht dieser Bruch aus? Was passierte in jenem Moment? Was müssen die politischen Berater gestöhnt haben!

Es gewittert aus der Ferne. Der Regen hat schon eingesetzt. Mam verwechselt die Engelsbrücke mit der Brücke daneben, beharrt auf einer Statue, die ich nicht gesehen hatte. Ich versuche einen Abgleich der Informationen aus drei Stadtpläne und zwei Reiseführern, um die Topologie des Monte Aventino doch noch zu verstehen. Langsam näheren wir uns einem Zustand, für den es nur eine Medizin gibt: den Flieger.

Fr, 7.5.

Der letzte Tag.

Ich sehe mich in einem Museum um, der Nationalgalerie für moderne Kunst [27] in den Gärten um die Villa Borghese. Das stellt sich als ein überrachend würdiger Abschluß heraus, völlig unerwartet wie vieles vorher auch.

Wenn man mich fragte, wo ich die Werke von Marcel Duchamp vermute, würde ich auf New York tippen. Gefunden habe ich sie ausgerechnet in Rom, ausgerechnet in einer der wenigen grünen Bezirke dieser so zugebauten Stadt. Ausgerechnet die Ready-Mades haben ihr Zuhause im Rom der tausend Kirchen gefunden - aber eben neben all der sakralen Kunst. Im Rom des lärmenden Verkehrs - aber neben dem tönenden Chaos, das eben auch all die Kirchen umtost (in der sixtinischen Kapelle müssen die Aufseher alle viertel Stunden geräuschvoll Luft holen, um vernehmlich ihr "Silentio" in die schwatzend wogende Menge zu rufen).

Fahrrad, Kleiderhacken, Schneeschaufel, Toilettenbecken und einiges andere hat ausgerechnet in einem Museum seinen Ort, in dem neben vielen eklektizistischen Italinenern der Neuzeit die Futuristen für den bedeutensten Akzent sorgen. Von Gehardo Dottori stammt eine gigantomanische Mauer aus sechs Bildern im futuristischen Stil. Unten sieht man auf drei Bildern eine Armee aus stramm stehenden oder im Gleichtakt marschierenden Soldaten, mehr Graphik als Abbild von Menschen, oder besser: Menschenleiber zum mathematischen Symbol gepreßt und verwendet, als handele es sich bei jedem Einzelnen um ein Quadrat oder eine Rombe, wie sie die Kubisten für ihre Werke verwendeten. Darüber sind auf zwei Tafel Schiffskanonen dargestellt, metallisch wie die Arme der Soldaten, ebenfalls nicht wichtig als Inhalt, allenfalls Artefakte zur Gestaltung. Überkrönt wird dies alles dann von einem Bild des Duce, Untersicht, vorgestrecktes Kinn: der Titel des Ganzen: Politico Fascista 1934. - Der Duce ist auch abgebildet in einer Büste von Adolfo Wildt. Von demselben Künstler, in der gleichen Art - gleich in Material (Porzellan???) und Art der Abstraktion - Büsten von Toscannini (!) und dem heiligen Franciscus (!!!).

Eine Straßenbahn bringt mich durch entlegenere Stadtteile, entlang an den Stadmauern und einer Serie von Toren, durch die man einst eintrat, die heute nur Mauerwerk sind, halb zerstört. Ich steige in der Nähe des Colosseums aus und laufe bei einem letzten Spaziergang durch die von Touristen eher gemiedenen Bereiche zwischen Corso und Tiber.

Das Thema Rom hat seine Spannung zunächst verloren, und ich kann mir nicht vorstellen, hierher zurückzukehren, geschweige denn, hier, selbst für eine begrenzte Zeit, zu leben. Für ein Resume ist es aber noch längst nicht an der Zeit. Ich bin sehr gespannt auf meine Fotos.

Es waren etwa tausend Jahre, in denen das römische Reich bestand. Die Zwischenphase der Völkerwanderung war wie ein böser, kurzer, etwa drei Jahrhunderte währender Traum. Danach kam die Zeit der römischen Kaiser deutscher Nation, wieder für die Dauer von, fast genau, tausend Jahren. Als Franz II. in den Wirren der napolianischen Kriege 1806 abdankte, war dies wie das Geläut für eine weitere Zeit des chaotischen Übergangs.

Sie ist längst nicht zuende. Die beiden Weltkriege bilden nur ihren vorläufigen Höhepunkt.

