Handwerker und Genies (4)
Die avancierte Musik nach 1945 unterbrach mit einem Schlag jede Verbindung mit der Vergangenheit. Das betraf auf den ersten Blick das Verneinen jeder tonalen Ordnung, an der bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls gekratzt wurde, die man aber nie völlig in Frage gestellt hatte. Schönberg hatte strenge Regeln formuliert, sich aber stets dazu bekannt, sie im Zweifelsfall zu biegen und zu brechen, wenn dem Ohr dies geboten schien. Alban Berg hat mit Zwölftonreihen gearbeitet, in denen Dreiklänge versteckt waren, um noch tonale Wirkungen zu erzielen. Einzig Anton Webern hatte die gesetzmäßig-mechanische Anlage der Zwölftontechnik ernst genommen und weitergetrieben. Von ihm gibt es Zwölftonreihen, deren zweite Hälfte eine Spiegelung der ersten ist, und erste Experimente, die auch Klangfarben und dynamische Verläufe durch Reihengestalten determinieren. Weberns Tod ist wie ein Fanal: er starb kurz nach Kriegsende durch die verirrte Kugel eines Besatzungssoldaten. Sein Werk schien das einzige unverbrauchte Erbe einer Epoche, deren Kunstbegriff als untrennbarer Bestandteil einer Ideologie wahrgenommen wurde, die in der Katastrophe von Krieg und Massenmord geendet hatte.
Die klanglichen Wirkungen, die bei einem Großteil des Publikums auf schroffe Ablehnung stießen, sind dabei lediglich die Oberfläche einer Kompositionsweise, in der das Subjekt keine Rolle mehr spielte. Wo zuvor stets das schöpferische Individuum im Zentrum stand, bediente man sich jetzt Techniken, in denen Konstruktion, Mechanik, aber auch der Zufall eine zentrale Rolle spielte.
In der seriellen Musik werden sämtliche musikalischen Parameter in Reihengestalten gezwungen. Wenn diese Reihen und auch die Beziehungen unter ihnen einmal festgelegt - konstruiert - sind, muß die Partitur nur noch - mechanisch - aus ihnen abgeleitet werden. Im anderen Extrem, in der aleatorischen Musik, bestimmen allerlei Zufallsmechanismen über die Töne und ihre Parameter. Man überträgt Sternenkarten auf Notenpapier, läßt den Interpreten über die Abfolge der formalen Teile entscheiden, oder benutzt gleich den Würfel. Serialismus wie Aleatorik haben gemeinsam, daß es keinen Musiker mehr gibt, der noch dem hinterherlauscht, was dort entsteht, und gegebenenfalls - genialisch - korrigierend eingreift.
Radikaler konnte man sich nicht in Gegensatz zur Tradition stellen, und für den Zeitraum etwa eines Jahrzehnts gab es keinen ernsthaften Komponisten, der diesen Schritt verweigerte. Selbst ein H.W.Henze, der heute fast wie ein letzter Überlebender aus der Zeit der Romantik wirkt, war als junger Mann konsequenter Serialist (wofür er sich heute fast schon entschuldigt). Beispiele für Komponisten, die später einen komplett anderen Weg gingen, gibt es viele - aber zu jenem Zeitpunkt gab es schlichtweg keine Alternative.
Gleichzeitig entstand in den Trümmern der großen Städte aber schon wieder ein Musikleben, das sich der Traditionen nach wie vor verbunden fühlte. Es war nicht nur das Publikum, das auf Beethoven, Brahms und Wagner nicht verzichten wollte und die Experimente der Avantgarde komplett ignorierte. Nahezu geschlossen galt das für alle praktizierenden Musiker - mit Ausnahme eben der Komponisten. Man war seit der Machtübernahme Hitlers schon daran gewohnt, daß immer nur die Klassiker gespielt wurden, und man nichts wirklich Neues mehr zu hören bekam. Dieser frühere, ganz andere Bruch, der durch den Ausschluß der sog. „entarteten” Kunst und die Vertreibung der jüdischen Intelligenz vollzogen wurde, wurde jetzt endgültig besiegelt.
