7.2.2009

Musik & Form (10) - Worte

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Ich bin der Meinung, daß es zwei Pole gibt, zwischen denen letztlich alle Versuche pendeln, formale Geschlossenheit in der Musik zu stiften: man kann das musikalische Material so ordnen, daß aus ihm selbst heraus ein erkennbares Beziehungsgeflecht entsteht; oder man kann außermusikalische Mittel hinzuziehen, die bereits über eine eigene Struktur verfügen, die sie dann gewissermaßen der mit ihr verknüpften Musik „leihen”.

Letzteres geschieht überall dort, wo Musik mit dem Wort verbunden wird. - Dabei bilden Lied und Oper wieder zwei Pole, wenn man die Komplexität dieser Verbindung benennen will.

In den einfachen Liedformen, die sich im Wesentlichen auf Strophe und Refrain beschränken, die stets unverändert wiederholt werden, ist die Funktion des Textes noch ohne Bedeutung, da die musikalische Form auch ohne Worte verstanden werden kann - Musik und Text existieren hier noch ohne Bezug nebeneinander. Ähnliches gilt für die Opernarie. In ihr kommt dem Text sogar eine untergeordnete Rolle zu, weil Worte wiederholt werden können und eine Silbe sich auf mehrere Noten verteilen läßt, so daß der Text schließlich nur noch zu einem Vehikel für die Melodie des Sängers wird.

Anders sieht es aus, wenn man sich bei den „durchkomponierten Liedern” umschaut, beispielsweise bei Franz Schuberts Vertonung des »Erlkönig«: hier zeigt sich die Musik als ständiger Strom aus einem immer neu variierten Grundmotiv, in der nichts mehr wiederholt wird. Die Musik wird letztlich befreit, weil sie für die formale Ordnung nicht länger zuständig ist - der Komponist kann darauf vertrauen, daß das dem Lied zugrunde liegende Gedicht dem Hörer den Weg weist.

Ähnliches gilt für das Rezitativ in der Oper: hier geht es nur darum, dem Publikum den Text möglichst verständlich vorzutragen, wird im Rezitativ doch das dramatische Geschehen vorangetrieben. Jeder Silbe entspricht genau eine Note; der Gesang folgt den Hebungen und Senkungen des gesprochenen Wortes und verzichtet auf eine eigene musikalische Gestalt.

Die Darstellung oben ist eine starke Vereinfachung der realen Verhältnisse; ich glaube aber, daß sie durchaus dazu taugt, einige Anker zu werfen, an denen man sich festhalten kann. - Auf der einen Seite findet sich danach ein beliebiges Nebeneinander von Wort und Musik, auf dem anderen Extrem eine deutliche Vormacht des Worts. Demnach - und das ist eine recht erstaunliche Behauptung - gibt es aber keine Verbindung zwischen Text und Musik, bei der die musikalische Ebene das Übergewicht gewinnt. Dies gilt selbst dann, wenn man sich die komplexeste Verflechtung ansieht, die diesbezüglich existiert - in den Opern Richard Wagners und seiner Nachfolger.

Bekanntlich schafft Wagner die Dualität zwischen Rezitativ und Arie ab[1], die seit Claudio Monteverdis »Orfeo« im Zentrum jeder Oper stand. Ihm schwebt das Ideal einer „unendlichen Melodie” vor, in der ein kompletter Opernakt zu einem ununterbrochenen Fluß verschmilzt - womit er damit nichts anderes als die Sehnsucht nach einer unbedingten Einheit der musikalischen Form beschreibt. Trotzdem existiert hier - in der Praxis des Wagnerschen Opernschaffens - die Musik letztlich nur neben dem Text, und zwar auf einer Ebene, von der aus sie das dramatische Geschehen auf der Bühne kommentiert und deutet - und auf der das Orchester fast zur eigenen Bühnengestalt avanciert. Das heißt: trotz allem Beziehungsreichtums, den die Leitmotive in diese Musik bringen, ist es letztlich die dramatische Gestaltung, die die Form bestimmt.

Am Drama nimmt die Musik zwar teil - aber sie treibt es nicht voran. Das tut allein das Wort.[2]

  1. [1] Zumindest behauptet er dies - in der Praxis sieht das gelegentlich ganz anders aus.
  2. [2] Vielleicht findet sich eine - eine einzige - Ausnahme von dieser These. Das wäre der »Tristan« - und dies würde auch die Faszination erklären, die bis heute ungebrochen von ihm ausgeht.
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