Die Konstruktion der Wirklichkeit (2)
Heinz von Förster listet einige Begriffe auf[1], und stellt die Frage, ob man es bei ihnen mit Entdeckungen oder vielmehr Erfindungen zu tun habe:
- Ordnung
- Zahlen
- Formeln
- Symmetrien
- Naturgesetze
- Gegenstände
- Taxonomien
Förster behauptet, daß ein Konstruktivist geneigt sei, sie tendenziell für Erfindungen zu halten. Dieser Definition zufolge gehöre ich ganz klar selber zum Verein – ich halte diese Begriffe ausnahmslos für Projektionen menschlichen Denkens, nicht jedoch für Entdeckungen, die objektiv in der Wirklichkeit existieren.
Die Nagelprobe kann man wohl machen, wenn man sich den Begriff „Naturgesetz” ansieht. Ist denn z.B. „Gravitation” nicht ein Gesetz der Physik, das zu allen Zeiten und an allen Orten existiert, und zwar unabhängig davon, ob ein menschlicher Beobachter dieses Gesetz kennt, und unabhängig vom individuellen Glauben? Tatsächlich würde ein Naturwissenschaftler des 19.Jh diesen Standpunkt vertreten, und auch unser alltägliches intuitives Wissen würde spätestens hier von einer Entdeckung, nicht aber von einer Konstruktion sprechen. Die modernen Naturwissenschaften sind aber bereits weiter, und beschäftigen sich damit, die vier Grundkräfte der Physik – Gravitation; schwache, starke, elektromagnetische Wechselwirkung – unter ein gemeinsames (mathematisches) Dach zu bringen. Würde ich in hundert Jahren noch leben, wäre ich bereit, einen hohen Betrag darauf zu wetten, daß unsere heutige Vorstellung von dem „Grund”, durch den ein Gegenstand zu Boden fällt, dann nur noch ein müdes Lächeln auslöst – ebenso, wie ein heutiger Physiker Keplers Darstellung der Himmelsmechanik für ein übersimplifiziertes und durch Einstein widerlegtes Konzept hält.[2]
Allgemein gesprochen, sind alle wissenschaftlichen Theorien Modelle, die eine Beobachtung vorläufig erklären können. Wissenschaftlich sind sie nur dann, wenn sie prinziell falsifizierbar sind – das Prinzip der Falsifizierbarkeit unterscheidet sie von Glaubenssätzen. Wenn man diese Unterscheidung mitmacht, muß man noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß Theorien ihren Charakter als „wissenschaftlich” letztlich erst dann beweisen, wenn man sie de facto falsifiziert. Über ihre Richtigkeit hingegen läßt sich prinzipiell nichts sagen. Man kann über ihren Wert erst dann eine Aussage treffen, wenn bewiesen wird, daß sie falsch sind.[3]
Diese Vorstellung gilt nicht nur für wissenschaftliche Theorien, sondern betrifft unser gesamtes Weltbild. Unsere Sinne können uns keinen Einblick in die objektive Beschaffenheit der Welt geben, sondern konstruieren lediglich einen Zusammenhang, den man niemals positiv bestätigen, allenfalls irgendwann als falsch erkennen und verwerfen kann. Ernst von Glasersfeld hat dafür eine eindrückliche Metapher[4]: die Suche nach Wahrheit entspricht dem Vorgehen eines blinden Wanderers, der seinen Weg durch einen eng bewachsenen Wald sucht. Immer, wenn er auf ein Hindernis stößt, weiß er, daß er seinen Weg ändern muß. Über die Bäume kann er aber nichts anderes wissen, als daß sie Hindernisse sind.
- [1] Einführung in den Konstruktivismus, München 2009, S.45f.
- [2] Das ist insofern wiederum eine Simplifizierung, weil Kepler nicht falsch ist, sondern im großen und ganzen völlig richtig liegt. Einstein vertritt zwar ein völlig anderes Bild von der Welt, ist aber letztlich nur graduell „wahrer”. Paradoxerweise kann man mit Keplers Gesetzen den Kurs eines Raumschiffs in die Nachbargalaxie berechnen, nicht jedoch die Funktionsweise einer GPS-Navigation im heutigen Alltag erklären.
