Die Konstruktion der Wirklichkeit
Man stelle sich vor, man sei an der Stelle eines Piloten, der bei schlechtem Wetter für sein Flugzeug eine Route zum nächsten Landeplatz sucht. Wenn er durch das Frontfenster sieht, ist außer Dunkelheit und Nebel nichts zu erkennen, so daß er sich komplett auf die Instrumente verlassen muß – Höhenmesser, künstlicher Horizont, und Kompaß. Bei der Maschine handelt es sich um ein großes Verkehrsflugzeug, bei dem man den Kurvenflug nicht spüren kann, weil man nur unwahrnehmbar von der Fliehkraft in den Sitz gedrückt wird. In dieser Situation gibt es keinerlei Hinweis, ob man sich in einem Flugzeug befindet, das einen echten Himmel durchstreift, oder nur im Simulator.
Wenn man die Instrumente durch die menschlichen Sinnesorgane ersetzt, bekommt man eine Vorstellung, wie es um das Gehirn bestellt ist. Es ist letztlich nicht in der Lage, festzustellen, ob die übermittelten Sinnesreize tatsächlich aus der Umwelt stammen, oder nur simuliert – vorgestellt – sind. Schlimmer noch – während der Pilot davon ausgehen kann, daß seine Instrumente korrekte Werte liefern, macht man die Erfahrung, daß die Sinne höchst unzuverläßlich funktionieren und immer wieder widersprüchliche oder fehlerhafte Daten übermitteln. Wenn man den Gedanken zu Ende spinnt, landet man beim Solipsismus, wo alle Realität verneint wird und man glaubt, daß alle Wirklichkeit auf die eigene, innere Vorstellung beschränkt ist. Tatsächlich kann man diese Idee nicht widerlegen, sondern allenfalls als unpraktisch zurückweisen. Wenn man einen anderen Menschen nach seiner Selbstwahrnehmung befragt, wird man erfahren, daß dieser die Erfahrung des in sich selber eingeschlossen Seins teilt. Das verhält sich ungefähr so, wie ein Bewohner des Planeten Erde und einer der Venus beide der Meinung sein können, die Sonne kreise um ihren Planeten - unter der Voraussetzung, daß sie sich niemals begegnen. Wenn sie aber nach einem gemeinsamen Standpunkt suchen, werden sie - hoffentlich! - das Zentrum des Planetensystems dorthin verlegen, wo es für all seine Bewohner identisch ist: in die Heliozentrik[1].
Wenn man annimmt, daß es so etwas wie eine außerhalb des Gehirns existierende Wirklichkeit gibt, hat man das Problem, daß man nur etwas von der eigene Sinneswahrnehmung weiß, aber nichts über die objektive Welt da draußen sagen kann. Kleine Kinder gehen davon aus, daß Dinge, die sich außerhalb ihres Gesichtsfeldes befinden, auch nicht existieren. Erst im Lauf der ersten beiden Lebensjahre stellt sich die Gewißheit ein, daß ein Ding auch dann noch da ist, wenn man sich von ihm weg dreht. Das liegt aber nicht daran, daß das Baby unrecht hatte und das Kleinkind es jetzt ganz anders und vor allem richtig weiß – es ist schlicht praktisch, wenn man von einer stabilen und in sich konsistenten Welt ausgeht. In Wirklichkeit weiß man nichts davon, was z.B. wenige Häuserblocks jenseits der eigenen Wohnung vor sich geht, solange man sich dort nicht umschaut. Womöglich hat man dort mittlerweile die Fassaden neu gestrichen, oder gar den ganzen Straßenzug abgerissen.
Ein weiteres Problem ist die mehrfache Beschränktheit der Sinne. Zum einen ist klar, daß wir nur einen kleinen Ausschnitt der existierenden Daten direkt aufnehmen können. Unsere Ohren erfassen nur einen eingeschränkten Frequenzbereich, und das Auge nimmt nur ein schmales Spektrum in den Grenzen zwischen Ultraviolett und Infrarot wahr.
Zum zweiten sind die Sinne keineswegs neutrale Empfänger, die einfach bloß weitergeben, was ihnen objektiv entgegen tritt. Man macht immer wieder die Erfahrung, daß man Dinge sieht und hört, die nicht existieren, oder aber solche nicht sieht oder hört, obwohl sie bei nochmaligem Nachhaken definitiv vorhanden sind. (Ein eindrucksvolles Beispiel für letzteres bietet das unten angehängte Video. - Es gibt zahllose Beispiele für das Versagen der Ohren bei der Wahrnehmung von Musik; darauf komme ich später noch zurück.)
Das dritte Problem schließlich ist viel gravierender. Mit den Augen sieht man keine Gegenstände, sondern nimmt Lichtwellen entgegen. Den kompletten Rest – den Umstand, daß wir Menschen, Häuser, Landschaften etc.pp wahrnehmen – konstruiert der Verstand.
- [1] Vergl. Heinz v. Förster, aaO, S.?.