25.3.2009

Improvisation in der Musik (4)

(Themenanfang)

Der improvisatorische Freiraum im Jazz wird nicht nur durch auskomponierte Passagen eingeschränkt und in vorgegebene Bahnen gelenkt, sondern auch durch das musikalische Material, das der jeweiligen Stilistik zugrunde liegt. Auch hier gibt es wieder zwei Aspekte: zum einen ist ein Musiker schlicht durch sein Training fixiert - was er vorher fest in die Finger „einprogrammiert” hat und schließlich nur noch wörtlich abrufen kann, wird man kaum als spontane Improvisation bezeichnen können (ich vertage diesen Punkt auf später).

Zum zweiten finden sich in jeder Stilistik gewisse Barrieren, die nicht ohne weiteres überschritten werden können. Im Swing wird man kaum damit rechnen, daß ein Saxophon plötzlich „free” spielt - solange es keinen völlig neuen Stil erfinden will, wird es sich an die vorgegebenen Akkorde halten - und sich nicht einmal in den äußersten Spannungsbereichen der "upper tensions" bewegen, für die erst der Modern Jazz der 60er und 70er zuständig ist. Das Gerüst aus musikalischem Material, auf dem eine Improvisation aufsetzt, kann dabei mehr oder weniger enge Grenzen setzen, wobei selbst im Free-Jazz bestimmte Konventionen bestehen, die nicht ohne Grund verletzt werden können.

Die Basis der allermeisten Stile bildet ein Cantus firmus (wie man im Barock sagen würde) aus ständig wiederholten Akkorden, den sog. Changes. Es gibt einige populäre Formmodelle, den 12-taktigen Blues oder die 32-taktige AABA-Form etwa; es finden sich aber im Modern Jazz auch Changes mit ungeraden Taktzahlen. Dabei variiert die Komplexität der Akkordfolgen über eine große Bandbreite. Der Blues mit seinen drei Akkorden wird auf der einen Seite noch untertroffen durch modale Strukturen, die sich mit einem einzigen Akkord begnügen und z.B. auf einem ständig wiederholten Basslauf basieren. Am anderen Ende der Skala finden sich Stücke im Up-Tempo, in denen pro Takt zwei Akkorde folgen, die zudem wild durch alle Tonarten modulieren.

John Coltrane
John Coltrane

Dabei leuchtet ein, daß über einfache Strukturen nicht nur einfacher zu improvisieren ist, sondern daß sie auch wesentlich größere Freiräume bieten. In der erwähnten Up-Tempo-Nummer ist der Solist letztlich mehr damit beschäftigt, den formalen Vorgaben zu folgen, als eigene Ideen spontan zu entwickeln (umso mehr staunt man dann, wenn John Coltrane über das klassische Beispiel eines solchen Stückes - „Giant Steps” - über Minuten die Ideen nicht ausgehen wollen). Hingegen bedeutet eine „modale Fläche” - selbst in einem flotten Tempo -, daß der Solist sich alle Zeit der Welt nehmen kann, und in großer Ruhe seine Improvisation entwickeln kann.

Man findet hier eine Begründung für das Paradox, daß Jazzrock und Freejazz nahezu zeitgleich entstanden, und zudem in ihrer Entwicklung von Musikern vorangetrieben wurden, die sich kurz zuvor noch eine gemeinsame Bühne teilten. Paradigmatisch wären das John Coltrane mit „Ascension” (1965), und Miles Davis mit „Bitches Brew” (1970). Beide Musiker kommen letztlich aus der Tradition des Bebop (wenn man zwei im Grunde diametral unterschiedliche Philosophien ausnahmsweise unter ein gemeinsames Schlagwort zusammen fassen darf), und beide versuchen, sich von den Fesseln zu befreien, die ihnen diese Tradition beschert.

Die Folgerungen ergeben beträchtlich voneinander abweichende musikalische Ergebnisse - gemeinsam ist ihnen aber ein ganz erheblich erweiterter Spielraum für improvisatorische Spontanität.

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