20.12.2011

Wulff als Watschenmann?

Die Medienkampagne gegen Christian Wulff wäre glaubwürdiger, wenn auch nur ansatzweise ein vergleichbarer Rechercheaufwand bei für die Menschen viel existenzielleren Fragen betrieben würde. Auch bei vielen politischen Entscheidungen des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten hätte man kritisch fragen können, welche Rolle dabei seine Unternehmer-Freundschaften spielten. Der Medienwirbel um ein relativ kleinförmiges Fehlverhalten ist eher ein Ablenkungsmanöver vom Versagen der Medien vor den viel komplexeren Problemen der derzeitigen dramatischen politischen Herausforderungen. Die Medienkampagne um Wulff ist ein Beispiel für die Personalisierung von Politik. Sie fördert die passive Zuschauerrolle der Bürgerinnen und Bürger, die sich auf das Herumnörgeln an Politikern beschränkt. Statt Teilhabe an der politischen Willensbildung sollen Köpfe rollen.

Wolfgang Lieb hätte hier ja nicht unrecht – ginge es denn um das Fehlverhalten eines Gewerkschaftsbosses, eines Firmeninhabers, oder selbst um das des amtierenden Bundeskanzlers. Wir sprechen hier aber über eine Institution, die qua Verfassung über den Institutionen steht; die nicht in das Alltagsgeschäft aus „Checks and Balances“ eingegliedert ist, und eben kein Rädchen im Getriebe der Gewaltenteilung sein soll.

Die Rolle des Bundespräsidenten ist es, das Getriebe gewissermaßen von oben zu betrachten und zu kommentieren. Eben deshalb ist mit dem Amt auch keine echte Macht verbunden, und eben deshalb macht es Sinn, ihn nicht durch allgemeine Wahlen zu legitimieren, sondern durch die Wahl von den Repräsentanten der repräsentativen Demokratie, von der Bundesversammlung.

Das ist ein sehr abstraktes Konzept, und es trifft momentan auf Vorwürfe an einen ganz konkreten Menschen.

Man kann sich jetzt natürlich hinstellen und sagen: was interessiert mich der ganze Quatsch an Verfassung und Gewaltenteilung, usf.: Wulff hat das getan, was jeder an seiner Stelle auch getan hätte – und er hat nicht einmal geltendes Recht verletzt (naja: ein wenig gebogen vielleicht, aber wer tut das nicht, zB. wenn es um die eigene Steuererklärung geht).

Das verkennt das grundlegende Problem.

Jeder tut und vertritt nur das, was für ihn selbst und seine Entourage hilfreich ist. Auf dieser Einsicht beruht das gesamte politische System unserer Tage, das die Lehre aus dieser sehr einfachen Einsicht gezogen hat. Der, der die Gesetze schreibt, muß sie durch ein System aus unabhängigen Richtern filtern, und besorgt auch ihre Durchsetzung nicht selber, sondern überläßt dies der Polizei.

Das ist langweilig (und das System öffnet für Mißbrauch an allen möglichen Stellen Tür und Tor). Trotzdem ist es eine Idiotie, sich eine Zeit zu ersehnen, wo diese Kontrollmechanismen komplett ausgehebelt sind. Was danach kommt, kann man sich in den „Failed Cities“ rund um den Globus ansehen.

Ein Bundespräsident, dem nachgewiesen wurde, daß er aus Amtsgeschäften Vorteile gezogen hat, ist für seinen durch die Verfassung definierten Auftrag untragbar, und muß zurücktreten. Das ist der Kern der Debatte. Man kann sagen: was schert mich die Verfassung, wenn man ihn verteidigen will.


(Hans Huett faßt den Standpunkt von W.Lieb et al. treffend zusammen: „Biedermeier 2.0. Sein Hauptmerkmal: Es ist alles scheißegal, solange die Ungemütlichkeit erhalten bleibt, mit der man sich irgendwie arrangiert hat.”)

Nachtrag: Huett wirft in die wirklich spannende Diskussion (wenn man es denn gelernt hat, die Spinner wegzuscrollen) eine einfache Frage: „Eine denkbar einfache Frage an die Runde: Seit wann ist die Forderung danach, geltendes Recht zu wahren, eine moralische? Was sagt das über den Begriff der Moral?”

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