2.9.2010

Pandoras Büchse – zur Debatte um die Debatte um Thilo Sarrazin.

Frank Schirrmacher hat in der FAZ auf die kruden Thesen von Thilo Sarrazin geantwortet, und durchaus zentrale Punkte der Kritik benannt:

Öffentliche Debatten werden immer dann riskant, wenn Korrelationen zu Kausalitäten gemacht werden. Sarrazin behauptet Kausalitäten, und wer so verfährt, muss mehr zur Verfügung stellen als eine Ableitung aus den Korrelationen einer Statistik. Es spricht vieles dafür, dass es Sarrazin in Wahrheit um die Herstellung einer neuen politischen Moral geht. Sie ist aber selbst nicht moralisch, sondern kommt als „Naturgesetz“ daher. Nichts verhindert die Klugheit einer Gesellschaft mehr als Biologismus – nicht nur weil er falsch ist, sondern weil er den Menschen das Gefühl gibt, festgelegt zu sein und weil er anderen die Macht gibt, sie festzulegen.

(Quelle)

So verlinkt das Zitat auch Frank Luebberding, und nimmt es als Beleg für seine durchaus beachtenswerte Einordnung der Debatte über Sarrazins verbale Brandstifteier.

Was er komplett ausblendet, ist, daß Schirrmachers Text versucht, grundsätzliche Skepsis am wissenschaftlichen Blick auf die Welt zu wecken. Schirrmacher weiter:

Der schnelle Leser wird die These von der angeblichen überproportionalen Vermehrung der Dummen und den Hinweis auf Darwin im besten Fall als These zur Kenntnis nehmen. Ganz anders aber würde er hier aufmerken, wenn er wüsste – und das verschweigt Sarrazin ihm –, wie Darwin diesen Prozess nennt: „Es ist überraschend, wie schnell eine unrecht geleitete Sorgfalt zur Entartung einer domestizierten Rasse führt. Doch abgesehen vom Fall des Menschen ist niemand so töricht, seine schlechtesten Tiere zur Zucht zuzulassen“.

Hier wird mal eben die Gelegenheit wahrgenommen, Darwins Theorie als „Wissenschaft von Gestern“ zu desavouieren – als wenn man Darwin für seine Rezeptionsgeschichte (nicht zuletzt die Theorie der Eugenik) verantwortlich machen könnte. Schirrmacher verbindet seine (eigentlich sehr angebrachte) Kritik an jenen, die die Wissenschaft von gestern wieder aufleben lassen wollen (aus welchen Gründen auch immer), mit dem Versuch, gewissermaßen durch die Hintertür die Wissenschaften prinzipiell in Frage zu stellen. Dabei stellt er sich auf einen Standpunkt, der nicht nur wissenschaftsfeindlich, sondern letztlich auch bar jedes Verständnisses von Geschichte ist.

Ich finde es zunehmend frustrierend, im Netz keinen Platz mehr zu finden, wo man über solche – doch wohl offensichtlich auf der Hand liegende – Zusammenhänge diskutieren könnte.


Nachtrag: Die SZ dokumentiert noch das Versagen der gebildeten Stände im Umgang mit dem alltäglichen Rassismus:

Jahre nach der Begegnung mit Sarrazin habe ich das Buch gelesen und war insbesondere von Kapitel 27 fasziniert: "Evolution im Mittelalter: Wie die aschkenasischen Juden zu ihrem Intellekt kamen". Darin legen Cochran und Harpending dar, wie soziokulturelle Umstände, namentlich die Tatsache, dass den Juden im Europa des frühen Mittelalters der Zugang zu den meisten Handwerkszünften verwehrt war, die Konzentration auf ihre intellektuellen Fähigkeiten stimuliert habe.

Da die Juden in hohem Maße innerhalb der eigenen Gruppe heirateten, sei es zu einem natürlichen Selektionsprozess gekommen, der zu einem Anstieg der intellektuellen Leistungen führte. Bei Intelligenztests schnitten aschkenasische Juden im Durchschnitt zehn Punkte über dem Mittelwert von 100 ab.

Solche Texte finden heute statt – und ihr Autor hat ein Publikum.

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