Musik & Form
Wiederholung, Kontrast, Variation
Mein Essay über Rhythmik beginnt mit der Behauptung, daß Musik eine Kunst sei, die in der vierten Dimension strukturiert ist, der Zeit. - Während die Ebene der Rhythmik durch den »Puls« (gewissermaßen das Ticken des Sekundenzeigers) etabliert wird, braucht es formale Gestaltung, um größere Zusammenhänge herzustellen - den Verlauf eines Stückes von mehreren Minuten etwa, oder womöglich die fünf Stunden einer Wagner-Oper.
Wenn man von »Form« redet, tendiert man leicht dazu, letztlich nach Formeln zu suchen, denen Musik zu folgen scheint. Jede große Musik definiert jedoch ihre eigene Form - mehr noch: Musik wird erst dann „groß“, wenn sie sich jedem Schema verweigert. Dadurch wird es schwierig, verbindliche Regeln aufzustellen, und z.B. präzise zu definieren, wie der Sonatenhauptsatz funktioniert; es wird sogar schwer, so etwas wie eine geschichtliche Entwicklung der Formen zu behaupten und nachzuzeichnen, weil man dann unterstellen würde, daß es einen Werkzeugkasten der Formen gibt, aus dem die Komponisten sich bedienen, und dem sie bei Gelegenheit eigene Erfindungen hinzutun. Statt dessen muß man letztlich jedes einzelne Werk darauf abklopfen, wie seine Architektur aussieht und „funktioniert“. Es genügt nicht, bei einem Stück etwa festzustellen, daß es dem Schema des Sonatenhauptsatzes folgt – man muß herausbekommen, warum es dies tut. Man hat es also letztlich mit der individuellen Organisation jedes einzelnen Werks zu tun. - Dennoch gibt es einige Aspekte allgemeiner Natur.
Ich bin der Meinung, daß man alle Aspekte musikalischer Form unter drei Kategorien zusammenfassen kann: Wiederholung, Kontrast, und Variation.
Wiederholung
Ein „Vorher“ rückt nur dann ins Bewußtsein, wenn man es als Differenz zum „Jetzt“ erlebt, und dies geschieht durch unsere Fähigkeit des Erinnerns. Musikalische Abläufe benutzen diesen Mechanismus, indem sie bestimmte Aspekte wiederholen, sei dies eine Melodie, eine Folge von Akkorden, oder eine bestimmte rhythmische Figur. Wenn der Hörer sie wiedererkennt, kann er einen zeitlichen Bezug herstellen – völlig chaotische Abläufe ohne jede Wiederholung wären wie ein tickender Sekundenzeiger ohne dessen Wiederkehr ganz oben im Display der Uhr zu jeder Minute, oder den Schlag zur vollen Stunde.
Musik, die mit kurzgliedrigen Wiederholungen arbeitet, steht dabei am Anfang und sogar noch vor jeder Kunstmusik: Volksmusik etwa, Tänze, aber auch die gängigen Hits unserer Popkultur bestehen aus einer ständigen Wiederholung von nur zwei oder drei Teilen, Refrain und Strophe etwa. Je komplexer und kunstvoller Musik wird, desto weiter voneinander entfernt sind die sich wiederholenden Teile; das geht so weit, daß in einer Sinfonie von mehr als einer Stunde Länge vom Hörer erwartet wird, daß er sich im Finale an ein Thema erinnert, das er im ersten Satz gehört hat.
Kontrast
Der zweite zentrale Begriff lautet Kontrast. Darunter verstehe ich das Aufeinandertreffen zweier formaler Blöcke von unterschiedlichem Charakter – ein lauter Abschnitt folgt einem leiseren, ein langsamer einem schnellen, ein kammermusikalischer einem orchestralen, etc. Kontrastierende Wirkungen sind gewissermaßen das Gegenstück zur Wiederholung, weil auch sie die Zeit strukturieren - jetzt jedoch nicht, indem Gleiches erinnert und aufeinander bezogen werden kann, sondern durch die Konstruktion eines Bruchs. Wo man beruhigt und wissend nickt, wenn man eine Wiederholung erkennt und dadurch einen zeitlichen Abstand zum „Original“ herstellen kann, wird der Bruch, den der Kontrast bewirkt, als Überraschung (womöglich als Schock) erlebt, die – wie ein Stundenschlag – die Zeit in das zerteilt, was vorher war, und das, was nun beginnt.
In der Ebene der Wiederholung konstituiert sich die Einheit eines Stückes; im Kontrast gewinnt es seine Farbigkeit. Letztlich generiert das Umschlagen der unterschiedlichen Farben ebenso eine zeitliche Struktur wie die Wiederholung.
Voraussetzung für diese Funktion ist jedoch, daß diese Farben dem Hörer auch über einen größeren zeitlichen Verlauf erkennbar sind. Ein Beispiel ist ein Abschnitt in Dur, dem einer in Moll folgt: wenn der Hörer nicht über die Erfahrung verfügt, eine Dur-Kadenz als solche wahrzunehmen und diese von einer Moll-Kadenz zu unterscheiden, bleibt die Wirkung aus: er wird lediglich unzusammenhängende Akkorde hören, und auch den formalen Bruchpunkt verpassen.
Kontraste haben eine weitere Voraussetzung, wenn sie zur Bildung formaler Strukturen dienen sollen: sie müssen selten sein; ihre Wirkung verdankt sich einer bewußten Ökonomie. Wenn ein Kontrast den nächsten jagt, ist die Schockwirkung letztlich hinfällig, und damit auch die zeitliche Ordnung, die durch sie möglich wäre.
