21.6.2010

„What is Living and What is Dead in Social Democracy?“ - von Tony Judt

Der Wohlfahrtsstaat hat bemerkenswerte Leistungen vollbracht, vor allem bei der Bekämpfung von Ungleichheit. Die Lücke zwischen Armen und Reichen […] schrumpfte in der Generation nach 1945 dramatisch. Im Laufe der Zeit schwand die Angst vor einer Wiederkehr extremistischer Politik. Die westlichen Industrienationen traten in eine friedvolle Ära des Wohlstands und der Sicherheit ein. […]

Das Paradoxon des Wohlfahrtsstaates […] bestand allerdings ganz einfach darin, dass ihre Anziehungskraft im Laufe der Zeit durch den eigenen Erfolg untergraben wurde. Die Generation, die sich noch an die dreißiger Jahre erinnerte, legte verständlicherweise größten Wert darauf, die Institutionen und Systeme der Besteuerung, der sozialen Dienstleistungen und der Daseinsvorsorge zu erhalten, die aus ihrer Sicht Bollwerke gegen die Rückkehr vergangener Schrecken bildeten. Aber schon die folgende Generation […] begann zu vergessen, warum die Sicherheiten des Wohlfahrtsstaates einmal als so erstrebenswert gegolten hatten.

Ich zitiere aus einem unbedingt lesenswerten Text von Tony Judt, der sehr nachdrücklich klarmacht, auf welchen historischen Erfahrungen die „Erfindung” der modernen Sozialsysteme überhaupt beruht. Man findet hier ein überzeugendes Plädoyer, warum es lohnt, für den Erhalt alter Errungenschaften zu kämpfen, obwohl diese keinesfalls perfekte Lösungen bieten, und trotzdem – gerade der sog. Mittelschicht – nicht unerhebliche finanzielle Opfer abverlangen. (Via NachDenkSeiten)

Es gibt eine Antwort von Hubertus Heil auf Tony Judts Text; Zitat:

Dabei sind wir Sozialdemokraten überall in Europa darauf angewiesen, dass mehr Menschen verstehen, wie kostbar und zugleich zerbrechlich unsere nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Form des Zusammenlebens ist. Das setzt historisches Wissen voraus – und die Einsicht, dass alle Vorstellungen von einer völlig anderen, perfekten Welt, ganz und gar illusorisch sind.

Das ist nun ganz und gar nicht das Resümee, das ich unter die Aufforderung, die gesellschaftlich-historischen Realitäten anzuerkennen, setzen würde. Wer sind wir, wenn wir jede Hoffnung für die Zukunft fahren lasse, und jede Perfektion in der Politik für eine idiotische Wunschvorstellung halten? Illusionisten? Oder doch eher - wenn wir alle Hoffnung fahren lassen und uns nur noch als Handlanger der bestehenden Ordnung begreifen - Zyniker, die nur eins im Sinn haben: eine Karriere in der Real Existierenden SPD, wie Hubertus Heil?

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