5.11.2009

Handwerker und Genies (19)

(Themenanfang)

Jede Musik hat (auch) eine gesellschaftliche Funktion. Adorno zufolge mißt sich ihr Wert danach, wie weit sie sich dieser Funktion entzieht und sich nur noch ihrer inneren Struktur besinnt. Musik, die ihre eigene Integrität bewahren und die Hoffnung auf ein richtiges Leben (die sie - als Kunst - immer mit sich führt und verspricht) nicht verraten will, muß sich dem Falschen radikal verweigern. Adorno kann unter dieser Annahme zu dem Schluß kommen, daß es Musik gibt, die nicht einfach bloß schön ist und gefällt, sondern von Wahrheit spricht – es gibt hier einen sehr eindeutigen Maßstab, um Musik zu bewerten.

Ich will gar nicht darauf herumreiten, daß Adorno in seinen konkreten Betrachtungen einzelner Komponisten und ihrer Werke häufig daneben liegt, weil seine Urteile öfters weniger von exakter Analyse, sondern vom persönlichen Geschmack getrieben werden. Wenn man seine Ästhetik aber fallen läßt und ihre Gültigkeit auf das Zeitalter der (weit gefaßten) Romantik beschränken will, muß man sich schon der Frage gefallen lassen, ob man ab sofort alles Urteil dem persönlichen Geschmack der Hörer überläßt. Dann müßte man Dieter Bohlens Spruch, Bach oder Beethoven, würden sie heute leben, so komponierten wie er, nur noch hinnehmen. Wo pure Arroganz objektiv existierende qualitative Abgründe zwischen der allerdümmsten Popmusik und den Klassikern verleugnet, hätte man keine Argumente mehr.

Ich habe eine vage Ahnung, was man dem entgegen setzen könnte, aber auch keine konzise Theorie. Ich starte mit ein paar eher ungeordneten Anmerkungen.

Zunächst ist unbestritten, daß jeder Hörer für sich selbst entscheidet, welche Musik er mag. Im Streit zwischen den Anhängern verschiedener musikalischer Richtungen schwingen dabei aber immer Motive mit, die mit der Musik selbst wenig zu tun haben, sondern sich nur um die Geltung der eigenen Person drehen. Wer den Konzertsaal besucht und Beethoven verehrt, wird mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sich dem Pop-Fan auch moralisch überlegen fühlen, während er sich umgekehrt als versnobter Angehöriger einer überkommenen Elite beschimpfen lassen muß. In diesen Streit werde ich mich nicht einmischen – es ist unbestreitbar, daß jede Musik eine bestimmte gesellschaftliche Funktion für ihre Hörer hat, die jedoch nicht das geringste über ihre Qualität besagt.

Man kommt aber auch nicht recht weiter, wenn man musikalische Werke auf ihr Handwerk untersucht und analysiert. Dann kann man zwar sagen, daß jede Sinfonie Mahlers hundertmal komplexer ist als jeder noch so avancierte Jazz, und zwar sowohl in formaler als auch harmonischer Hinsicht. Selbst die für den Jazz so essentiellen Rhythmik kann man hier nicht ohne weiteres ins Spiel bringen, geht doch Mahler auch hier wesentlich weiter als jedes Experiment im Jazz. Solche Beispiele kann man beliebig weiter aneinander reihen – sie sagen jedoch überhaupt nichts über Qualität, sondern bloß über die Schwierigkeiten, die man beim Hören hat. Mahler ist nicht besser als Pop. Bevor man ihn versteht, muß man aber einen recht langen Weg zurücklegen, was dann - nicht nur gelegentlich - die ermatteten Wanderer ihren Marsch als denjenigen verklären läßt, der zum einzig wahren Ziel führt.

Formale, harmonische und rhythmische Konzepte können sehr einfach sein, aber dennoch unwiderstehlich wirken – genau so, wie man äußerst komplexe Musik schreiben kann, die überhaupt nicht funktioniert (ich habe mich – in den oben verlinkten Baukästen – schon konkreter dazu geäußert). Dabei ist die Beobachtung, daß eine bestimmte Musik beim Hörer „ankommt“, letztlich auch kein hinreichendes Kriterium für Qualität. Wenn sie aber selbst für einen gut ausgebildeten Hörer nicht nachvollziehbar ist, muß man schon die Frage stellen, ob hier nicht der Übergang in eine andere Form von Kunst stattfindet – ob man es z.B. in der Aleatorik John Cages mit einer Performance, nicht aber mit Musik zu tun hat.

Es gibt nicht nur komplexe und einfache Musik, sondern auch jene, bei der die Proportionen stimmen, ohne daß der Komponist allzu tief im Handwerkskasten wühlen mußte. Schuberts Lieder sind ein gutes Beispiel für das, was ich hier meine. Qualitativ hochstehende Musik findet sich keinesfalls zwangsläufig in der überbordenden Sinfonik des Konzertsaals, sondern auch und gerade in der Kammer.

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