Noch in den 20er und 30er Jahren hatte jedes Opernhaus von Ruf stetig Uraufführungen von neuen Werken hervorgebracht. Die führenden Dirigenten haben stets zeitgenössische Komponisten protegiert, wenn sie nicht gleich ihre eigenen Werke aufführten. Das Publikum war zwar gelegentlich nicht bereit, die letzten Neuheiten zu feiern, und hat für den einen oder anderen Skandal gesorgt. Trotzdem waren häufig Werke überraschend erfolgreich, die auf dem letzten Stand der kompositorischen Technik standen, und selbst heute noch kühn und avantgardistisch wirken.
Seit 1933, spätestens seit 1945 ist der Konzertsaal zum Museum degradiert, und die Produktion und Rezeption von neuen musikalischen Werken Sache einer hochspezialisierten Minderheit.
Aber warum ist der Konzertsaal zum Museum geworden? Hat die Pop-Musik den Platz eingenommen, den die klassische Musik einst besass? Sind wir am Ende musikalischer Neuerungen angekommen und müssen uns bis auf weiteres gedulden? Ist eine Abkehr der Komponisten von Musik, die Emotionen anspricht, hin zu einer Musik, die den Verstand anspricht, dafür verantwortlich?
Das sind genau die richtigen Fragen - aber in der Disziplin bist Du ja ohnehin nicht zu schlagen :-)
Ich habe da einen Theorieansatz im Sinn, der in den vorhergegangen Artikeln erst vorbereitet wurde. Ich stecke da momentan etwas fest, weil ich keinen Ansatz finde, die Zusammenhänge so darzustellen, daß sie nicht völlig wirr in der Luft hängen bleiben. Stichwort: was ist aus dem Genie geworden? Für die Musik kann das vermutlich relativ klar beantworten: sein Erbe wurde der (Pop-)Star. Ich schwimme aber noch, weil ich mir nicht recht erklären kann, wie das passiert ist.
Es ist ziemlich deutlich, dass das Genie als Idee zunehmend verblasst und durch die Idee globaler Kollaboration ersetzt wird. Du meinst also, es gibt einen Zusammenhang zwischen der "Entwertung" des Genies und der mangelnden Akzeptanz zeitgenössischer Musik? Da muss ich mal tiefer drüber nachdenken.
Meine Erklärung (auch nicht zufriedenstellend): eine historische Einmaligkeit oder Anomalie, dass Qualität und breite Akzeptanz in einer gewissen Epoche zusammenfielen.
> Meine Erklärung (auch nicht zufriedenstellend): eine historische Einmaligkeit oder Anomalie, dass Qualität und breite Akzeptanz in einer gewissen Epoche zusammenfielen.
Da bin ich genau gegenteiliger Ansicht: das Auseinanderfallen zwischen Pop- und "E"-Kultur ist einmalig, und nur in der Moderne (seit Ende des 19.Jh) zu beobachten. Dabei war die Kunst der Vergangenheit immer eine der gesellschaftlichen Eliten, die heutige Trennung bildet in gewisser Weise die "Demokratisierung" der Gesellschaft nach. Dabei hat diese Trennung allerdings bereits stattgefunden, als das "Genie" noch in aller Munde war.
Das "Verschwinden der Genies" ist dann ein Symptom der Zeit nach 1945 - und erst dann bricht die Kontinuität im Musikleben ab. Warum das der Fall ist, habe ich ja schon teilweise begründet: die Neue Musik ist komplett mechanisiert, und verliert ganz objektiv ihre Seele. - Ich werde darauf noch ausführlich zurückkommen.
Nachtrag: Ich habe das Thema mittlerweile ein wenig ausführlicher skizziert.