Letztlich gilt hier eine ähnliche Ordnung wie bei der Wahrnehmung von Wiederholungen: Musik, die keine Kunstmusik sein will, beschränkt sich auf einfache und robuste Kontraste, die auch einem ungeübten Hörer deutlich auffallen – beispielsweise in Form eines klaren Unterschieds im Rhythmus, oder durch ein pointiertes Gegenüber von „laut“ und „leise“. Je komplexer Musik wird, desto genauer muß der Hörer auf Nuancen achten, um das Aufeinanderprallen der Abschnitte nicht zu verpassen. In einer Bachschen Fuge etwa ist der Übergang von Exposition und Durchführung äußerst subtil; in den Werken der Moderne ist man gelegentlich ohne Einblick in den Notentext völlig verloren.
Erst im Zusammenwirken von Wiederholung und Kontrast bekommt ein Musikstück eine erkennbare Form und Struktur. Am Beispiel von Strophe und Refrain wird deutlich, daß der Refrain erkennbar anders klingen muß als die Strophe – das tut er, indem er auf einer oder mehreren Ebenen einen Kontrast zu ihr bietet. Ein anderes Beispiel ist die Form des Rondo: ein Hauptthema (A) erklingt wieder und wieder, wobei es durch immer neue kontrastierende Nebenthemen unterbrochen wird (A-B-A-C-A-D-A – etc.). Diese Nebenthemen müssen nicht selber wiederholt werden; es reicht völlig aus, wenn sie immer durch das Hauptthema abgelöst werden, um dem Stück einen Zusammenhang zu verschaffen.
Diesen Effekt kann vielleicht ein Bild verdeutlichen: das Hauptthema lädt zum Tanz ein; wenn ein Nebenthema einsetzt, bleiben die Paare verwundert stehen, und hören – etwas befremdet – zu; wenn das Hauptthema wiederkehrt, lachen alle befreit auf, und der Tanz setzt wieder ein.
Variation
Der dritte Begriff schließlich, unter dem sich die weitaus größte Anzahl an Werkzeugen und Verfahren einsortieren läßt, mit denen Musik einen formalen Zusammenhalt bekommt, ist der der Variation. Unter dieser Kategorie fasse ich alle Veränderungen am musikalischen Material zusammen, die das Original immer noch durchscheinen und wiedererkennen lassen (wodurch sie der „Wiederholung“ nahe steht), wobei aber durchaus bereits eine Kontrastwirkung entsteht. Variierte Teile sind einander ähnlich, stehen gleichzeitig aber in einer Spannung zueinander - wobei nur der Grad der Variation darüber entscheidet, welcher dieser beiden Aspekte überwiegt[1].
Dabei können alle musikalischen Parameter verändert werden - Tondauer und -höhe, Klangfarbe, Dynamik oder Harmonik, oder auch mehrere dieser Ebenen gleichzeitig.
Sehr offensichtlich sind Veränderungen in der Lautstärke und Klangfarbe: wenn ein Formteil sehr viel lauter oder z.B. mit einer völlig anderen Besetzung instrumentiert wiederholt wird, ist ein deutlicher Kontrast spürbar, auch wenn sich keine Note ändert. Ähnliches gilt für eine Wiederholung in einer anderen Oktavlage. Bereits deutlich komplexer wird es, wenn einer Melodie eine veränderte Begleitung unterlegt wird, entweder mit denselben Akkorden, die nur anders gesetzt werden, oder mit einer gänzlich neuen Harmonik. Auch die Melodie selber läßt sich verändern; die berühmtesten Verfahren, die im barocken Kontrapunkt entwickelt wurden, sind Augmentation und Diminution (Vergrößerung und Verkleinerung der Dauer der Töne), Umkehrung, Krebs, und Krebs-Umkehrung[2]. Daneben gibt es ein ganzes Füllhorn an Möglichkeiten, eine monophone Linie – egal, ob sie sich in der Haupt-, Mittel- oder Baßstimme befindet – so zu verändern, daß man das „Original“ noch wiedererkennt: wenn man die grundlegenden Proportionen der Rhythmik wie auch die Abfolge der Bewegung der Töne von „aufwärts“ und „abwärts“ beibehält, kann man erstaunlich radikale Veränderungen vornehmen, ohne daß einem geübten Ohr die Verwandtschaft zum Ausgangsmaterial entgeht.
Am Ende dieser Liste steht vielleicht ein polyphoner Satz, in dem alle Stimmen Variationen jeweils unterschiedlicher Linien sind, die im Stück bereits vorher vorgestellt wurden – wobei das Ohr möglicherweise schwer noch den Bezug herstellen könnte, und die Verwandtschaft sich erst anhand des Notentextes entziffern ließe. Dabei wäre auch ein Kontrast zu einem anderen Formteil nicht zwangsläufig gegeben – wenn man die Bezüge nur noch schwer hören kann, ist es sehr wahrscheinlich, daß auch der Bruchpunkt, der einen Kontrast bezeichnet, unterhalb der Schwelle des Wahrnehmbaren liegt.
Interessant ist, daß eine Zunahme der puren Komplexität einer Variation nicht konform geht mit einer zunehmenden kontrastierenden Wirkung oder erhöhten „Farbigkeit“ - im Gegenteil: eine vergleichsweise simple Variation wie die Vervielfachung eines zunächst kammermusikalisch vorgetragenen Themas durch das komplette Orchester kann wesentlich „dramatischer“ wirken als solche Veränderungen, die zwar ungleich weitreichender und „kunstvoller“, aber nur schwer wahrnehmbar sind.
- [1] „Grad“ bedeutet dabei nicht „Komplexität“, s.u.. Ich bin gerade von meinen eigenen Folgerungen überrascht.
- [2] Das sind Spiegelungen um die horizontale (Umkehrung) bzw. vertikale (Krebs) Achse - es gibt dazu mittlerweile einen Glossar-Eintrag.
