15.11.2009

Radikaler Konstruktivismus

(Komplettes Essay)

Offensichtlich ist es so, daß dasselbe Stück Musik von unterschiedlichen Hörern jeweils anders wahrgenommen und gewertet wird. Dabei sollte man meinen, daß sich ein gegebenes Werk überindividuell deuteten läßt, sobald man es objektiv analysiert. Um diesen Widerspruch zu erklären, habe ich kürzlich eine Dialektik zwischen strukturellen und klanglichen Aspekten behauptet. Ausgangspunkt der Wahrnehmung von Musik ist, diesem Konzept zufolge, der Klang, hinter dem sich die Struktur – Form, Harmonik, Rhythmik – versteckt, die nur mit trainierten Ohren zugänglich sei. Dabei habe ich ein Modell der Wirklichkeit verwendet, welches – gut hegelianisch – auf einer Dialektik zwischen Subjekt und Objekt basiert. Die Ergebnisse, die sich aus diesem Ansatz ergeben, finde ich bisher jedoch wenig befriedigend.

Die Frage ist, wohin man kommt, wenn man sich von Hegel verabschiedet und Kant folgt - wenn man also davon ausgeht, daß jede Realität erst vom Betrachter erzeugt wird. Kant formuliert diesen Standpunkt mit oft zitierten Worten wie folgt:

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.

(Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hervorhebung von mir.)

Nichts anderes besagt die Grundprämisse des Radikalen Konstruktivismus, wo man davon ausgeht, daß Realität nur existiert, wenn es jemanden gibt, der sie beobachtet. Das Einzige, was man als gegeben annehmen kann, sei das Feuern der Neuronen im Gehirn. Alles andere, inklusive der Wahrnehmung der Sinne, sei ein Konstrukt, und alles, was uns als Objektivität entgegentritt, lediglich eine Projektion des subjektiven Bewußtseins.

Das eigentlich Erstaunliche an dieser Sichtweise ist, daß sie von Vertretern der sog. „harten“ Naturwissenschaften vorgetragen wird, unter ihnen Kybernetiker und Physiker (Heinz von Förster), Mathematiker (Ernst v. Glaserfeld, der als Begründer des Radikalen Konstruktivismus gilt) und Biologen (Humberto Maturana). Dabei hat es mich bei der ersten Begegnung mit dem Konstruktivismus zuerst geärgert, danach amüsiert, mit welcher Arroganz hier behauptet wird, es mit einer völlig neuen Sichtweise der Dinge zu tun zu haben, die die bisherige 2500jährige Tradition der Philosophie angeblich radikal hinweg fegt. Die von v.Glaserfeld et al. oft wiederholte Behauptung, die Argumente des Konstruktivismus seien so schwer nachzuvollziehen[1], weil dort mit jeder zuvor gebräuchlichen Sichtweise gebrochen werde, kommt wohl zustande, weil man dort noch immer glaubt, das einzige konkurrierende Weltbild stamme aus dem 19.Jh. und werde von den Naturwissenschaften vertreten[2]. Man sieht wohl die Leistung Kants, kann sie aber nicht wirklich einordnen - man sieht in Kant lediglich einen Vorgänger, der immer noch damit beschäftigt scheint, einen letzten Rest des Begriffs von Objektivität zu retten (in dessen Rede vom "Ding an Sich").

Mit dieser Arroganz der Konstruktivisten einher geht eine merkwürdige Attitüde der moralischen Überlegenheit, wie sie sich nicht nur bei H.v.Foerster gelegentlich in der Argumentation findet - z.B. in diesem oft zitierten Statement:

Objectivity is a subject's delusion that observing can be done without him. Invoking objectivity is abrogating responsibility, hence its popularity.

(Heinz v. Förster)

Dieses vorausgeschickt, halte ich den Radikalen Konstruktivismus für einen viel versprechenden Ansatz, der die scheinbar unvereinbaren Welten von „harten“ Naturwissenschaften und „weichen“ Geisteswissenschaften unter einem gemeinsamen Dach zusammenzubringen verspricht. Mir fehlen zwar – zumindest in dem, was ich bisher über das Thema gelesen habe – einige zentrale Kategorien, ohne die man m.E. nicht auskommt, wenn man die Wirklichkeit als ein Konstrukt jener beschreiben will, die sie beobachten (u.a. Erkenntnisinteresse des Beobachters, sein Eingebundensein in geschichtliche und soziale Prozesse, etc.). Es spricht aber nichts gegen den Versuch, diese Kategorien in den Theorieentwurf nachträglich einzubauen.

Was ich im Folgenden zu dem Thema zu sagen habe, hat immer die Frage im Hintergrund, welcher Zusammenhang zwischen dem Prozeß des Hörens auf der einen und Musik auf der anderen Seite besteht. Die Frage danach, wie unsere Sinne - oder vielmehr das Gehirn - die Konstruktion der Realität bewirken, ist für mich immer auch jene nach der Konstruktion von Musik durch ihre Wahrnehmung mit dem Ohr.

  1. [1] Das ist eine Behauptung, die ich überhaupt nicht nachvollziehen kann - ich jedenfalls habe überhaupt keine Probleme, die konstruktivistische Sichtweise zu verstehen.
  2. [2] Albert Einstein, Kurt Gödel, Werner Heisenberg werden genannt, werden aber - wiederum - als Vorläufer gewissermaßen kalt gestellt. Es wundert mich wenig, daß Sigmund Freud in diesem Zusammenhang nirgendwo erwähnt ist.
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