24.8.2009

Handwerker und Genies (7)

(Themenanfang)

Bereits mit dem Ende des ersten Weltkriegs hatte sich die Definition dessen, was man als Kunst bezeichnet, massiv verändert. Nach 1945 kam es auch in der Musik zu jenem Wandel, der in den bildenden Künsten und der Literatur längst vollzogen war.

Man hatte bisher an den genialen Schöpfer geglaubt, der ein Werk erschafft, das es den Subjekten erlaubt, sich über die profane Wirklichkeit zu erheben, indem es einen Zusammenhang von „Sinn” stiftet, der über die inhärente Logik der bürgerlichen Gesellschaft hinaus verweist. In der seriellen ebenso wie der aleatorischen Musik wird mit dieser Vorstellung radikal gebrochen. Es gibt nicht länger den schöpferischen Menschen, der Unerhörtes neu erfindet, sondern den ausführenden Handwerker, der mechanisch Regeln folgt, die er zuvor selber aufgestellt hat.

Musik hat natürlich schon immer Regeln gehorcht. Dabei existierte aber stets eine Spannung zwischen dem tumben Theoretiker, der nichts konnte als eben diese Regeln, und dem kreativen Musiker, der diese Regeln zwar kannte, sie aber stets brach, wenn dies seinem inneren Ohr geboten schien[1]. Tatsächlich ist jede Harmonielehre erst entstanden, nachdem ihr theoretischer Stoff praktisch erprobt oder sogar veraltet war - gleiches gilt für jede Schule von Kontrapunkt oder Instrumentenkunde[2]. Als genuin musikalische Begabung galt nur der, der letztlich keine Ausbildung brauchte, sondern Fähigkeiten hatte, die man nur als angeborenes Talent erklären konnte. Erst dort, wo der Musiker mehr war als bloß ein Handwerker, konnte man ihn in den Himmel loben.

Nach dem zweiten Weltkrieg ändert dies sich radikal. Musik verweist jetzt nur noch auf jene Regeln, denen sie folgt. Sie hat keinen Sinn mehr außerhalb ihrer selbst. Sie wird vollständig autonom, indem sie sich nur noch auf sich selbst bezieht. Ihr fehlt jegliche subjektive Willkür - damit entäußert sie ihre Seele.

Damit verliert sie gleichzeitig jeden Gebrauchs- wie auch Tauschwert für eine Gesellschaft, die noch immer an jenen Widersprüchen leidet, die die Romantik zu heilen versprach. Mehr noch: man kann sie nicht einmal mehr hören. Serielle Musik hat einen derart hohen Grad an Komplexität, daß ihre klangliche Realisierung sich komplett jedem Nachvollzug durch das Ohr entzieht, so geübt dieses auch sein mag. Das geht so weit, daß nicht einmal die Komponisten selbst das mehr können[3]. In der Aleatorik ist das sogar Programm - hier stehen genaueste Anweisungen an die Ausführung Parameter entgegen, die über den Klang nichts konkretes mehr sagen, oder sogar mit ihm ausdrücklich nichts mehr zu tun haben wollen[4].

  1. [1] Das ist das Thema Wagners in den Meistersingern - zur Erinnerung: einem Werk, das zum Finale der Reichsparteitage der NSDAP gespielt wurde.
  2. [2] Das vielleicht beste Beispiel hierfür liefert hier ausgerechnet ein Werk aus der Feder eines Praktikers, die Harmonielehre Arnold Schönbergs.
  3. [3] Bei Uraufführungen in den 50er Jahren ist es regelmäßig vorgekommen, daß die - ebenso unwilligen wie völlig überforderten - Musiker gespielt haben, was immer sie wollten.
  4. [4] Von John Cage gibt es eine Partitur, die genauestens festlegt, in welchem Rhythmus und Ausmaß die Regler für Lautstärke und Senderwahl(!) von mehreren Radiogeräten bedient werden sollen.

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