Gefühl und Gestus

Zehn vorläufige Thesen


Man weiß ja: Moll ist traurig, und ein langsames Tempo suggeriert Stillstand, so daß ein Adagio in Moll als "Trauermarsch" wirkt. Weiß dies wirklich jeder Mensch, unabhängig vom historischen Standpunkt und vom individuellen Wissen um die Sache? Ist dies gewissermaßen ein überindividuelles, interkulturelles Wissen?

Wohl kaum.


  • Jede Zeit hat ihre eigenen musikalischen Formeln. Im Barock "bedeutet" die Figurenlehre: Stimmkreuzungen versinnbildlichen das Kreuz Chriti, im "Passus duriusculus", einer chromatische Folge von Tönen, soll das Abweichen von der musikalischen (diatonischen) mit jener von der göttlichen Ordnung assoziiert werden. Beethoven setzt Tonarten mit außermusikalischen Dingen in Eins: C-moll ist die hehre Trauer Leonores, Fis-moll versinnbildlicht Don Pirastros Gewaltherrschaft. Usf.
  • Jede Zeit kennt ihre eigenen Chiffren - und nur diese. Deshalb ist es nahezu unmöglich, Beethoven oder Verdi "zu verstehen".
  • Es ist ein großer Irrtum, wenn man animmt, daß Künstler "sich selber" ausdrücken wollen - diese Idee entstammt der Romantik, war vorher völlig unbekannt, danach - durch die Auswüchse des Geniekults, der im Dritten Reich seine Hypostase fand - in Veruf geraten. Kunst will wahr sein.
  • Schönheit hat nichts zu tun mit Trauer, Wut, Heiterkeit, Begehren, usf.: sie ist kein Begriff, der sich mit Termini der Psychologie abbilden ließe. Natur ist schön; Menschen, sofern man deren Schnittmenge mit Natur betrachtet - also als etwas ihr Äußeres - können schön sein. Gefühle hingegen spielen sich im Inneren eines Subjekts ab und unterliegen Kategorien wie gut oder böse, richtig oder falsch; man kann sie aber keineswegs ästhetisch fassen und mit schön oder häßlich bezeichnen..
  • In Schopenhauers Ästhetik kommt der Musik eine Sonderstellung zu: "Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen", sondern sie ist ein Abbild des Dings an sich, eine Verkörperung jenes metaphyischen Urgrunds, den auch unsere Welt verkörpert. Wie uns die Welt erscheint, so auch die Musik: beides ist Ausdruck des Absoluten, beides entspringt dem gleichen Grund: "deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen". Schopenhauer vergißt zu erwähnen, daß diese Wirkung erkauft wird durch eine riesige Distanz zwischen dem Subjekt (das der Welt angehört) und der Musik (die eben nicht der Welt angehört, sondern einer völlig eigenen, neben - bzw. "über" - der Welt stehenden Sphäre).
  • Wenn ich beim Hören von Musik die Fassung verliere und untröstbar weine, so liegt das daran, daß selbst Musik (eine Kunst, die gelegentlich meine Seele ergreift) mein Dasein in der Welt paraphrasiert, statt es zu malen. - Mit anderen Worten: Musik durchbricht gelegentlich den Abstand zwischen ihr und mir, verläßt ihre Warte der "Erhabenheit" und tritt mir direkt und unmittelbar gegenüber, fast, als würde sie einen Fehler machen, fast, als würde sie einen Begriff wie "Gnade" kennen. Ich versuche, das genauer zu fassen.
  • Musik ist kein Spiegel meiner Seele, sondern sie steht für sich: sie spiegelt die Welt.
  • In der menschlichen Stimme tritt dem Hörer etwas gegenüber, das er kennt - das ihm aber gleichzeitig fremd ist, weil es einer völlig anderen Welt angehört, obwohl es in Menschenworten zu sprechen scheint. Er glaubt, er werde aus jener Fremde angesprochen - er glaubt, das menschliche Dasein sei letztlich doch aufgehoben in der Welt der Töne, weil ja eine Menschenstimme aus jener Welt hinüberweht. - In meiner persönlichen Erfahrung geht das so weit, daß mir - als Mann - Frauenstimmen besonders nahe gehen, als besonders eindringliches Herüberwehen der Erinnerung an die Geliebte, die Mutter.
  • Ideales Hören wäre: nur hören, sonst nichts. Stille sein.
  • Nur Hören: eine Illusion. Normalerweise kämpft man mit Bildern, Gedanken, Assoziationen, Farben, usf.: mit Analogien, die ein musikalischer Kontext im Kopf hervorschießen läßt. Hohe Geigen ohne funktionsharmonischen Zusammenhang (Lohengrin-Vorspiel): weihevoll, Gral, emporgehoben, blau. Papapa-daa (Beethovens Fünfte): Schicksal, womöglich klopft der Tod an: Bangen, Grausen, schwarz.
  • Was würde passieren, könnte man seine Aufmerksamkeit vollständig auf die Textur aus Zeit richten, die Musik vor uns entblößt? Was geschähe, wenn es keine "schönen Stellen" gäbe; wenn jeder Moment nichts wäre als ein Moment; jeder Pinselstrich im Gemälde des Ablaufs gleichviel bedeutete? Könnte man da noch Atem holen beim Hören?