Spannungsbögen
Unter diesen drei Begriffen kann man die Werkzeuge formaler Organisation einordnen; sie bezeichnen jedoch nicht das Ziel. Dieses lautet: formale Geschlossenheit – eine Ordnung soll her, die eine erkennbare Struktur aus Anfang, Mitte, und Ende hat. Dies wird freilich erst dann zu einem Problem (und nicht mehr automatisch jeder Musik mitgegeben, die mit Wiederholungen arbeitet), wenn man über die einfachen Formen des Liedes oder der Tanzmusik hinaus geht. Erst bei komplexeren Folgen von unterschiedlichen musikalischen Ideen ist es keineswegs mehr selbstverständlich, daß der Hörer eine Einheit erfährt, selbst wenn Wiederholungen erkenn- und erinnerbar sind – die Stücke drohen, in ihre Einzelteile zu zerfallen, in denen sich der Hörer orientierungslos verliert.
Eine Möglichkeit, ein Stück so zu gestalten, daß seine Abfolge fast zwangsläufig erscheint, ist die Konstruktion von Spannungsbögen. Es geht nicht einfach irgendwie weiter, sondern die zweite Phrase baut auf der ersten auf oder „folgt aus ihr“ - von der dritten erwartet man, daß sie sich in diese Sequenz einfügt - sie muß so und nicht anders kommen, und jede Alternative wäre „falsch“ oder „unlogisch“.
Ein sehr einfaches Beispiel ist Ravels Bolero: ein ständig wiederholtes Thema wird leicht variiert, indem immer mehr Instrumente aus dem Orchester hinzutreten. Man hat rasch das Gefühl, daß konsequent auf ein Ende zugesteuert wird, bei dem das volle Orchester spielt. - Hier wird mit minimalem Einsatz formaler Mittel ein relativ weiter Bogen gespannt.
Eine ähnliche Form findet sich im Variationssatz. Er besteht aus einem Hauptthema (das wiederum aus Haupt- und Nebenmotiv zusammengesetzt sein kann), das in einer Folge von gleichlangen Wiederholungen immer wieder variiert wird, und zwar so, daß es sich immer weiter vom Original entfernt, ihm immer unähnlicher wird. Wenn zum Schluß das Hauptthema in seiner Ausgangsform wiederholt wird, wird das Ende des Stückes als völlig plausibel erlebt.
Eine andere Möglichkeit wird in der Form desSonatenhauptsatz vorgeführt: hier wird die Exposition mit einem Schluß auf der Dominante der Haupttonart beendet, was ein entsprechend geschultes Gehör als Spannung empfindet, die aufgelöst werden muß. Dadurch ist die Fortführung „erzwungen“ - wenn in der Reprise schließlich die Tonika erreicht wird, ist auch das Ende konsequent und „notwendig“.
Variationssatz und Sonatenhauptsatz sind die grundlegenden Formen in der Tradition der Wiener Klassik, und spielen eine zentrale Rolle von Haydn über Brahms bis in die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs. Es gibt daneben eine zweite, nicht weniger wichtige Linie, die von Hector Berlioz über Wagner wiederum zu Schönberg führt, und von zwei komplementären Ideen getragen wird. Auch hierbei geht es um den Aufbau von Spannungsbögen – diese liegen aber außerhalb der genuin musikalischen Welt.
Dies ist einmal die symphonischen Dichtung, deren Konzept im Allgemeinen den „Neudeutschen“ um Wagner und insbesondere Franz Liszt zugeschrieben wird, das man in seiner voll ausgeprägten Form jedoch schon bei Hector Berlioz findet. Dabei geht es um die Idee, den formalen Verlauf so zu organisieren, wie dies auch in einem Drama, einem Theaterstück, geschieht: es gibt handelnde Personen, die in Konflikt zueinander geraten, wodurch eine Handlung vorangetrieben wird, die auf ein zwangsläufiges – dramatisches – Ende zusteuert.
Zum zweiten spielt das Leitmotiv eine wichtige Rolle: die Personen auf der Bühne werden ersetzt durch charakteristische Themen oder Motive, die immer dann in der Musik erscheinen, wenn die Personen etwas zu tun oder zu sagen haben; durch die Variation dieser Motive kann man andeuten, was die Art dieser Handlung ist – bspw. kann ein ursprünglich in Dur eingeführtes Thema in Moll erscheinen, um das Gefühl der Trauer o.ä der mit ihm assoziierten Person zu verknüpfen.
(Die Rolle der Leitmotivs bei Wagner geht über die formbildende Funktion weit hinaus. Das Orchester hat hier – da die handelnden Figuren ja auf der Bühne stehen – die Möglichkeit, durch das Zitat von Leitmotiven die Handlung zu kommentieren und ihr sogar eine tiefenpsychologische Deutung zu geben.)
Entwickelnde Variation
Das Verfahren der Variation ist aller abendländischen Musik spätestens seit Monteverdi bekannt. Es gewinnt jedoch eine neue Bedeutung in einer musikgeschichtlichen Entwicklung, die bei Beethoven beginnt und in der seriellen Musik ihren Höhepunkt findet: zuletzt ist alles nur noch Variation.
Keimzelle dieser Entwicklung ist der Sonatenhauptsatz, und in ihm zunächst jener Teil, der zwischen Exposition und Reprise steht, die Durchführung. In ihr werden die in der Exposition vorgestellten Themen „durchgeführt”, d.h. variiert. Das hat für den Spannungsverlauf der gesamten Form zunächst jene Funktion, in von der Haupttonart weiter entfernte Tonarten zu modulieren. Der Mittelteil gewinnt dadurch noch größere Farbigkeit als die zur Dominante geführte Exposition, und wird so zum Höhepunkt (eben zur Mitte) des Satzes. Die folgende Reprise, die auch die Modulation zur Dominante gewissermaßen zurücknimmt, wirkt als Beruhigung und führt dadurch konsequent in den Schluß.
