Handwerker und Genies
Viele Komponisten gelten als vielleicht handwerklich begabt, aber wenig originell. Nur einzelne Begabungen ragen weit aus der großen Menge heraus, weil sie Musik erfinden, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Der Unterschied in der Wertschätzung von Tontechniker und Opern-Diva findet sich hier wieder im Gegensatz zwischen Eklektiker und Genie.
Als Eklektiker wird ein Komponist bezeichnet, der sich tradierter Techniken bedient, und mit ihnen - handwerklich wie geschickt auch immer - eine Neuheit zweiter Ordnung kreiert. Man sagt dann: das klingt wie ein Stück von Brahms, oder: die Harmonik ist ganz wie die von Wagner. Man findet nichts grundlegend Neues, sondern nur eine neue Zusammenstellung von längst bekanntem Material.
Ein Genie hingegen erfindet stets völlig neu. Seine Musik kann nur von ihm sein - selbst Einflüsse aus seiner Ausbildung sind derart in einen eigenen Stil integriert, daß man sie nicht mehr analytisch fassen kann. Mehr noch: ein Genie erfindet auch sich selbst immer wieder neu. Wenn ein neues Problem auftaucht, verwandelt sich der Künstler selbst, um es so zu lösen, wie nur eine neue Ausgabe seines Selbst dies vermag.
Gelegentlich führt dieses Bild zu befremdeten Fragen, dann nämlich, wenn Genies plötzlich Werke schreiben, die das Publikum als eklektisch empfindet. Das vielleicht drastischste Beispiel bietet Richard Strauss, der nach „Salome” und „Elektra” plötzlich mit dem „Rosenkavalier” herauskam, und auch danach nie wieder an die Irritationen anknüpfte, die er mit seinen beiden ersten Opern auslöste (mit denen er auch berühmt wurde). Ähnliches gilt auch für Richard Wagner, der sich nach dem „Tristan” in eine Harmonik zurückzog, die von den radikalen Entwürfen zuvor weit entfernt ist. Fast könnte man meinen, daß „Salome” oder „Tristan” eher Zufälle waren, und eben nicht die Essenz des Wirkens von Genies.
Als Genie bezeichnet und verehrt man Komponisten, deren Leistungen sich nicht mehr handwerklich-technisch erklären lassen. Dabei ist die Zuordnung einzelner Musiker in diese Kategorie höchst subjektiv und umstritten. Das liegt daran, daß man sich hier nicht über die Bedeutung von unterschiedlichen Aspekten einer Komposition - das „Was” - streitet, sondern lediglich seiner Bewunderung für die Leistung des Komponisten - das „Wie” - Ausdruck verleiht. Man kann z.B. Richard Wagner als Genie verehren, weil er im Tristan eine neue Harmonik erfand, oder - ganz etwas anderes - weil er in Bayreuth ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Theater und Architektur inszenierte. Man kann aber auch der Meinung sein, daß seine Musik sich vollständig von theatralischen Wirkungen abhängig gemacht hat, so daß ihr Wert grundsätzlich in Frage steht. Das sind drei völlig unterschiedliche ästhetische Konzepte, die darüber entscheiden, ob man Wagner als Genie verehrt, oder sein Wirken womöglich verachtet.