24.6.2010

Howard Zinn - Eine Geschichte des amerikanischen Volkes

Howard Zinn zitiert Bernard Bailyn, der die herrschende und weitgehend unumstrittene Sicht der Historiker auf die amerikanische Revolution und die Leistung der Gründerväter wiedergibt:

Jeder Mensch kannte die grundlegenden Bausteine für eine kluge und gerechte Regierungsform. Es ging darum, die widersprechenden Kräfte in der Gesellschaft so auszubalancieren, dass keine Kraft die andere überwältigen und, unüberprüft, die Freiheiten zerstören konnte, die allen zustanden. Das Problem war, die Regierungsinstitutionen so anzuordnen, dass man diese Balance erreichen konnte.

Auf den ersten Blick war dies tatsächlich das Anliegen der Männer um George Washington – der Mythos der westlichen Demokratie als bestmöglicher Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt der staatlichen Ordnung stellt, beginnt mit der amerikanischen Unabhängigkeit und Verfassung, und lebt bis heute fort.

Howard Zinn hat hier freilich einen ganz anderen Blickwinkel:

Waren die Gründungsväter kluge und gerechte Männer, die versuchten, eine gute Balance zu finden? Tatsächlich wollten sie keine Balance finden, außer einer, die alles beließ, wie es war, eine Balance zwischen den dominierenden Kräften jener Zeit. Sie wollten ganz sicher kein Gleichgewicht zwischen Sklaven und Herren, Eigentumslosen und Eigentümern, Indianern und Weißen.

Zinn versucht, die Geschichte der USA aus der Sicht der Unterdrückten – der Armen, der Sklaven, der Indianer, und nicht zuletzt der Frauen – zu schreiben. Er tut dies nicht, um den moralischen Zeigefinger zu heben und nachträglich darüber zu entscheiden, wer Recht hatte, und wer nicht. Er versucht auch keine Belege für irgendeine politische Theorie zu finden – er gehört sicherlich zum linksliberalen politischen Spektrum in den USA, ohne jedoch auch nur ansatzweise in die Nähe von marxistischer Argumentation zu geraten (die „Linke” in den Staaten ist komplett anders gestrickt als ihr europäisches Gegenstück). Er selbst formuliert seine Sichtweise wie folgt:

Die Geschichte jedes Landes […] verbirgt bittere Interessenkonflikte […] zwischen Eroberern und Eroberten, Herren und Sklaven, Kapitalisten und Arbeitern, rassisch oder sexuell Dominierten und Dominierenden. Und in einer solchen Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es, wie Albert Camus gesagt hat, die Aufgabe der denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen.

Wenn man aus solch einer Perspektive versucht, die Geschichte der USA zu schreiben, kommt eine völlig andere Erzählung heraus als jene, die man so lange schon als bekannt voraussetzt. Sie ist eine zutiefst verschreckende Beschreibung einer Gesellschaft, die auf fortwährender Unterdrückung und Ausbeutung der breiten Bevölkerung beruhte, und in der der amerikanische Traum schon ganz zu Beginn die Vision einer wohlsituierten Minderheit war, die sich nur daran interessiert zeigte, ihre Privilegien zu sichern.

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