Dabei bleibt es aber nicht. Immer mehr wird die Durchführung zum eigentlichen Kern des gesamten Satzes, und nach und nach bestimmt ihr Verfahren - jenes der Variation - die gesamte Form. Bei Brahms etwa wird das Seitenthema nur zu einem gewissen Teil als Kontrast zum Hauptthema eingeführt: man kann es idR als Variation eines zentralen Motives verstehen, welches schon im Hauptthema eine Rolle spielt. Mehr noch: gerade bei Brahms findet man kaum noch eine Note, die nicht in irgendeinem Verhältnis zu einer zentralen Idee steht - kaum ein Einfall, der sich letztlich nicht als Teil einer Variation erklären ließe. Die Wagnerianer - nicht zuletzt der Meister selbst - haben das noch für einen Mangel an Erfindungsgabe gehalten.
Dabei findet sich hier ein Verfahren, daß für Schönberg und seine Nachfolger von entscheidender Bedeutung ist: »permanente Durchführung«, oder entwickelnde Variation. Unter diese Begriffe subsumiert man das ständige Fortspinnen eines musikalischen Gedankens als Variation von etwas zuvor schon variiertem - anders als im Variationssatz, wo jeder neue Formteil wieder vom Original ausgeht.
Arnold Schönberg greift das Verfahren - gegen die Wagner-Begeisterung und die vorherrschende Bedeutung der Leitmotivik für die Musik des »Fin de siècle« - wieder auf, und kombiniert es mit der Verwendung von Leitmotiven. Schon in seinem (spätromantischen) Frühwerk findet man das Motto verwirklicht, daß keine Stimme im Orchester einfach nur eine Verdopplung einer anderen sein dürfe - statt dessen sollen selbst die Nebenstimmen variierte Gestalten des Ausgangsmaterials sein (eine Maxime, die er mit seinem Freund und Schwager Alexander Zemlinsky teilt). Das führt zu einer enormen Komplexität der Partituren, die sich hörend nur zögerlich vermittelt (der Effekt ist freilich gewaltig: man spürt diesen in dieser Komplexität verborgenen Beziehungsreichtum unmittelbar, ohne ihn - ohne Blick in den Notentext - erklären zu können) - und bereitet den Weg in die Zwölftontechnik und die serielle Musik der Nachkriegszeit.
Leitmotiv
Das Verwendung von Leitmotiven zur Strukturierung gerade von Opern ist seit Richard Wagner (1813-1883) gängige Praxis; nahezu alle Opernkomponisten in seiner Nachfolge haben sie eingesetzt, um die riesigen Abläufe von manchmal mehr als vier Stunden so zu strukturieren, daß man sie auch beim ersten Hören als Einheit empfinden kann. Leitmotive werden idR unverändert wiederholt, und zwar nicht nur z.B. als bereits bekannte Melodie unter einer neuen Begleitung, sondern wörtlich, sogar unter Beibehaltung der Instrumentierung. Dabei sind sie oft ausgesprochen einfach aufgebaut, und manchmal eher ein Signal als ein Thema - gerade die Ring-Tetralogie ist voll von Trompetensignalen, kürzesten Versatzstücken mit sehr einfacher Harmonik, und rhythmisch einprägsamen Gestalten.
Leitmotive dienen nicht dazu, abstrakte bzw. „absolute” Musik zu entwickeln, sondern sind musikalische Stellvertreter: sie vertreten (bzw. assoziieren) eine der auftretenden Figuren, einen bestimmten Ort oder Gegenstand - oder sogar eine abstrakte Idee. Im »Ring« gibt es Motive für Siegfried, Brünhilde, und Wotan, für die Götterburg und die Unterwelt Alberichs, für Siegfrieds Schwert und sein Horn, aber auch für das Feuer und den Sturm (die hier allerdings gleichzeitig als Figuren - in Form von Göttern - auf der Bühne stehen). Im »Tristan« ist das schon komplizierter; hier finden sich Motive z.B. für die Todes- wie die Liebessehnsucht, oder die Einsamkeit und Leere.
Wenn ein Leitmotiv im Orchester auftaucht, kann dies schlicht das Geschehen auf der Bühne illustrieren oder hervorheben, und damit letztlich verdoppeln. Denkbar ist aber auch, daß schon eingeführte und mit einem bestimmten Element bereits fest assoziierte Motive als Kommentar des Orchesters zum Geschehen auf der Bühne dienen. Gerade letzteres hat einen großen Anteil an der Faszination, mit der man vor dem Werk Wagners steht; zuweilen übernimmt das Orchester in seinen Opern den Part des Chors in der antiken Tragödie, der mit seinen Beiträgen die Tiefenschicht des Dramas erst offenlegt. Gerade im »Tristan« finden sich zahlreiche Beispiele, wie durch das Zitieren von Leitmotiven das Orchester die Aussagen der Sänger geradezu konterkariert und einer Szene eine von den Worten losgelöste, ja diesen widersprechende Bedeutung verleiht.
Es zeigt sich, daß bei Wagner - und in den Opern, die nach ihm gewissermaßen in seinem Schatten entstanden - Musik dazu dient, den Fortgang des Dramas zu unterstützen. Ihre Form wird hier zu einer Funktion für etwas Anderes. Alle Wiederholungen der Leitmotive dienen erst in zweiter Linie dazu, einen musikalischen Zusammenhang zu konstituieren; in weit höherem Maß sind sie dazu da, die dramatische Idee zu untermalen, zu unterstützen, oder sogar, auf dem Höhepunkt des Gelingens, überhaupt erst hervorzubringen. Deshalb sind sie dennoch formale Elemente: sie sind dies sogar in solchem Maß, daß das Musikdrama sich von Aristoteles' Forderung nach der Einheit von Raum, Zeit und Handlung nahezu beliebig weit entfernen kann - die Erinnerungsbögen, die die Leitmotive schlagen, erweisen sich als stabiler als jeder Verstoß gegen alle Formen von (dramatischer) Logik.
