Handwerker und Genies (6)

(Themenanfang)

Wenn ich sagte, daß die Musik des Bürgertums autonom wird, ist dies nur zum Teil richtig. Sie hatte immer auch eine gesellschaftliche Funktion, und nur durch diese erhielt sie letztlich ihren Wert. Eine Musik, die sich völlig von der Gesellschaft emanzipiert, kann es ja auch gar nicht geben. Es mag zwar sein, daß sie immer stärker ihren inneren Gesetzen folgt und dadurch nicht mehr ohne weiteres für jedermann verständlich ist, und sich dem Zuspruch eines breiten Publikums immer weiter entfernt. Eine Oper jedoch bleibt auch im 19. und 20.Jh zunächst immer ein gesellschaftliches Ereignis, auch wenn die dort gespielte Musik mehr und mehr zu einer Sache für Spezialisten wird.

Damit hat die Anerkennung, die die bürgerliche Gesellschaft ihren Genies und Virtuosen entgegenbringt, zwei verschiedene Seiten. Einmal bewundert man eine Schaffenskraft und ein Können, das übermenschlich, geradezu göttlich wirkt, und ganz anderen Sphären zu entspringen scheint als das, was zur Arbeit auf dem Feld oder in der Fabrik befähigt. Andererseits muß die Musik auch immer wieder einen Rückbezug auf die gesellschaftliche Praxis erlauben. Eine Komposition, die nicht gespielt wird, kann man nicht bewundern, und über das Umfeld, in der sie erklingt, bestimmen immer mehr die zahlungswilligen Konzert- und Opernbesucher, und nicht mehr der adlige Mäzen. Es besteht also eine ausgeprägte Spannung zwischen einem Kunstbegriff, der die gesellschaftlichen Verhältnisse transzendiert - oder gar Kunst als Antithese zur schnöden Wirklichkeit definiert -, und einer Kunstproduktion, die an ihnen teilhat und an ihrem Fortbestehen aktiv mitwirkt. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich wieder im Verhältnis zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik.

Dabei sind „E”- und „U”-Musik zunächst gar keine Kontrahenten. Mozarts Opern waren an ein unterschiedliches Publikum adressiert, und die Zauberflöte unterscheidet sich vom Tito auch in den verwendeten musikalischen Mitteln. Im Fin de siècle wurde bei Konzerten im Wiener Prater neben den Walzern von Johann Strauß gelegentlich auch das Adagietto aus Mahlers Fünfter gespielt. Alban Bergs Opern verweigern keinesfalls einen dramaturgischen Bogen, sondern sind so konzipiert, daß sie im Rahmen der traditionellen Praxis aufführbar sind. Usf.

Das beste Beispiel für die unauflösliche Verzahnung zwischen gesellschaftlicher Praxis und der gleichzeitigen Abschottung von ihr bieten die Opern Richard Wagners. Die Erzählungen aus einem märchenhaften Mittelalter, die von einer rauschhaften Musik getragen werden, sollen ihre Hörer ja ausdrücklich von der Wirklichkeit erlösen. Die Sehnsucht nach einer Welt jenseits jener, in der das Opernpublikum das Geld verdient, mit dem sie ihre Eintrittskarten bezahlt, sind ihr einziges Programm. Ausgerechnet diesem Werk widerfährt es, den Aufstieg des Nationalsozialismus zu begleiten. Seine größten Bewunderer finden sich unter denen, die die reale Welt mit physischer Gewalt unter ihr Joch zwingen.