1.8.2009

Musikinstrumente (3)

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Ich bin der Meinung, daß mit zunehmendem Grad der Mechanisierung eines Instruments die Komplexität der mit ihm gespielte Musik zunehmen kann, ohne daß der Zuhörer dies zunächst bemerkt.

In der 8. Sinfonie von Gustav Mahler wird das Seitenthema des ersten Satzes von den acht Gesangssolisten a capella - also ohne Begleitung durch andere Instrumente - vorgetragen. Selbst wenn diese Passage von überdurchschnittlichen Sänger dargeboten wird, ist es außerordentlich schwierig, dem harmonischen Verlauf durch bloßes Hören zu folgen - und wenn sie von eher mittelmäßigem Personal gesungen wird, ist sie schlichtweg unverständlich. Dabei gibt es eigentlich keine besonderen Schwierigkeiten, die Harmonien anhand der Noten zu analysieren. Auch später, wenn das Thema mit Orchesterbegleitung wiederholt wird, kann das Ohr ohne größere Probleme folgen.

Ähnlich, wenn auch weniger dramatisch, verhält sich dies im gesamten Genre des Streichquartetts. Sobald die harmonischen Beziehungen nur etwas komplexer werden, braucht es hervorragend intonierende Musiker, wenn der Hörer noch einigermaßen durchsteigen soll. Die Klagen von geübten Hörern über die unzumutbare Intonation selbst von berühmten Streichquartett-Ensembles sind keine Seltenheit, und wenn es darum geht, Quartette von Brahms oder gar Schönberg aufzuführen, ist dies eine höchst diffizile Aufgabe für die beteiligten Musikern, die nur allzu oft daran scheitern.

Auf einem Klavier hingegen ist es denkbar einfach, auch komplexeste Harmonik zu transportieren. Ich habe sogar den Eindruck, daß reine Klaviermusik erst seit etwa Beethoven tatsächlich „funktioniert” - bei Haydn und Mozart werden die strukturellen Elemente vom Klavier derart überbetont, daß die Musik fast schon naiv klingt. Die Streichquartette der Wiener Klassik hingegen vermitteln sich immer noch stark über ihren Klang, wodurch die Einfachheit der Struktur überdeckt wird und dem Hörer nur vermittelt entgegen tritt.

Extrem gesteigert wird die Möglichkeit für wildeste Komplexität dort, wo die Mechanisierung auf die Spitze getrieben wird. Hier sind plötzlich auf allen Ebenen musikalischer Parameter Experimente möglich, die dort nicht funktionieren, wo noch Menschen bei der Aufführung steuernd eingreifen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Musik Conlon Nancarrows[1], der mit dem mechanischen Klavier gearbeitet hat: die Durchhörbarkeit seiner Kanons und Fugen, in denen jede Stimme mit (minimal) unterschiedlichem Tempo gespielt wird, läßt sich nur durch komplette Automatisierung der Performance realisieren. Erwähnenswert sind auch die Arbeiten all jener, die in den 50ern und 60ern mit elektronischen Mitteln Kompositionen gestaltet haben, deren Aufführungen ohne jene Präzision nicht nachhörbar wären, die nur unter Verzicht auf „live” agierende Musikern möglich ist.

Interessant ist, daß das Aufkommen der Computer keineswegs dazu geführt hat, die Möglichkeiten von komplett automatisierter Musik weiter zu radikalisieren[2]. Die sog. avancierte Musik hat stets einen weiten Bogen um die neue Technik gemacht und sich statt dessen darauf zurückgezogen, wieder Werke für traditionelle Instrumente zu schaffen. Es gibt im Jazz den einen oder anderen Versuch, wenigstens Sequenzer und Synthesizer zu benutzen - das sind freilich Spielereien, die zwanzig Jahre und mehr zurück liegen, und kaum oder keine Folgen gehabt haben.

Wirklich tragende Bedeutung hat der Computer letztlich nur im Bereich der Popmusik gewonnen - und dort, in einer überaus ironischen und paradoxen Pointe, hat man alles daran gesetzt, die technischen Ressourcen in die Hände zu bekommen, um ausgerechnet die Performance der Sänger zu automatisieren.

  1. [1] Eine kurze Notiz zu dem Komponisten findet sich in meinem Essay über Rhythmik.
  2. [2] Wahrscheinlich gibt es Ausnahmen, von denen mir allerdings nichts bekannt ist.
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