Komplexität
Wenn musikalische Form sich durch die Erinnerung an etwas bereits zuvor Erklungenes konstituiert, stellt sich die Frage, was denn genau erinnert werden soll. Wiederholung und Variation können ja auf sehr unterschiedlichen Ebenen aufsetzen - es kann sich um einen kompletten Abschnitt, einen speziellen Rhythmus oder eine Melodie handeln, ja es ist sogar möglich, eine klangliche Struktur - die Ebene des „Sound” - so zu verwenden, daß sie formbildend wirkt. Man kann die Frage anders formulieren: wie gelingt es dem Hörer, die Grenzen zwischen musikalischen Ereignissen zu erkennen?
Wenn es sich um ein einfaches Formelement wie z.B. die Strophe in einem Lied handelt, muß man ihre Grenze zum Refrain erfassen, bevor man ihre Wiederkehr erkennen kann. Dies gelingt umso einfacher, je schärfer der Kontrast zwischen den Formelementen deutlich wird. Wenn z.B. in Rhythmik, Klangfarbe (Instrumentierung), und/oder Lautstärke ein deutlicher Unterschied oder sogar ein drastischer Bruch besteht, funktioniert die Abgrenzung problemlos.
Schwieriger wird es, wenn nur ein Teilaspekt verwendet wird, der sich später wiederholt. Wenn z.B. nur eine Melodie wiederkehrt, dies jedoch in einem neuen harmonischen Gewand oder in einer neuen instrumentalen Farbe, wird ein deutlich genaueres und differenzierteres Hinhören verlangt: der Hörer muß - ab einem bestimmten Punkt - in der Lage sein, analytisch die musikalischen Ebenen voneinander zu trennen, um ihre Wiederkehr als formbildend zu erleben. Wo ihm dies mißlingt, weil ihm z.B. Hörerfahrung oder Ausbildung fehlen, wird er die Zusammenhänge verfehlen und möglicherweise ratlos vor einem Werk stehen.
Dabei gibt es eine sehr tiefe Staffelung von immer komplexer „versteckten” musikalischen Ereignissen. Es bedarf z.B. großer Übung, um nicht nur Melodie und Akkordbewegung, sondern auch die Mittelstimmen in einem halbwegs komplexen Satz wirklich wahrzunehmen. Wenn sich in ihnen formale Zusammenhänge verbergen, steht ein Hörer, dem diese Übung fehlt, auf verlorenem Posten. Wenn es sich dann womöglich noch um Melodien handelt, die ohnehin schwer zu erinnern sind, kann es auch für einen ausgebildeten Musiker unmöglich werden, sich die Konstruktion ausschließlich durch das Hören zu erschließen - dort hilft dann nur ein Blick in den Notentext. - Ein Beispiel sind Schönbergs Orchestervariationen op.31: bereits in der ersten Variation ist die Melodie in den Holzbläsern versteckt - wobei hier 1) das gesamte Orchester spielt und das Holz nur Teil eines zusammengesetzten Klanges ist, 2) die Melodie aus einer sehr abstrakten Zwölftonfolge besteht, und 3) auch ihre Urform kaum zu erkennen ist, weil sie fast unkenntlich - weil ohne Kontraste - erst nach einer längeren Einleitung eingeführt wird.
In der Zwölftontechnik gibt es keinen Ton, der nicht in einem definierten Verhältnis zu allen anderen steht. Der Komponist hat zwar immer noch sehr große Freiheiten im Umgang mit dem Material - zumindest an die Abfolge der Töne ist er, hat er sich erst einmal auf eine der Permutationen der Reihe festgelegt, für die nächsten zwölf Töne gebunden. Trotz dieses hochgradig komplexen Beziehungsgeflechts kann man nicht automatisch davon ausgehen, daß die formale Organisation größer wird; dafür wäre das Ohr zuständig, und das ist völlig überfordert, die Gestalten der Reihen zu „entziffern”. - Tatsächlich sind es regelmäßig Maßnahmen, die außerhalb der Zwölftontechnik liegen oder sogar ihren ursprünglichen Intentionen widersprechen, die formale Ordnung in die Werke von Arnold Schönberg und seinen Schülern bringen.
Wenn man sich - um ein herausragendes Beispiel zu nehmen - das Violinkonzert von Alban Berg anhört, wird man zunächst nicht ohne weiteres darauf tippen, daß hier eine strenge Zwölftonkomposition vorliegt. Zum einen wird dort eine große Bandbreite unterschiedlicher musikalischer Charaktere ausgebreitet, die in z.T. scharfen Widerstreit zueinander stehen. So finden sich Tanzrhythmen neben einem Choralsatz, wild hochfahrende Gesten des gesamten Orchesters neben kammermusikalischen Stellen, in denen die Harfe eine tragende Rolle hat, etc. - Zum zweiten gibt es zahlreiche Passagen, in denen sich Anklänge an eine Dreiklangsharmonik finden, mit dem Höhepunkt im Zitat eines Bachschen Chorals. - Beide Punkte widersprechen letztlich der von Schönberg intendierten Gleichberechtigung jedes einzelnen Tons, ergeben aber eine Farbigkeit - und damit auch Kontraste -, die formale Blöcke leicht erkennbar machen.
