Handwerker und Genies (18)
Wenn ich den handwerklichen Charakter der Popmusik so betone, und in ihren extrem auf den Markt zugeschnittenen Formen eher Mode denn Musik vorzufinden meine, klingt das wohl wie die allbekannte Kritik an den Auswüchsen der Kulturindustrie, wie sie von linken wie strukturkonservativen Kreisen gleichermaßen wieder und wieder vorgebracht wird. – Ich will aber auf etwas anderes hinaus.
Um meinen Punkt etwas genauer zu fassen, komme ich um eine zumindest knappe Auseinandersetzung mit einem mächtigen Brocken nicht herum – das ist die Position Theodor W. Adornos, der den bis heute einzig plausiblen Entwurf für eine Philosophie der Musik vorgebracht hat.
Im Publikum ist der Verdacht verbreitet, daß im Markt erfolgreiche Musik notwendig Züge aufweist, die auf Kosten ihrer inneren Integrität gehen – daß hier also faule Kompromisse mit dem Geschmack des Massenpublikums gemacht werden, die zwangsläufig auf Kosten der Qualität gehen. Soweit ist das eine Erfahrung des Alltags, für die es viel Feuilleton, aber wenig echte Analyse gibt.
Adorno springt hier in die Bresche, und bietet eine profunde Erklärung. Er analysiert die Unterhaltungsmusik als schleichende Degeneration der Kunstmusik. Den avancierten Komponisten bleibt seiner Darstellung zufolge im Widerstand gegen den Versuch, ihre Musik der Verwertungslogik des Kapitals gefügig zu machen, nur die Flucht in den Elfenbeinturm. Sie ziehen ihre Werke zurück in ihre eigene, von außen unsichtbare innere Logik, in eine Autonomie, die der Markt nicht mehr aufsaugen kann – um den Preis, daß sie kaum noch ein Publikum finden, das etwas mit ihnen anzufangen weiß.
Zentral in Adornos Argumention ist die Annahme vom Fortschritt des musikalischen Materials. Nur jene Komponisten, die gewissermaßen auf dem letzten Stand der Dinge stehen, sind in der Lage, sich der gesellschaftlichen Vereinnahmung durch die Kulturindustrie zu entziehen. Eklektiker, die zum Bestand des Materials nichts neues hinzufügen, oder gar hinter den Stand des Erreichten zurückfallen, sind dazu verdammt, zum Spielball der gesellschaftlichen Kräfte zu werden, die sie massenkompatibel zurichten - was auch immer die konkreten Konsequenzen sind.
Merkwürdigerweise ist für Adorno mit der Musik Schönbergs und seiner Schule jedoch der Gipfel erreicht. Zur seriellen Musik hat er sich meines Wissens nicht geäußert, und zur Aleatorik John Cages fiel ihm nur das Aperçu ein, nicht zu verstehen, wie ein so reizender Mensch so gräßliche Musik schreiben könne. Auf den Gedanken, daß in Cages Musik der Mensch überhaupt keine Rolle mehr spielt, ist er nicht gekommen, obwohl hier doch mit der künstlerischen Autonomie endgültig ernst gemacht wurde. Dort sind die Menschen komplett aus dem Elfenbeinturm verbannt, und es herrscht nur noch radikale Objektivität, oder aber der ebenso wenig von den Subjekten beeinflußbare Zufall. Die letzte Entwicklung und Zuspitzung in der Entwicklung des musikalischen Materials geht an Adorno – von ihm unbesehen – vorbei.
Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß der Begriff des „musikalischen Materials“ denkbar vage im Raum stehen bleibt. Adorno dürfte von den technischen Aspekten von Musik eigentlich mehr als genug wissen, um hier eine saubere Definition zu versuchen. Es bleibt aber z.B. bei dem Hinweis, daß sich im Lauf der Musikgeschichte der Gebrauch von Dissonanzen weiterentwickelt habe – vom verminderten Vierklang, der, laut Adorno, schärfsten für Beethoven verfügbaren Dissonanz, bis hin zur Zwölftontechnik Schönbergs.
Tatsächlich gibt es im Lauf der Musikgeschichte eine Verschiebung, die m.E. jedoch nichts über die Qualität der Werke besagt. Man kann mit einfachsten tonalen Mitteln avancierte Kompositionen schaffen, die auf das Unverständnis des Konzertpublikums stoßen. Ebenso gelingt aber auch ein strukturell naives Werk, das bei einem breiteren Publikum Erfolg hat, obwohl es mit denkbar schärfsten Reibungen arbeitet. Die Arbeiten von Arvo Pärt bieten ein Beispiel für den ersten Fall, György Ligetis „Atmosphères“ (das u.a. in einem höchst populären Kinofim – Stanley Kubriks „2001“ – im Soundtrack auftaucht) für den zweiten.
Der musikphilosophische Ansatz Adornos taugt m.E. allenfalls für die Ausdeutung der Musikgeschichte von der Wiener Klassik bis zur Mitte des 20 Jh. Weder die Musik der Renaissance oder des Barock kann man in dieses Modell einordnen, noch die sog. „Neue Musik” nach '45.
Nachdem die seriellen und aleatorischen Experimente in die Sackgasse führten, war man gezwungen, sich auf eklektische Pfade zu begeben. Alles, was seit den späten 50ern, 60er Jahren an Musik entstand, ist letztlich immer ein Rückgriff auf überkommene Formen und längst erprobte Wege. Von einem Fortschritt des musikalischen Materials kann nicht länger die Rede sein.
Ähnliches gilt für das Barock, das man keinesfalls als stringente Entwicklung beschreiben kann, sondern als ein Nebeneinander verschiedener Stile und Richtungen, und – darauf kommt es wohl an – einen unterschiedlichen Grad in der Beherrschung des musikalischen Handwerks durch die Komponisten jener Epoche. Es ist kein Wunder, daß man hier das Wort von den „kleinen Meistern“ im Munde führt, um zweitrangige Musik von den „Meister“-„Werken“ der bedeutenden Komponisten abzugrenzen – da zieht die Betonung des kompositorischen Handwerks auch in die Sprache ein.
Adornos Sicht basiert auf dem Wirken von komponierenden Subjekten, die sich einer kalten Objektivität widersetzen, bis ihnen zum Schluß nichts übrig bleibt, als sich aus der Welt zurückzuziehen, indem sie noch ihre Werke in eiseskalte Objektivität kleiden. Das ist eine Dialektik, die genau dann funktioniert, wenn man die großen Komponisten als Genies begreift. Wo diese Kategorie noch nicht existierte – im Barock – oder komplett in Verruf geriet – in der Postmoderne – greift sie letztlich noch nicht, bzw. nicht mehr.