Handwerker und Genies (16)
Die Musik nach 1945 brach radikal mit der Subjektivität des Geniekults, und brachte Verfahren hervor, die auf reiner Mathematik, oder aber dem Gegenteil, dem Zufall basierten. Man sprach einen Bann über das schöpferische Individuum und objektivierte das Komponieren in einer Weise, die nicht mehr zu steigern war. (Ich habe über das Thema schon vorher etwas ausführlicher geschrieben.)
Daneben entstand eine Art und Weise der Kunstproduktion, die ebenfalls die Rolle des genialen Schöpfers in Frage stellt: die kollektive Arbeit am Kunstwerk, wie man sie exemplarisch bei der Entstehung eines Kinofilms findet. Hier ist eine größere Gruppe von Spezialisten damit beschäftigt, ein Produkt zu gestalten, dessen Komplexität die Fähigkeit einer einzelnen Person sprengt. Der Regisseur ist hier die Hauptgestalt, indem er die Arbeit einer ganzen Reihe von „Autoren“ organisiert und zu einem gemeinsamen Ganzen zusammen fügt – eine Rolle, die im Theater längst nicht dieses Prestige erfährt, weil dort der Verfasser des Stücks im Mittelpunkt steht. Im Filmgeschäft hingegen ist diese Rolle zentral. Hier ist es nicht mehr der Künstler, der die höchste Achtung genießt, sondern der Manager, der unterschiedliche Begabungen und die Leistung vieler verwaltet.
Das Genie tritt ab. An seine Stelle tritt eine Gruppe von Handwerkern, die einander zuarbeiten.
Auch in der Musik läßt sich das Phänomen wiederfinden, daß man immer eine Gruppe nennen muß, wenn man ein Werk zuordnen will. Zuerst findet man dies im Jazz - einem „Stil”, der weniger durch die Komponisten geprägt ist, als vielmehr durch die unterschiedlichen Solisten und deren Zusammenspiel in verschiedenen Bands. Die Bedeutung dieses Zusammenspiels wird ein wenig dadurch verdeckt, daß Bands immer wieder nach ihrem Leiter benannt sind. Bei den Bigbands der Swingarea macht dies auch noch einem gewissen Sinn, waren doch deren Leiter meistens in Personalunion auch Komponist und zumindest Arrangeur. Durch den relativ hohen Anteil an auskomponierten Passagen klingt es recht plausibel, wenn man z.B. das Orchester von Duke Ellington seiner Person zuordnet – und nicht den dort beschäftigten Solisten, auch wenn letztere es in hohem Maß prägen. Spätestens in den kleineren Besetzungen nach '45 spielt der Bandleader eine mehr oder weniger gleichberechtigte Rolle mit dem Rest der Besetzung – wenn er nicht gar zum Organisator wird, der hinter die restlichen Bandmitglieder zurücktritt (wie dies z.B. bei Miles Davis der Fall war).
Jazz ist nicht nur vom Zusammenspiel innerhalb einer Band geprägt, sondern auch durch eine expliziten Wertschätzung des musikalischen Handwerks. Nicht der (geniale) Komponist steht hier im Vordergrund, sondern der improvisierende Virtuose. Improvisation ist dabei in keiner Weise vergleichbar mit der Arbeit an einer Komposition, und zwar nicht nur durch den Unterschied im zeitlichen Aufwand (spontanes Entstehen vs. Arbeit vieler Wochen oder Monate) – man sollte improvisierte Musik nicht mit „spontanem Komponieren“ verwechseln. Es gibt bei den Solisten – wie auch in der Arbeit der Rhythmusgruppe – einen sehr hohen Anteil an vorgefertigtem Material, das eingeübt und in unterschiedlichem Kontext immer nur neu zusammengesetzt und wiederholt wird. Man redet mit gutem Grund von „Phrasen“, wenn man ein Solo nachträglich analysiert und in seine Bestandteile zerlegt. Ein guter Solist zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er etwas neu erfindet, sondern durch sein Vermögen, seine „Phrasen“ spontan so in den Kontext einzubetten, daß dies aus dem Moment heraus Sinn ergibt.
(Zum Thema „Improvisation” pflege ich hier im Blog einen eigenen Baukasten.)