Wenn man sich - auf der anderen Seite - Werke der seriellen Musik [1] anhört, in denen nicht nur die Ordnung der Töne, sondern sämtliche musikalischen Parameter (also auch Lautstärken, Spielweisen und Klangfarben etc.) in festen Folgen sortiert sind, wird deutlich, wohin zunehmende Determiniertheit in der Musik führt: ins Chaos. Das sage ich keineswegs, um die seriellen Verfahren ins Unrecht zu setzen, ganz im Gegenteil: in ihnen wird zuende geführt, was letztlich in jeder Musik angelegt ist. „Organisation” ist eine Kategorie, die dem Ohr nur bis zu einem gewissen Grad zugänglich ist - und selbst für die eher bescheidenden (im Vergleich zur seriellen Musik) Ansätze in einer Beethoven-Sonate braucht es eigens ausgebildete Hörer, damit sie unmittelbar erfahrbar wird.
Die formalen Strukturen, die der abendländischen Kunstmusik eigen sind, haben letztlich nichts „Natürliches”, wie ihre Verteidiger gerade aus dem kulturkonservativen Lager gerne behaupten, die mit mit dieser Argumentation sich dabei sowohl gegen die vorgebliche Primitivität der Popmusik wie gegen die Experimente der „Atonalen” wehren wollen. In dem Rückgriff der Popmusik auf sehr einfache formale Muster kann sich der Grundcharakter von Musik als „Kunst in der Zeit” mit gewisser Natürlichkeit entfalten, die der „Kunstmusik” letztlich komplett fehlt. Umgekehrt offenbart sich in der seriellen Musik - mit dem in sie eingebauten Umschlagen in die Beliebigkeit - eine Dialektik, die aller artifiziellen Musik letztlich innewohnt.[2]
- [1] Ein Glossar-Eintrag folgt - der Wikipedia-Artikel ist einen Link nicht wert.
- [2] Damit ist wieder kein Plädoyer für oder gegen eine bestimmte Musik verbunden. Ich bin ein klarer Verfechter der Ansicht, daß man Hören lernen muß, und zwar für eine adäquate Wahrnehmung jeder Musik. Dabei gehe ich sogar so weit zu behaupten, daß die Kenntnis der Notenschrift unabdingliche Voraussetzung ist, um irgendwann adäquat hören zu können (was würde man von einem Theaterliebhaber - oder gar einem Schauspieler - halten, der nicht lesen kann?). - Aber das ist jetzt nur eine These, die weiterer Begründung bedarf.
Ich probiere mal eine These, von der ich noch nicht weiß, wie weit sie trägt:
- Wenn ein Konzertpublikum bei einem Werk der Neuen Musik abschaltet und womöglich am Ende die Musiker auspfeift und -buht, liegt das nicht daran, daß scharfe Dissonanzen, extreme Spieltechniken o.ä. verwendet wurden. Das liegt daran, daß das Publikum die Wahrnehmung einer formalen Ordnung vermißt.
Diese Behauptung ließe sich allenfalls durch empirische Studien im Hörlabor nachweisen oder wiederlegen - ich habe hier keine Theorie, sondern nur einige Beobachtungen.
Man kann einem Publikum, das in einem den Werken von Haydn und Mozart verpflichteten Abonnementskonzert sitzt, ausnahmsweise auch eine Schostakowitsch-Symphonie zumuten, ohne daß dort dann allzu sehr geschimpft wird. Einerseits sind die Dissonanzen bei Schostakowitsch teilweise offener und schmerzhafter als in den Werken Schönbergs (wo sie ohne Ausnahme gründlichst durchgehört und haarfein ausbalanciert erscheinen). Auf der anderen Seite liegt aber die formale Gestaltung hier offen zutage - man kann die Einfälle und Motive gut erinnern, gerade weil sie streckenweise so dissonant sind. In einem Schönberg-Werk ist der musikalische Fluß in einem ständigen Übergang. Bei Schostakowitsch wird mit geradezu filmischen Mitteln montiert, was zu scharfen Kontrasten und damit geradezu verbildlichten formalen Blöcken führt. Auch wenn ein ungeübter Hörer seine Musik vielleicht nicht mag, so kann er sie doch verstehen und ihr zumindest mit einem gewissen Respekt begegnen.
Wenn man die Konzert- und Opernskandale ansieht, die die Entstehung der Neuen Musik in den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts begleiteten, kommt man immer wieder zu dem Punkt, daß eine neue, zuvor unbekannte formale Gestaltung das Publikum zum lautstarken Aufbegehren brachte. Schönbergs zweites Streichquartett ist über weite Strecken noch reine Spätromantik - allein die Tatsache, daß in den letzten beiden Sätzen eine Gesangsstimme hinzutritt, hat das Publikum in einen tumultösen Protest geführt[1]. Alban Bergs Lieder nach Postkartentexten Altenbergs haben nicht durch ihre Verwendung von freier Atonalität für einen handfesten Skandal gesorgt, sondern durch ihre zuvor völlig ungekannten Kürze. - Als Gegenbeispiel kann man Richard Strauss' Oper »Salome« anführen: trotz ihrer teilweise atemberaubenden Kühnheit gerade in der Harmonik wurde sie ein Kassenschlager, dem Strauss seinen Ruhm wie seinen Reichtum verdankt.
Ein anderes, wohl deutlich beeindruckenderes Beispiel findet sich in der Wahrnehmung von Filmmusik. Die meisten Menschen nehmen sie kaum bewußt wahr und bemerken es höchstens, wenn sie plötzlich fehlt (es gibt gelegentlich Filme, die völlig auf Musik verzichten und dadurch eine höchst eigenartige und ungewohnte Atmosphäre von Kargheit und Ödnis erzeugen). Wenn man aber einmal bewußt zuhört, ist man häufig überrascht, welch extreme Experimente die Filmkomponisten anstellen - mit welch avancierten Mitteln sie gelegentlich arbeiten, ohne daß dies vom Publikum bestraft würde. Das liegt - um für die oben aufgestellten These Argumente zu sammeln - daran, daß die Bilder und die Schnitte ungemein dabei helfen, formale Zusammenhänge auf die Musik zu übertragen. Sie selber muß kaum eine erhörbare Struktur haben - der Film leiht ihr sozusagen seine formale Schicht.
