25.8.2012

Stephan Schulmeister: Realkapitalismus vs. Finanzkapitalismus

Wenn man akzeptiert, dass es im Kapitalismus sozusagen eine Kernenergie gibt, und das ist nun einmal das Profitstreben, dann kann man zwei Spielanordnungen unterscheiden: Eine, in der sich diese Kernenergie nur in realwirtschaftlichen Aktivitäten entladen kann, wo also das Profitstreben die Turbinen der Realwirtschaft antreibt. Das ist eine Spielanordnung, in der aus Geld (selbstreferentiell) mehr Geld machen systematisch verhindert wird.

Wenn wir noch einmal zurückdenken an die Welt der 1950er, 1960er Jahre bei uns, dann gab es feste Wechselkurse, Zinssätze unter der Wachstumsrate, schlafende Aktienbörsen, keine Finanzderivate, stabile Rohstoffpreise. Wenn ich das alles zusammen nehme, ist die Aussage simpel: Wer Profit machen wollte, musste in die Realwirtschaft gehen. Und das ist auch passiert. Denn das Kapital ist ein flexibles Wesen, das den Profit dort sucht, wo er am höchsten ist. Diese Art von Kapitalismus nenne ich Realkapitalismus.

Den Gegensatz dazu bildet der Finanzkapitalismus der vergangenen vierzig Jahre, wo sich das Profitstreben auf Finanzanlagen und Spekulation verlagert, nach dem Motto: Lassen wir unser Geld arbeiten! Und der so genannte lange Zyklus in der Wirtschaftsentwicklung ist für mich die Abfolge dieser beiden Spielanordnungen oder Erscheinungsformen von Kapitalismus.

Um etwas weiter auszuholen: Finanzspekulation führte in der Gründerzeit zum Börsenkrach 1873. Es folgten zwanzig Jahre depressive Wirtschaftsentwicklung. Die soziale Frage wird in dieser Situation immer dringender. Die Arbeiterbewegung formiert sich, wird immer stärker. Bismarck macht Zugeständnisse. Der Sozialstaat wird gegründet. Damit werden die Bedingungen erheblich stabilisiert. Gemeinsam mit dem Goldstandard führt das dann in die realkapitalistische Aufschwungsphase von 1895 bis 1914 („belle epoque“). Dann haben wir wieder den Finanzkapitalismus der 1920er Jahre, der in den großen Crash 1929 führt und in die nachfolgende Depression. Und wiederum wird aus der Depression gelernt, und es folgt der Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre. Die 1970er Jahre waren der Übergang zum Finanzkapitalismus. Die Krise der letzten fünf Jahre ist für mich nur das Ende einer Sackgasse. Das System bricht langsam zusammen, in Etappen, und die Eurokrise ist ein Teil dieses Prozesses. Aber noch immer besteht natürlich die Möglichkeit, ohne eine schwere Depression zu lernen. Allerdings zeigt die Geschichte leider, dass das Lernen meistens nur aus der schweren Krise heraus erfolgt. Deswegen bin ich persönlich eher pessimistisch, und ich sage, sagen wir mit einer Wahrscheinlichkeit von sechzig Prozent: Ich glaube wir werden eine Depression erleben.

(Stephan Schulmeister im Gespräch mit Thorsten Hild – das komplette (lange) Interview ist unbedingt lesenswert.)

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