Funktionen des Erinnerns
Erinnerungen kommen in Bildern – nicht in Begriffen, auch nicht in Tönen. Manchmal ist es ein Stück Film, oder nur ein einzelnes Foto, das seltsam aus der Zeit herausfällt. Es gibt gelegentlich auch vergangene Ereignisse, die derart präzise vor Augen stehen, daß man jeden Duft, jede Berührung noch einmal erlebt. Doch das sind seltene Ausnahmen, und selbst diese fallen aus der Zeit heraus, haben ihre Ursache verloren, und häufig auch die Verbindung zu ihren Konsequenzen. Auch die Orte des Erinnerns sind oft merkwürdig diffus und ungenau – man weiß vielleicht noch die Farbe der Tapete, aber nicht mehr den Raum, in dem sie hing. Wenn man die Topografie einer Landschaft, einer Wohnung, oder auch eines Gesichts heraufbeschwört, ist diese oft lückenhaft, von unbekannten Zonen durchbrochen.
Erinnerungen sind ihrem Wesen nach zeitlos und fragmentarisch (auch wenn es – ausnahmsweise und selten – Menschen zu geben scheint, die jeden Tag ihres Lebens lückenlos abrufen können). Sie sind fragil und gefährdet, und ständig davon bedroht, in Vergessenheit zu versinken. Dadurch ähneln sie Träumen. Mehr noch: sie sind dem Traum weitaus näher als der Realität, auf die sie verweisen.
Wie ein Traum in Vergessenheit versinkt, wenn man ihn nicht unmittelbar nach dem Erwachen aufschreibt, so versinken Erinnerungen, wenn sie nicht ständig beschworen werden. Nur wenn man Erlebtes sich selbst oder Anderen erzählt, bleibt es dem Gedächtnis erhalten. Dadurch aber verändert sich die Erinnerung, ähnlich wie der aufgeschriebene Traum: die bildliche Unmittelbarkeit tritt zurück hinter einen Strom aus Worten. Erinnerung wie Traum verwandeln sich in Historie, in eine Erzählung.
Wenn man etwas „auf den Begriff bringt“, ordnet man. Historiker ordnen die Ereignisse vergangener Tage, und jede Epoche bringt Historiker hervor, die dieselben Ereignisse anders ordnen. Die Vorstellung von bestimmten historischen Geschehnissen oder Figuren ist in stetigem Wandel, und die Realität jeder Epoche wirkt zurück auf ihr Bild von Geschichte, auf dem sie selber wiederum in nicht geringem Maß fußt.
Nichts anderes macht jeder Einzelne, wenn er sich selber oder Anderen seine eigene Vergangenheit erzählt (oder sie von Anderen erzählt bekommt, bspw. Ereignisse der Kindheit von den Eltern): er ordnet sie in Begriffe und bestimmt damit die filmischen Sequenzen (oder - mehr und mehr, je weiter das Ereignis zurückliegt - die Bilder), die er sieht, wenn er sich das nächste Mal erinnert. Diese Erzählung wird stetig fortgeschrieben, und unterwirft die Erinnerung einer immerwährenden Metamorphose.
Damit verändert sich auch das Bild, das jedes Individuum von sich selber hat. Jede Erinnerung ist gleichzeitig ein Bild von jenem, der sie abruft, weil jener sich stets an die eigene Rolle erinnert, die er in einer erinnerten Situation spielte. Die Identität der eigenen Person ist eine Illusion, die durch die permanente Erzählung der erinnerten Bilder beschworen wird, wodurch beides sich ständig ändert.
Anders gesagt. Ich definiere mich selbst nicht durch das, was ich aktuell bin, sondern durch die Differenz dessen, was ich heute bin, zu dem, was ich früher war und zu jenem Zeitpunkt werden wollte. Mein Bild von mir selbst ist damit vollständig abhängig von meiner Vergangenheit. Mehr noch: von dem, was ich von der Vergangenheit erinnere. Noch mehr: von der Funktion des Erinnerns.