28.12.2011

Wolfgang Streeck - privater Keynesianismus

Wolfgang Streeck gibt im Interview mit der ZEIT einen guten Ausblick auf eine Zukunft, in der das Scheitern der neoliberalen Deutungsmodelle allenfalls bedeutet, sie ein wenig anzupassen, um weiterzumachen wie zuvor.

ZEIT ONLINE: Für die neunziger Jahre sprechen Sie von "privatem Keynesianismus". Was meinen Sie damit?

Streeck: Die Kürzung der Staatsausgaben wurde ausgeglichen durch beispiellose neue Möglichkeiten für Bürger und Unternehmen, sich zu verschulden. Faktisch wurden öffentliche durch private Schulden ersetzt. Nicht der Staat nahm Kredite auf, um Bildung zu ermöglichen und Wohnraum zu schaffen, sondern die Bürger wurden ermuntert und de facto gezwungen, dies auf eigenes Risiko selber zu tun. Auch diese Strategie der Konfliktbewältigung hatte eine Zeit lang nur Gewinner: die Reichen blieben von höheren Steuern verschont und wurden immer reicher, die Armen konnten Häuser kaufen, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten und die ihnen als Ausgleich für die Kürzungen der Altersrente und als Sicherheit für Konsumentenkredite dienten, mit denen sie sich über ihre stagnierenden Reallöhne hinwegtrösten konnten. Bis zum Crash, 2008….

ZEIT ONLINE: Niemand hatte damit gerechnet!

Streeck: Nach 2008 mussten die Finanzwirtschaft durch Bail-out-Programme und die Realwirtschaft durch Konjunkturprogramme gerettet werden. Das ging nur, indem sich die Staaten erneut und in bisher ungekanntem Ausmaß verschuldeten. All die mühselig erreichten Konsolidierungserfolge der 1990er und 2000er Jahre waren damit hinfällig. Als Folge begannen nun dieselben Banken und Investment-Fonds, die gerade von den Staaten auf deren Kosten vor sich selbst gerettet worden waren, sich von neuem über die Rückzahlung ihrer Kredite Gedanken zu machen. Die Frage für sie ist, ob die Staaten ihre finanziellen Mittel in Zukunft dafür verwenden werden, demokratisch bewehrte Forderungen ihrer Bürger nach sozialem Ausgleich und sozialer Sicherheit zu bedienen oder zivilrechtlich begründete Ansprüche ihrer Kreditgeber auf Verzinsung und Rückzahlung ihrer Schulden. Darum geht es zur Zeit: um den alten Konflikt zwischen Marktgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit in historisch neuer und politisch zugespitzter Form.

Es zwingt mir fast ein Lächeln ab, dabei zuzusehen, wie ein kluger Kopf es schafft, Ursache und Wirkung miteinander zu vertauschen.

Nur zur Erinnerung: die Programme, mittels derer fast überall in der Welt fast jedermann Immobilien zu 110% finanziert bekam, selbst wenn er über keinerlei Sicherheiten verfügte, kam von den Banken, und hat mit öffentlichen Wohlfahrtsprogrammen nicht das Mindeste zu tun.

Die Banken haben danach die von ihnen gewährten Kredite in „Innovative Finanzprodukte” gebündelt und zu AAA-Ratings – die wiederum von privaten Institutionen erteilt wurden – weiter verkauft. Das ist die (unmittelbare) Ursache von 9/15 (dem Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15.9.2008), und nicht die sog. „Staatsschulden” (die das Resultat von verfehlter Steuerpolitik sind).

Die Staaten haben in genau einer Hinsicht versagt: sie haben, über lange Jahre, der Finanzwirtschaft einen Freibrief für ihr Tun verschafft.

Ich gehöre nicht in die Runde jener Experten, die genau nachweisen könnten, was alles falsch gelaufen ist, und ich habe nicht die Mittel, um Streeck im Detail zu widerlegen. Es ist aber offensichtlich, daß Streeck Propaganda verbreitet für ein „weiter so“; für eine Wirtschaftspolitik, die uns ins Schlamassel überhaupt erst geführt hat.

Dabei ist „Propaganda“ nicht das richtige Wort. Ich bin mir relativ sicher, daß Streeck von seinen Argumenten überzeugt ist und nicht etwa bezahlte „Meinungsmache“ betreibt. Die von ihm vertretene Logik ist nur dann widerlegbar, wenn man ein wenig tiefer einsteigt, und etwa einsieht, daß das jeweilige Bild von der Welt etwas mit den Interessen jener zu tun hat, die es vertreten – und unter „Interesse“ verstehe ich eben nicht den Versuch, unter der Matratze des eigenen Betts möglichst viele Geldscheine zu verstecken.

Ich verweise, einmal mehr, auf meine Notizen zum Konstruktivismus.

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