Wenn ich etwas aus Rom mitnehme, dann dieses: Geschichte ist in jedem von uns in einem Maß Bestand des alltäglichen Daseins, das durch einen vordergründigen Bezug auf die angebliche Gegenwärtigkeit der eigenen Existenz erst recht ins Licht gestellt wird. Wir sind, was unsere Vorfahren waren. Dies ist ein zentraler Konflikt in jedem von uns, einer jener Wiedersprüche, die das konstituieren, was wir Leben nennen. Wir sind nicht, was wir sein sollten, sondern das, was aus uns wurde. Wir führen nicht das Leben, das wir führen wollen, sondern jenes, das uns übrig bleibt. In unserer Gesellschaft wurde der Versuch mehrheitsfähig, Vergangenheit zu ignorieren. Damit entlarvt sie sich als unhistorisch, somit als: barbarisch. Wir leben in einer Zwischenzeit.

Neben all den schlimmen Träumen gibt einen wirklich bösen Traum. Es ist der, in dem wir leben. Man kann sich ansehen, wie es ist, wach zu sein.

Hier, in Rom.



[1] Sie wird doch erwähnt, versteckt unter dem Stichwort "Terme die Diocleziano", die ich weiter unten als Ursprug der Kirche nenne.

[2] ?? M = 1000, D = 500, C = 100, L = 50, X = 10, V = 5, I = 1. Ich habe bisher bei jedem Ausflug ratlos vor diesen Zahlen gestanden, obwohl ich den Code kenne.

[3] Recherche erforderlich: eine Luke im Dach, aus der das Licht zur Mittagszeit exakt auf die Linie fällt, im Winter links, im Sommer rechts. Die Sternkreiszeichen entsprechen den Jahreszeiten, die Grade benennen den Winkel, in dem die Sonne zur Erde steht (Zahlen und Minuten/Sekunden weiß ich nicht mehr). Der Kreis rechts zeigt den Stand des Polarsterns mit dem Licht, das dieser durch ein anderes Fenster wirft - heutzutage ist das nicht mehr sichtbar, weil das Licht der Stadt das der Sterne übertäubt. Die Sache mit den Sternen auf dem Kirchenboden? Das zeigt ein Sternbild zu einer bestimmten Zeit, wann? Das ganze entstand bei der Umstellung des julianischen auf den gregorianischen Kalender.

[4] Piazza di Spagna

[5] Basilica di Massenzio

[6] Curia

[7] Tempio di Saturno

[8] Piazza San Pietro

[9] Musei Capitolini

[10] St. Giovanni in Laterano

[11] Am 29.11.1786, im Alter von 37 Jahren. Seine Adresse war Via del Corso 18, die Wohnung des Mahlers Heinrich Wilhelm Tischbein.

[12] (die gewissermaßen die Öffnung des Trichter ist, den die halbkreisförmige Bebauung des Platzes bildet)

[13] Ant'Agnese fuori le Mura

[14] Don McCullem, wenn ich den Namen richtig erinnere.

[15] P. Dr. Rainer Korte, SDB | Via Appia Antica, 126 - I 00179 Roma | Tel. 0039 - 06 - 510151 | E.Mail rainer.korte@email.it | Internet Katakomben: | www.catacombe.roma.it | Internet Salesianer: | Deutschland www.donbosco.de | Österreich www.donbosco.at

[16] Catacombe di San Callisto

[17] Museo Nationale Romano

[18] Chiesa Gesu e Maria del Corso

[19] Zwei Engel halten ein Schriftband mit den Initalen: IMS, wobei das "M" noch von einem "A" durchdrungen ist. In der englischen Beschreibung hieß es, dies seien die Initalen von Jesus und Maria, dem Emblem oder Wahrzeichen einer Bruderschaft. Das "S" könnte "Sanktus" heißen; was bedeutet das eingelegte "A"?

[20] Anubis, Begleiter und Beschützer im Totenreich

[21] Angeblich ist es der "Apoll von Belvedere", der dem achteckigen Hof den deutschen Namen gibt. Im Museum ist das aber anders bezeichnet.

[22] Basilio de Santo Paolo in Ostiense, laut Baedeker "San Paolo fuori le Mura", S. 168

[23] Wenn der Baedecker hiermit Recht hat, wäre sie größer als Notre Dame. Das kommt mir unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich vor.

[24] Piramide di Caio Cestio

[25] Schöne Kirchen, aber ich habe im Moment keine Lust mehr, die Namen nachzuschlagen, oder mich an Marmoraltäre und Engelgestalten zu erinnern.

[26] Leo X, 1513 - 1521, Giovanni de Medici.

[27] Galeria Nazionale d'Arte Moderna