20.8.2009

Handwerker und Genies (5)

(Themenanfang)

Bis vor etwa zweihundert Jahren erschöpfte sich Kunst in ihrer gesellschaftlichen Funktion. Ein Bild wurde in Auftrag gegeben, weil es einen bestimmten Platz und eine bestimmte Funktion in einer Kirche oder einem adligen Hof einnehmen sollte. Die Sinfonien Haydns wurden für bestimmte Gelegenheiten geschrieben, für die sein Fürst Musik verlangte, und die Kantanten Bachs haben einen festen Platz im Kirchenjahr und eine klare Funktion im Rahmen des Gottesdiensts. L'art pour l'art ist ein Konzept, das dieser Zeit völlig fremd ist.

Schon aus diesem Grund kann die Musik des Barock so komplex werden, daß sie einerseits nur noch für Experten nachvollziehbar ist, und andererseits selbst vom einfachen Mann – oder auch vom Adligen, dem ebenso jede musikalische Bildung fehlt – verstanden werden kann. Das Verstehen geschieht nicht, indem man innermusikalische Verhältnisse nachvollzieht, sondern indem man Teil eines gesellschaftlichen Rituals wird, in welchem die Musik eine festgelegte, selbstverständliche Rolle spielt.

Anfang des 19.Jh beginnt hier ein grundsätzlicher Wandel. Das Bürgertum imitiert vielleicht noch die Oberfläche höfischen Lebens. Es verschwinden aber die ritualisierten Worte und Gesten, in denen sich der Adel einst seiner selbst vergewisserte. Die bürgerlichen Salons sind Teil einer sich konstituierenden Öffentlichkeit, in der Privates und Öffentliches getrennt werden. Die Funktion in der Gesellschaft übt man als Besitzer einer Fabrik aus – nicht aber im abendlichen Zusammensein, in dem man sich als Individuum entfaltet.

Die Musik des 19. und 20.Jh ist nicht länger ein Beiwerk, das eine abstrakte Pracht verbreitet, vergleichbar einem kostbaren Teppich oder einem zierlichen Wandschmuck. Sie rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es dauert keine hundert Jahre, bis das Publikum im Konzertsaal nicht nur schweigend, sondern sogar im Dunkeln sitzt. Ein Zeitreisender aus dem Barock hätte ungläubig geschaut und gefragt, wo denn der Wein und die Speisen, die Unterhaltungen und das stetige Kommen und Gehen der Gäste geblieben wären – warum man sich denn so überhaupt nicht amüsiert.

In dem Moment, wo Musik ihre gesellschaftliche Funktion verliert, erhält sie im Gegenzug einen ästhetischen Eigenwert. Sie ist nicht länger nur eine handwerklich sauber gearbeitete akustische Füllung, sondern gehorcht Regeln, die ihren Sinn in sich selber ergeben. Musik ist nicht länger nur schön oder harmonisch, sondern hat einen eigenen Wert, sogar eine inhärente Wahrheit.

Damit verändert sich auch die Anforderung an den Hörer. Er muß nicht einfach deshalb im Konzertsaal sitzen, weil seine gesellschaftliche Rolle das so von ihm verlangt, sondern er muß sich für die Sache selbst interessieren. Im Musikleben ist man Privatmann, auch wenn man sich als private Person öffentlich in Szene setzt und sein privates kulturelles Interesse anderen gegenüber zur Schau stellt. An dieser merkwürdig doppelten Funktion leiden dann besonders jene, die mit Musik nichts anzufangen wissen, sich aber zumindest als interessierte Laien ihren Mitmenschen präsentieren müssen.

Musik ist nicht völlig ihrer gesellschaftlichen Funktion entbunden - so wenig wie der vermeidlich in seine Privatheit flüchtende Hörer. Sie wird zwar einerseits autonom, und es werden nun auch Werke geschrieben, die unaufgefordert entstehen, mit dem Risiko, ungespielt zu bleiben. Gleichzeitig hat sie aber auch immer noch einen festen Rahmen, in der sie aufgeführt werden soll. Hier muß sie jetzt aber damit beginnen, auf ihre Hörer im innermusikalischen Aufbau Rücksicht zu nehmen und möglicherweise „schwer verständliche” Komplexität zu vermeiden – eine Einschränkung, die ihr noch im Barock nie auferlegt war.

In der Salonmusik entstehen die ersten Stücke, die Kompromisse zwischen dem Stand der kompositorischen Technik und dem Unvermögen der Hörer schließen, diese adäquat zu entschlüsseln. Langsam – später immer stärker beschleunigt – entsteht ein Riß zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik, bis sich dieser nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kitten ließ.

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