György Ligetis Orchesterwerk »Atmosphères« kann jedermann problemlos „ertragen”, wenn es Kubriks »2001« unterlegt ist (obwohl es in der Eingangssequenz für mehrere Minuten die gesamte akustische Ebene des Films in Beschlag nimmt, ungestört von Geräuschen oder Dialogen). Wenn man es einem Hamburger Abonnements-Publikum der Konzertreihe am Sonntagvormittag zumutet, kommt es jedoch - immer noch - zu Hohn, Spott und Buhgerufe.
- [1] Gattung wie Form des Streichquartetts umwehte eine für heutige Zeiten kaum nachvollziehbare Aura der Heiligkeit - jede Veränderung an ihr wurde als Frevel empfunden und rigoros bestraft.
Worte
Ich bin der Meinung, daß es zwei Pole gibt, zwischen denen letztlich alle Versuche pendeln, formale Geschlossenheit zu stiften: man kann das musikalische Material so ordnen, daß aus ihm selbst heraus ein erkennbares Beziehungsgeflecht entsteht; oder man kann außermusikalische Mittel hinzuziehen, die bereits über eine eigene Struktur verfügen, die sie dann gewissermaßen der mit ihr verknüpften Musik „leihen”.
Letzteres geschieht überall dort, wo Musik mit dem Wort verbunden wird. - Dabei bilden Lied und Oper wieder zwei Pole, wenn man die Komplexität dieser Verbindung benennen will.
In den einfachen Liedformen, die sich im Wesentlichen auf Strophe und Refrain beschränken, die stets unverändert wiederholt werden, ist die Funktion des Textes noch ohne Bedeutung, da die musikalische Form auch ohne Worte verstanden werden kann - Musik und Text existieren hier noch ohne Bezug nebeneinander. Ähnliches gilt für die Opernarie. In ihr kommt dem Text sogar eine untergeordnete Rolle zu, weil Worte wiederholt werden können und eine Silbe sich auf mehrere Noten verteilen läßt, so daß der Text schließlich nur noch zu einem Vehikel für die Melodie des Sängers wird.
Anders sieht es aus, wenn man sich bei den „durchkomponierten Liedern” umschaut, beispielsweise bei Franz Schuberts Vertonung des »Erlkönig«: hier zeigt sich die Musik als ständiger Strom aus einem immer neu variierten Grundmotiv, in der nichts mehr wiederholt wird. Die Musik wird letztlich befreit, weil sie für die formale Ordnung nicht länger zuständig ist - der Komponist kann darauf vertrauen, daß das dem Lied zugrunde liegende Gedicht dem Hörer den Weg weist.
Ähnliches gilt für das Rezitativ in der Oper: hier geht es nur darum, dem Publikum den Text möglichst verständlich vorzutragen, wird im Rezitativ doch das dramatische Geschehen vorangetrieben. Jeder Silbe entspricht genau eine Note; der Gesang folgt den Hebungen und Senkungen des gesprochenen Wortes und verzichtet auf eine eigene musikalische Gestalt.
Die Darstellung oben ist eine starke Vereinfachung der realen Verhältnisse; ich glaube aber, daß sie durchaus dazu taugt, einige Anker zu werfen, an denen man sich festhalten kann. - Auf der einen Seite findet sich danach ein beliebiges Nebeneinander von Wort und Musik, auf dem anderen Extrem eine deutliche Vormacht des Worts. Demnach - und das ist eine recht erstaunliche Behauptung - gibt es aber keine Verbindung zwischen Text und Musik, bei der die musikalische Ebene das Übergewicht gewinnt. Dies gilt selbst dann, wenn man sich die komplexeste Verflechtung ansieht, die diesbezüglich existiert - in den Opern Richard Wagners und seiner Nachfolger.
Bekanntlich schafft Wagner die Dualität zwischen Rezitativ und Arie ab[1], die seit Claudio Monteverdis »Orfeo« im Zentrum jeder Oper stand. Ihm schwebt das Ideal einer „unendlichen Melodie” vor, in der ein kompletter Opernakt zu einem ununterbrochenen Fluß verschmilzt - womit er damit nichts anderes als die Sehnsucht nach einer unbedingten Einheit der musikalischen Form beschreibt. Trotzdem existiert hier - in der Praxis des Wagnerschen Opernschaffens - die Musik letztlich nur neben dem Text, und zwar auf einer Ebene, von der aus sie das dramatische Geschehen auf der Bühne kommentiert und deutet - und auf der das Orchester fast zur eigenen Bühnengestalt avanciert. Das heißt: trotz allem Beziehungsreichtums, den die Leitmotive in diese Musik bringen, ist es letztlich die dramatische Gestaltung, die die Form bestimmt.
Am Drama nimmt die Musik zwar teil - aber sie treibt es nicht voran. Das tut allein das Wort.[2]
- [1] Zumindest behauptet er dies - in der Praxis sieht das gelegentlich ganz anders aus.
- [2] Vielleicht findet sich eine - eine einzige - Ausnahme von dieser These. Das wäre der »Tristan« - und dies würde auch die Faszination erklären, die bis heute ungebrochen von ihm ausgeht.
Programme
Auch in der Instrumentalmusik finden sich Ansätze, außermusikalische Ideen formbildend in Szene zu setzen.
