Handwerker und Genies (2)

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In der Vergangenheit hat man lange Zeit keinen Unterschied zwischen Kunst und Handwerk gemacht. Ein bildender Künstler hatte im Mittelalter denselben gesellschaftlichen Rang wie ein Schuhmacher oder Hufschmied. Die Fresken in den italienischen Kirchen wurden von Gemeinschaften geschaffen, in denen der Meister die kompliziertesten und schwierigsten Details ausführte, während Gesellen und Lehrlinge, je nach ihren Fähigkeiten, einfachere Arbeiten übernahmen. Noch J.S.Bach war ein Zulieferer von Kantaten für den Gottesdienst, dessen Arbeit nicht mehr oder weniger geschätzt wurde als jene des Pastors. Hier war nirgendwo die Rede vom genialen Individuum, das aus sich selbst heraus wie eine auf Erden herabgestiegene Gottheit einzigartige Werke schafft. Es waren Handwerker, die im Auftrag und unter Vorgaben Dritter in zuweilen arbeitsteiligen Verfahren Kunstgegenstände herstellten - die Bildhauer, die die bewunderten Statuen der Antike schufen, sind gar anonym geblieben.

Dies änderte sich im Tre- und Quattrocento in den Stadtstaaten Mittelitaliens. Hier trat erstmals ein seines eigenen Werts bewußtes Individuum auf, welches eigenständig - d.h. allein, und zwar auch ohne Vorgaben durch Andere - Kunstwerke schuf. Michelangelo ist hier der Prototyp, und die Fresken in der Sixtinischen Kapelle sind vielleicht das erste autonome Kunstwerk im modernen Sinn.

Die Entwicklung ging keineswegs kontinuierlich und gradlinig immer so weiter - sie blieb zunächst lokal auf Italien und zeitlich auf die Renaissance begrenzt. Die Kunst des Barock war wieder stark an handwerklichem Maßstab und Selbstverständnis orientiert, auch wenn ein G.F.Händel als Impresario und (Opern-)Unternehmer ein durchaus anderes Selbstbild gehabt haben dürfte als ein J.S.Bach, der seine Musik als Gottesdienst verstand.

Der erste Musiker, der in seinem eigenen Verständnis kein Handwerker war, sondern - von seinem eigenen Wert völlig überzeugt - sich jedem Adligen gleichwertig oder sogar überlegen fühlte, war L.v.Beethoven. Er war wohl der Erste, der es als selbstverständlich empfand, daß man ihm Anerkennung entgegen brachte, und gänzlich entgeistert reagieren konnte, wenn man es ihm gegenüber an Respekt fehlen ließ. Dabei war es nicht die Person Beethovens, die diesen Wandel verursachte, sondern die veränderte Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, wobei letztere nicht mehr vom Adel, sondern immer mehr vom Bürgertum bestimmt wurde.

In der Romantik war das Ansehen des künstlerischen Genies auf dem Höhepunkt angelangt. Je mehr Gesellschaft und Individuum auseinander drifteten, je mehr sich eine Öffentlichkeit im Gegensatz zur Privatheit des bürgerlichen Heims konstituierte, je stärker also ganz generell die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt die gesellschaftliche Praxis dominierte, desto mehr lag man jenen zu Füßen, von denen man sich Heilung von diesen Widersprüchen versprach, den Künstlern. Die Epoche der Romantik ist geprägt durch ein ganz tiefsitzendes Gefühl des Ungenügens an der Realität. Dieses Ungenügen löst sich scheinbar dort, wo der individuelle Künstler Werke zu schaffen vermag, die universelle Gültigkeit beanspruchen, indem sie auf einen imaginären Raum verweisen und die Realität transzendieren.

Das größte Genie der Musikgeschichte[1] war Richard Wagner, und die Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der Machtergreifung Hitlers sind geprägt nicht nur von einer Auseinandersetzung mit seiner Musik, sondern - mehr noch - mit seinem Anspruch auf Totalität. Was heutzutage nur noch als Größenwahn verstanden werden kann, wenn man sich mit der Figur Wagners beschäftigt, war ein seinerzeit ernstgenommener und wörtlich gemeinter Anspruch auf Welterlösung. Mit dieser Elle mußte sich jeder Künstler messen lassen und sich selber messen.

Vor diesem Hintergrund wundert mich letztlich wenig, daß so viele Musiker mit einer Bewegung sympathisierten, die jene Totalität auf die Politik übertrug - dem Nationalsozialismus.

  1. [1] Ich halte Wagner keinesfalls für den größten Musiker aller Zeiten, sondern für denjenigen, der in der Musik dem Begriff des Genies am vollkommensten entsprach.