Tori Amos - Abnormally Attracted To Sin

Ungefähr alle zwei Jahre kommt Tori Amos mit einem neuen Album heraus, und nachdem die letzten drei Werke recht poplastig daherkamen und teilweise derart eingängig waren, daß mancher Fan die Gefolgschaft aufgekündigt hatte, war ich neugierig, wohin sie ihr Weg führen wird. Um es kurz zu machen: sie hat sich wieder ihrer Ecken und Kanten besonnen, und knüpft dort an, wo sie nach dem „Choirgirl Hotel” abgebogen war.

Jeder der siebzehn Songs hat einen eigenen Charakter - Tori Amos schöpft aus einer großen Spanne unterschiedlicher Stile und bedient sich eines breiten Spektrums musikalischer Mittel. Das Album ist längst nicht so Klavier-lastig, wie man das bei ihr gelegentlich vorfindet, auch wenn ihr - wunderbar ab- und aufgenommener - Bösendorfer-Flügel eine wichtige Rolle spielt (nur eines der Stücke ist eine reine Klaviernummer). Ein Titel ist geradezu Gitarren-lastig, zwei andere leben von ihren Streicher-Arrangements. Erstaunlich oft kommen Drumloops zum Einsatz, auch wenn diese - mit einer Ausnahme - nicht das komplette Stück durchlaufen, sondern immer mit dem groovenden Schlagzeug von Matt Chamberlain (mit dem Tori schon jahrelang zusammenarbeitet) kontrastiert werden. Schließlich gibt es auch eine Reihe elektronischer Sounds, die mich meistens an analoge Oberheim-Synthies erinnern, wabernd in ganz viel Nebel.

Entscheidend ist aber, daß jedes Stück mindestens eine überraschende Wendung hat, die jede Eignung zum Hit unterminiert und das Abdudeln im Radio unwahrscheinlich macht. Das geht los bei „Give”, wo eine stark mit Effekten verfremdete Gitarre einen Ton in Viertelnoten spielt, und diesen immer wieder mit der kleinen Sekunde darunter „verdickt” - bevor Klavierakkorde dazukommen und deutlich machen, worin die harmonische Funktion der beiden Töne liegt. Das geht weiter (in „Welcome To England”) mit einer Sequenz im hohen Register der Bassgitarre, die durchlaufende Achtel zu harmonisch schwer einzuordnenden hohen Tönen aus dem Synthesizer spielt. Irgendwann wird das aufgelöst, das Schlagzeug setzt für den Drumcomputer ein, der Baß rutscht nach unten, und die Akkordfunktionen werden klar - das wirkt, als habe jemand das Fenster geöffnet und frische Luft kommt ins Zimmer. „That Guy” startet mit einem eigentümlichen Marschrhythmus und wird zunächst von gezupften Streichern begleitet, bevor das auf halber Strecke plötzlich zu einer pathetischen Hymne mit einem bombastischen Streicher-Arrangement wird. - Und so fort.

Keines der Stücke läßt sich letztlich in eine Schublade einordnen (auch wenn es in „Maybe California” eine veritable Ballade gibt, die vielleicht „Northern Lad” vom „Choirgirl Hotel” Konkurrenz machen könnte), ohne daß dies beliebig wird oder wie ein Puzzle oder eine Montage unzusammenhängender Teile klingt. Da wirkt immer eine formale Logik, in der der überraschende Kontrast auf die vorher benutzten Mittel deutlich verweist. Ich habe die CD erst einmal gehört, und den Eindruck von formaler Schlüssigkeit gewinne ich normalerweise erst nach mehrmaligem Hören (oder auch nicht) - hier hingegen ist das unmittelbar nachvollziehbar.

Eine letzte Anmerkung habe ich zu Tori Amos' Gesang. Sie ist wohl die Erste gewesen, die konsequent die Nebengeräusche des Singens gestalterisch einbezogen hat - die Atemgeräusche hat sie stets deutlich betont und rhythmisch benutzt. Davon ist hier nichts mehr oder kaum noch etwas übrig geblieben; Tori singt mittlerweile ohne Manierismen einfach und „straight”. Irgendwie fehlt mir da eine Ebene des Ausdrucks - obwohl ich mir vorstellen kann, daß sie bewußt auf ein Mittel verzichtet, das mittlerweile Jeder einsetzt.