Dies beginnt mit der Imitation von akustischen Ereignissen, von Vogelstimmen etwa oder dem Rauschen eines Bachs. Imitation hat eine lange Tradition; sie findet sich in sämtlichen Epochen der Musikgeschichte, seit es Notenschrift gibt, und taucht auch in aktueller Musik („Pop” wie „Kunstmusik”) immer wieder auf.
Dem verwandt ist das - ähnlich weit verbreitete - Zitat. Dabei wird Musik - oder ein Element oder Teilbereich - zitiert, die einem bestimmten Funktionszusammenhang entstammt und mit diesem eine assoziative Verbindung herstellt, ein Marsch- oder Tanzrhythmus etwa, oder auch der abstrakte Gestus eines Ragtime (in Karl Amadeus Hartmanns 1. Sinfonie).
Drittens findet sich der Versuch, Analogien zwischen Außenwelt und Musik zu bilden. Wenn die Musik sich wild bewegt, kann dieses „wild bewegte” weg von der Musik führen und auf etwas anderes „zeigen”, eine wild bewegte Menschenmasse etwa (Bach, Matthäus-Passion). Haydn führt in der Einleitung zur »Schöpfung« die Welt im ursprünglichen Chaos vor, indem er eine völlig chaotische Harmonik verwendet. Mahler assoziiert den Schlag auf ein Perkussionsinstrument mit einem Schicksalsschlag (s.u.).
Der letzte - und wichtigste - Punkt findet sich in dem Versuch, ein außermusikalisches Programm zu verwenden, dem die musikalische Form dann folgt. Dieses Programm kann eine konkrete Begebenheit sein, Landleben etwa, über das ein Gewitter hinwegzieht (Beethovens 6.Sinfonie), Figuren eines Dramas, die zueinander in Beziehung gesetzt werden (Liszts »Faust«-Sinfonie), oder ein mit musikalischen Mitteln komplett nacherzähltes Drama (Schönbergs »Pelleas und Melisande«).
Die Imitation ist hier noch jene Form, die sich meistens problemlos und eindeutig zuzuordnen läßt. - Das Zitat ist schon an eine äußerliche Voraussetzung gebunden: man muß das Zitierte wie auch den Zusammenhang, in dem es üblicherweise erscheint, kennen - und beides ist von dem gesellschaftlichen Hintergrund abhängig, dem es entnommen wurde. Wenn Igor Strawinsky Zirkusmusik zitiert, wird es einem Hörer des 21.Jh., der mit einiger Wahrscheinlichkeit noch nie im Zirkus war, nur schwer möglich, die Anspielung ohne weiteres zu verstehen. - Analogien sind noch schwerer zu erkennen: in dem Haydn-Beispiel muß man sehr vertraut mit den Spielregeln sein, die damals für einen Komponisten galten, um erkennen zu können, daß Haydn hier diametral gegen sie verstößt.
Äußerst schwach schließlich ist die Gravitation, die ein außermusikalisches Programm auf die mit ihm verknüpfte Musik ausübt. Der Hörer muß, um die Verbindung nachzuvollziehen, nicht nur das Programm kennen, sondern auch noch die musikalischen Modelle entziffern, die eine Art abstrakte Analogie zu dessen Elementen bilden. Wenn man Schönbergs »Pelleas« hört, muß man nicht nur wissen, daß das Drama drei Hauptfiguren hat, die in einen Konflikt zueinander geraten, der schließlich für die weibliche Protagonistin tödlich endet; man muß auch herausfiltern, welche Leitmotive für welche Person stehen - und schließlich noch den Geistesblitz haben, daß im Tod der Frau keines der Leitmotive verwendet wird, weil die Musik ja ein „Verlöschen” darstellen will. Man muß letztlich eine komplette Analyse sowohl des Programms wie auch seines konkreten Niederschlags in den musikalischen Gestalten betreiben, bevor man dieses Werk hörend nachvollziehen - „verstehen” - kann.
Die Form der „Sinfonischen Dichtung” spielt seit den 30er Jahren des 19.Jh. eine immer gewichtigere Rolle. Franz Liszt und Richard Strauss haben ihre Orchesterwerke ausschließlich dieser Form gewidmet, im Frühwerk von Arnold Schönberg und Alexander Zemlinsky war es geradezu eine Selbstverständlichkeit, hier anzuknüpfen - und selbst Gustav Mahler hat lange gezaudert und mit diesen Ideen gespielt, bevor er das prinzipielle Problem erkannte.
In der Entstehungsgeschichte von Mahlers dritter Sinfonie kann man ablesen, wie ein Formprinzip, das für seine Generation selbstverständlich gegeben war, in Verruf geriet: die ursprünglichen programmatischen Titel wurden noch vor der Drucklegung zurückgezogen, weil Mahler zugeben mußte, daß es durchaus Alternativen zu den Überschriften geben könnte - daß das Programm letztlich beliebig ist.
Trotzdem greift Mahler auch später immer wieder auf programmatische Ideen zurück. Im Verlauf des letzten Satzes der 6. Sinfonie gibt es drei mächtige „Schläge” von einem eigens konstruierten Schlaginstrument, die Schicksalsschläge vorstellen sollen, an denen der Held zuletzt zugrunde geht. Dabei ist der letzte Schlag vergleichsweise leise - zum Schluß braucht es nicht mehr viel, um den letzte Widerstand der Hauptgestalt zu brechen. Bei der Uraufführung hat Richard Strauss verwundert gefragt, warum da denn so eklatant gegen den Geist des dramatischen Aufbaus verstoßen werde, der doch eine stetige Steigerung bis zum Ende fordert. Alma Mahler schreibt in ihren Memoiren, Strauss habe dieses Werk „nicht verstanden”. Das hat er wohl wirklich nicht - wie auch.