28.10.2013

Die Öffentlichkeit des Darknet

[…]

Die Bewegungssensoren Eurer Handies sind so smart, dass ihre Datenströme schon heute den Epidemiologen Aufschluss darüber geben, wann und wo die nächste Grippewelle losgeht. Du merkst nicht mal selbst, dass Du an diesem Montagmorgen anders als sonst durch die Straße schlurfst. Wen interessieren da noch Deine heimlichen Kreditkartenkäufe, die Sparraten, die verspäteten Unterhaltszahlungen?

[…]

(Hans Huett)

Ich versuche, das zu paraphrasieren: Wenn ich – technikverliebt – Texte aus dem 'net nicht mehr im Browser lese, sondern sie auf meinen E-Book-Reader hochlade, wird eine Handlung, die eigentlich nur meiner persönlichen Bequemlichkeit dienen soll, politisch. Amazon hält eine Liste all meiner Downloads auf mein Kindle permanent in der „Cloud“ – sprich: hält davon Kopien, die damit zu Rohmaterial für die Auswertung durch die NSA (etc.pp.) werden.

Ähnliches gilt für den Schnupfen, der dazu führt, daß ich ein wenig langsamer durch die Straßen gehe als sonst. Damit wird in der Auswertung meiner Bewegungen via des GPS in meinem Handy die Schlußfolgerung möglich, daß ich gerade mit einer Erkältung kämpfe (zumindest solche Folgerung kann man nicht(!) auf mich – als Individuum – beziehen, sondern „nur“ statistisch auswerten – was sie, für die Lauscher, nicht weniger wertvoll macht).

Der Raum von Privatheit wird immer weiter marginalisierten; damit werden alle individuellen Handlungen immer mehr politisiert. Das war für marxistische Theoretiker aller Couleur bisher nur eine kühne Behauptung, und gleichzeitig eine Utopie für eine bessere Welt. (Es kam ganz anders, obwohl es genauso geschah – mit der Politisierung; nicht mit der besseren Welt).

Neu ist, daß das politische System (zu dem ich die Geheimdienste zähle) die Dokumentation von persönlichen Beziehungen automatisiert abgreifen kann (Kontaktinformationen zB. – mE. muß man ein Facebook-Konto mit +100 wiederum einigermaßen umfassend verknüpften „Facebook-Friends“ haben, um abschätzen zu können, auf welche Fährten das führen kann).

Der verborgene technische Apparat (den Edward Snowdens Enthüllungen ans Tageslicht zerren, bzw. womit zumindest ein erster Versuch in diese Richtung geschieht) transferiert sie in ein Darknet, das keiner öffentlichen Kontrolle untersteht. Das ist dann die eigentliche Pointe: der Transfer von Privatheit in die Öffentlichkeit landet in einer Sphäre, die undurchschaubarer gar nicht sein kann.


Nachtrag:

Selbst renommierte IT-Sicherheitsexperten wie Bruce Schneier kommen mittlerweile zur Einsicht, daß man das Problem nicht mit technischen Mitteln in den Griff bekommt:

Das Internet ist für unser Leben unerlässlich geworden, und es wurde zu einer gigantischen Überwachungsplattform zersetzt. Lösungen dafür können nur politisch sein. Der beste Rat für den Durchschnittsmenschen ist, für politischen Wandel einzutreten.

(Bruce Schneier im Interview mit TR).


Nachtrag 2:

Hans Huetts Rede von der „kopernikanischen Wende“ ist (wenn ich hier richtig liege) eine Anspielung auf Kants Programm, formuliert in der Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft”:

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.

Es ist mE. keineswegs eine Übertreibung, wenn man die Verschiebungen im Entstehen von Erkenntnis, nach den Enthüllungen von Edward Snowden, als ähnlich radikale Wende beschreibt.

Bevor man diese Verschiebungen bewerten kann, führt allerdings kein Weg daran vorbei, zumindest rudimentär zu verstehen, wie Computeralgorithmen funktionieren.


Nachtrag 3:

Hans Huett: Sichergestellt. (Crosspost bei Carta).

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