20.8.2010

Kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen, Flickwerk

Oskar Negt: Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer Zwischenwelt der Ratlosigkeit. Die Probleme unserer Arbeitsgesellschaft spitzen sich derart krisenhaft zu, dass der innere Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr gesichert scheint. In dieser brisanten Lage zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht müsste die gesellschaftliche Phantasie eigentlich alle Kräfte darauf konzentrieren, Auswege zu suchen und zu finden. Stattdessen bildet sich eine zwiespältige Wirklichkeit, eine Aufteilung von Wirklichkeitsschichten.

SPIEGEL: Sind Sie da nicht arg alarmistisch? Die Demokratie ist doch nicht in Gefahr, die Institutionen funktionieren, die Politik ist sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst.

Negt: Das sind ja keine richtigen Reformen, sondern bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung oder mit der Domestizierung des Kapitalismus durch den Sozialstaat bei der Gründung der Bundesrepublik!

(Quelle)

Von den Nachdenkseiten wird das Spiegel-Interview ebenfalls zitiert – Wolfgang Lieb kommentiert:

Völlig unverständlich ist, wie Negt etwa die Agenda-„Reformen“ „bestenfalls“ als „kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt“ bezeichnen kann.

Die Agenda-„Reformen“[1] sind aus Liebs Blickwinkel offenbar derart bedeutend für den Verlauf der Geschichte, daß er jemandem mit „Unverständnis“ begegnet, der ein intaktes Sensorium dafür bewahrt hat, was man als historische Zäsur bezeichnen kann, und was nicht. Negt mag die von ihm erwähnten Ereignisse nicht so recht mit den Einschnitten der Schröder-Regierung vergleichen: das macht seinen Standpunkt dann „völlig unverständlich“ - ganz wunderbar (mehr fällt mir zu diesem mir komplett unverständlichen „Unverständlich“ gerade auch nicht ein.)

  1. [1] An den Tüddelchen habe ich nicht das Mindeste auszusetzen.
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