12.8.2009

Handwerker und Genies (4)

(Themenanfang)

Die avancierte Musik nach 1945 unterbrach mit einem Schlag jede Verbindung mit der Vergangenheit. Das betraf auf den ersten Blick das Verneinen jeder tonalen Ordnung, an der bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls gekratzt wurde, die man aber nie völlig in Frage gestellt hatte. Schönberg hatte strenge Regeln formuliert, sich aber stets dazu bekannt, sie im Zweifelsfall zu biegen und zu brechen, wenn dem Ohr dies geboten schien. Alban Berg hat mit Zwölftonreihen gearbeitet, in denen Dreiklänge versteckt waren, um noch tonale Wirkungen zu erzielen. Einzig Anton Webern hatte die gesetzmäßig-mechanische Anlage der Zwölftontechnik ernst genommen und weitergetrieben. Von ihm gibt es Zwölftonreihen, deren zweite Hälfte eine Spiegelung der ersten ist, und erste Experimente, die auch Klangfarben und dynamische Verläufe durch Reihengestalten determinieren. Weberns Tod ist wie ein Fanal: er starb kurz nach Kriegsende durch die verirrte Kugel eines Besatzungssoldaten. Sein Werk schien das einzige unverbrauchte Erbe einer Epoche, deren Kunstbegriff als untrennbarer Bestandteil einer Ideologie wahrgenommen wurde, die in der Katastrophe von Krieg und Massenmord geendet hatte.

Die klanglichen Wirkungen, die bei einem Großteil des Publikums auf schroffe Ablehnung stießen, sind dabei lediglich die Oberfläche einer Kompositionsweise, in der das Subjekt keine Rolle mehr spielte. Wo zuvor stets das schöpferische Individuum im Zentrum stand, bediente man sich jetzt Techniken, in denen Konstruktion, Mechanik, aber auch der Zufall eine zentrale Rolle spielte.

In der seriellen Musik werden sämtliche musikalischen Parameter in Reihengestalten gezwungen. Wenn diese Reihen und auch die Beziehungen unter ihnen einmal festgelegt - konstruiert - sind, muß die Partitur nur noch - mechanisch - aus ihnen abgeleitet werden. Im anderen Extrem, in der aleatorischen Musik, bestimmen allerlei Zufallsmechanismen über die Töne und ihre Parameter. Man überträgt Sternenkarten auf Notenpapier, läßt den Interpreten über die Abfolge der formalen Teile entscheiden, oder benutzt gleich den Würfel. Serialismus wie Aleatorik haben gemeinsam, daß es keinen Musiker mehr gibt, der noch dem hinterherlauscht, was dort entsteht, und gegebenenfalls - genialisch - korrigierend eingreift.

Radikaler konnte man sich nicht in Gegensatz zur Tradition stellen, und für den Zeitraum etwa eines Jahrzehnts gab es keinen ernsthaften Komponisten, der diesen Schritt verweigerte. Selbst ein H.W.Henze, der heute fast wie ein letzter Überlebender aus der Zeit der Romantik wirkt, war als junger Mann konsequenter Serialist (wofür er sich heute fast schon entschuldigt). Beispiele für Komponisten, die später einen komplett anderen Weg gingen, gibt es viele - aber zu jenem Zeitpunkt gab es schlichtweg keine Alternative.

Gleichzeitig entstand in den Trümmern der großen Städte aber schon wieder ein Musikleben, das sich der Traditionen nach wie vor verbunden fühlte. Es war nicht nur das Publikum, das auf Beethoven, Brahms und Wagner nicht verzichten wollte und die Experimente der Avantgarde komplett ignorierte. Nahezu geschlossen galt das für alle praktizierenden Musiker - mit Ausnahme eben der Komponisten. Man war seit der Machtübernahme Hitlers schon daran gewohnt, daß immer nur die Klassiker gespielt wurden, und man nichts wirklich Neues mehr zu hören bekam. Dieser frühere, ganz andere Bruch, der durch den Ausschluß der sog. „entarteten” Kunst und die Vertreibung der jüdischen Intelligenz vollzogen wurde, wurde jetzt endgültig besiegelt.

Noch in den 20er und 30er Jahren hatte jedes Opernhaus von Ruf stetig Uraufführungen von neuen Werken hervorgebracht. Die führenden Dirigenten haben stets zeitgenössische Komponisten protegiert, wenn sie nicht gleich ihre eigenen Werke aufführten. Das Publikum war zwar gelegentlich nicht bereit, die letzten Neuheiten zu feiern, und hat für den einen oder anderen Skandal gesorgt. Trotzdem waren häufig Werke überraschend erfolgreich, die auf dem letzten Stand der kompositorischen Technik standen, und selbst heute noch kühn und avantgardistisch wirken.

Seit 1933, spätestens seit 1945 ist der Konzertsaal zum Museum degradiert, und die Produktion und Rezeption von neuen musikalischen Werken Sache einer hochspezialisierten Minderheit.

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