8.11.2009

Handwerker und Genies (20)

(Themenanfang)

Über den Rang von musikalischen Werken läßt sich nichts sagen, was objektive Gültigkeit hat. Daraus folgt aber nicht, daß es einzig beim individuellen Geschmacksurteil bleibt, und darüber hinaus nichts zu sagen wäre. Musik hat ja eine objektive Ebene, die man analysieren und aufschlüsseln kann, selbst wenn aus dieser Analyse kein ästhetisches Urteil folgen kann – zumindest nicht, ohne einen gewissen Umweg zu nehmen.

Der Konstruktivismus bestreitet, daß es so etwas wie eine objektive Wirklichkeit gibt, die man mit den Sinnen wahrnimmt. Vielmehr konstruiert der Mensch die Welt, indem er seine Sinne benutzt. Mit den Worten Heinz v. Försters: „Objectivity is a subject's delusion that observing can be done without him.” Ohne diesen Gedanken hier weiter auszuspinnen, kommt es in diesem Zusammenhang nur darauf an, wie der Konstruktivismus die Frage beantwortet, wie es dann möglich ist, daß sich die Menschen überhaupt in der – ja angeblich objektiv nicht vorhandenen, sondern nur durch subjektive Bewußtseinsarbeit geschaffenen - Umwelt zurechtfinden, und sogar miteinander kooperieren. Die Antwort lautet, daß Erkennen nicht dadurch zustande kommt, indem man eine objektiv gegebene Welt passiv-hinnehmend auf sich wirken läßt, sondern indem man sie handelnd selbst erzeugt ― und zwar nicht jeder Mensch einzeln, sondern in Gruppen von Menschen, ja im Handeln der ganzen Menschheit. Durch „die Bestätigung des eigenen Erlebnisses durch sprachliche Interaktion mit einem anderen und die erfolgreiche Interpretation der Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen“[1] sind es nicht einzelne Subjekte, die als Monaden unverbunden nebeneinander hertreiben, sondern die Gemeinschaft vieler, wodurch sich zwischen „subjektiven Hirngespinsten und der objektiven Erlebenswelt der Gemeinschaft“[2] durchaus unterscheiden läßt.

Wenn man dies auf die Frage nach der Möglichkeit von Werturteilen über Musik übertragen will, bedeutet dies, die Möglichkeit von Kommunikation über Musik zu untersuchen. Wenn es möglich wäre, hier so etwas wie eine gemeinsame Sprache zu finden, in der man miteinander sein Hören kommunizieren kann, sollte es auch möglich sein, eine gemeinsame qualitative Einschätzung von Musik zu finden. Dazu ist es allerdings nötig, daß man die Welt subjektiver Assoziationen verläßt und sich dazu bereit erklärt, zunächst einmal über die handwerklichen Aspekte von konkreten musikalischen Werken zu reden. Schon an dieser Stelle scheitert es ja schon oft, weil viele Hörer nicht bereit sind, ihr unmittelbares emotionales Hören wenigstens für den Zeitraum des Diskurses hinten an zu stellen. Meistens ist das wohl nur eine Ausrede, weil man nicht über das entsprechende technische Vokabular verfügt – jedermann hat ja eine Meinung über die von ihm präferierte Musik, egal, ob er sie adäquat beschreiben kann oder nicht. Nicht selten geht allerdings fehlendes Wissen über die technischen Zusammenhänge mit ungenügendem Hören einher. Hören muß man lernen. Das Hören von Musik hat mit der Rezeption akustischer Signale höchstens peripher zu tun, weil die Ohren nicht direkt mit dem Gehirn verdrahtet sind, sondern allenfalls eine Zuspielhilfe darstellen, über die der Klang erst nach dem Passieren zahlreicher Filter im Bewußtsein landet. Erst wenn man diese Filter kennt und trainiert, kann man ein halbwegs komplexes Werk „verstehen“ oder – besser gesagt – adäquat erfahren, und erst dann kann man über es jenseits von unreflektierten Geschmacksurteilen kommunizieren.

Die Voraussetzung dazu, Musik zu beurteilen, ist m.E. ihr technisches Verständnis. Damit hat man immer noch keine objektiven Kriterien an der Hand, sondern allenfalls eine gemeinsame Grundlage, auf der man dann verhandeln kann.

  1. [1] Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Einführung in den Konstruktivismus, München 2009, S.34
  2. [2] AaO, S.37

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