- [3] Ich habe zu dem Thema bereits Grundsätzliches gesagt.
- [4] AaO, S. 19
Aber ist denn Ursachenforschung das gleiche wie die Suche nach einem Sinn? Haben wir Menschen also den Begriff Sinn für die allererste Ursache, für die Ursache unseres Daseins geschaffen, weil sie ein Spezialfall ist, die sich nicht enträtseln lässt?
Das kommt darauf an, wie man "Sinn" definiert. Die Suche nach Ursachen hat ja ihrerseits einen Zweck: man will Vorhersagen für die Zukunft machen. Wenn man "Sinn" als "Ziel" oder "Zweck" definiert, ist das dann gewissermaßen die andere Seite der Frage nach den Ursachen. Ursache->Wirkung->Ziel (in der Zukunft).
Man kanns aber auch so sehen: Die "objektive Realität" ist ein Konstrukt, denn es gibt (heute) keine Realität ohne den Menschen. Eine Realität ohne den Menschen können wir uns nur denken. Die Welt, die wir wahrnehmen, ist die Welt, die uns in unserer Tätigkeit gegeben ist, und die gibt es wirklich - es sei denn, es gibt auch uns nicht.
> Man kanns aber auch so sehen:
Äh - ich verstehe das "aber" nicht? Genau dies ist doch meine These: es gibt keine "Objektivität", sondern nur Konstruktionen in den Köpfen.
Es gibt die objektive Realität, aber nicht in Bezug auf die Erkenntnis, sondern genau in Bezug auf die praktische, d.h. reale Tätigkeit. Real ist die Welt unserer Tätigkeit, die Realität ohne den Menschen ist das Konstrukt, wenn auch ein denknotwendiges. Der Konstruktivismus ist nicht die Lösung. Ich habe dazu einiges auf meiner Website und meinem Blog geschrieben, was ich hier nicht noch mal schreiben will.
> Real ist die Welt unserer Tätigkeit, die Realität ohne den Menschen ist das Konstrukt, wenn auch ein denknotwendiges.
Das leuchtet mir durchaus ein. Über den Zwiespalt zwischen "Wissen" und "Können" gibt es bei mir im Blog eine ganze Reihe von Texten - u.a. im Baukasten über Körperwissen. Ich bin keinesfalls der Meinung, daß man den "Radikalen Konstruktivismus" als Allheilmittel blindlings übernehmen kann - momentan lese ich da einige Einführungen, um herauszubekommen, wo es sich lohnt, tiefer einzusteigen.
Ich verstehe, daß Du keine Lust hast, via Copy&Paste obskure Sites mit Kommentaren vollzuhauen - ich habe mich in Deinem Blog (kurz) umgeschaut, und fand das unmittelbar interessant - aber wie wäre es mit ein paar konkreten Links auf Deine Texte zum Thema?
Sei´s drum, muss ich eben meine Aversion gegen geistige Häppchen überwinden:
http://www.subjekte.de/Propaedeutikum/PsychischeBilder.htm
http://www.subjekte.de/Propaedeutikum/Konstruktivismus.htm
http://paradigma.subjekte.de/?p=44
http://paradigma.subjekte.de/?p=41
Auch auf http://www.subjekte.de->Suche und im Blog unter den Kategorien "Erkenntnis" und "Wahrnehmung".
Ich bin gespannt.
Ich habe in Deinem Blog mal meinerseits die Kommentarfunktion genutzt - nicht, daß das wirklich weiterhilft; aber vielleicht ist es ein Anfang :-)
Soweit ich das bisher erkennen kann, unterscheiden sich unsere Positionen nur in Nuancen bzw. in den Schwerpunkten bei der Fragestellung. Aber um da Stellung zu beziehen, muß ich erst noch genauer in Deinen Texten stöbern.