Staatsverschudung: Verrechnet!

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Der Aufsatz Growth in a Time of Debt [von Reinhard/Rogoff] avanciert zu einer der einflussreichsten wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte. Nun, da die Zahl die wohltemperierte Welt der Wissenschaft verlassen hat, ist sie in die Hitze des politischen und medialen Betriebs geraten. Zeitungen bezeichnen Reinhart und Rogoff als "Leuchttürme der Krisenanalyse", von der "kritischen Rogoff-Marke" ist die Rede, von Rogoff, dem "Krisenversteher", von der "Maginot-Linie" der 90 Prozent.

Alle leiten aus der Studie dasselbe ab: Sparen, sparen, sparen!

An dieser Stelle des Schauspiels wird es voll auf der Bühne. Bekannte Gesichter treten auf. Peer Steinbrück, damals noch nicht SPD-Kanzlerkandidat, sondern scheinbar am Ende seiner Karriere, sagt in einem Zeitungsinterview: "Staatsschulden erdrosseln alles. Eine Untersuchung der US-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff zeigt, dass Staaten mit einer Verschuldungsquote von oberhalb 90 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ihr Wachstumspotenzial eher abwürgen."

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[Thomas] Herndon [Student in Amherst, Massachusetts] geht erneut die Tabellen durch, es bleibt, wie es ist. Vergessene Zahlen, Klickfehler. Später wird eine Zeitung schreiben, das Computerprogramm Excel verleite geradezu zu solchen Schludrigkeiten. Weil alles so einfach aussehe, sei die Verlockung groß, auf eine strenge Kontrolle zu verzichten.

Schon vor dem Fall Reinhart und Rogoff mussten mehrere Finanzunternehmen ihre Bilanzen wegen Excel-Fehlern korrigieren. Bei einem Investmentfonds vergaß ein Rechnungsprüfer ein Minuszeichen, als er Daten von einem Excel-Rechenblatt auf das andere übertrug – schon war der Wert um Milliarden Dollar gewachsen.

Am 17. April 2013 erscheint in der Financial Times ein Artikel, geschrieben von Thomas Herndons Professor und einem weiteren Ökonomen der Universität. Sie listen Rogoffs und Reinharts Fehler auf. Dann erläutern sie, was passiert, wenn man die Versäumnisse korrigiert: Die Zahl 90 verschwindet. Es gibt keine 90-Prozent-Schwelle mehr. Zwar ist in Ländern mit sehr hohen Staatsschulden das Wirtschaftswachstum tatsächlich etwas niedriger, aber der Unterschied ist zu gering, um eine eindeutige Aussage abzuleiten, außer dieser: Staatsschulden sind manchmal gefährlich und manchmal nicht. Bevor man ein Land zu massiven Sparmaßnahmen zwingt, sollte man lieber etwas genauer hinschauen.

(Aus einem langen, aber unbedingt lesenswerten Artikel in der ZEIT.)

Der zugrunde liegende Sachverhalt ist nicht mehr ganz neu. Was mich dazu bringt, auf ihn noch einmal (mit einem langen Zitat) zurückzukommen, sind zwei Aspekte:

  • Eine gut geschriebene Story, so wie die oben verlinkte, macht komplizierte Sachverhalte um Längen besser klar, als jede wissenschaftlich „korrekte” theoretische Darstellung.
  • Der These, daß es etwas wie eine zentral gesteuerte "Meinungsmache" gewisser Medien gibt, gehört zwar nicht unbedingt zu den Verschwörungstheorien. Zur Erklärung der Komplexität beim Zustandekommen von unterkomplexen, dabei mehrheitsfähigen Weltbildern trägt sie jedoch nicht wirklich bei. Sie verhindert sogar den Blick auf das, was gesellschaftliche Prozesse tatsächlich befeuert (das sind: die Herrschaftsverhältnisse in der Spannung zwischen Politik, Ökonomie, und Ideologie; letzteres auch oft abgelegt unter dem Label „Wissenschaftsbetrieb”).