5.2.2009

Musik & Form (9) - Komplexität

(Themenanfang)

Ich probiere mal eine These, von der ich noch nicht weiß, wie weit sie trägt:

  • Wenn ein Konzertpublikum bei einem Werk der Neuen Musik abschaltet und womöglich am Ende die Musiker auspfeift und -buht, liegt das nicht daran, daß scharfe Dissonanzen, extreme Spieltechniken o.ä. verwendet wurden. Das liegt daran, daß das Publikum die Wahrnehmung einer formalen Ordnung vermißt.

Diese Behauptung ließe sich allenfalls durch empirische Studien im Hörlabor nachweisen oder wiederlegen - ich habe hier keine Theorie, sondern nur einige Beobachtungen.

Man kann einem Publikum, das in einem den Werken von Haydn und Mozart verpflichteten Abonnementskonzert sitzt, ausnahmsweise auch eine Schostakowitsch-Symphonie zumuten, ohne daß dort dann allzu sehr geschimpft wird. Einerseits sind die Dissonanzen bei Schostakowitsch teilweise offener und schmerzhafter als in den Werken Schönbergs (wo sie ohne Ausnahme gründlichst durchgehört und haarfein ausbalanciert erscheinen). Auf der anderen Seite liegt aber die formale Gestaltung hier offen zutage - man kann die Einfälle und Motive gut erinnern, gerade weil sie streckenweise so dissonant sind. In einem Schönberg-Werk ist der musikalische Fluß in einem ständigen Übergang. Bei Schostakowitsch wird mit geradezu filmischen Mitteln montiert, was zu scharfen Kontrasten und damit geradezu verbildlichten formalen Blöcken führt. Auch wenn ein ungeübter Hörer seine Musik vielleicht nicht mag, so kann er sie doch verstehen und ihr zumindest mit einem gewissen Respekt begegnen.

Wenn man die Konzert- und Opernskandale ansieht, die die Entstehung der Neuen Musik in den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts begleiteten, kommt man immer wieder zu dem Punkt, daß eine neue, zuvor unbekannte formale Gestaltung das Publikum zum lautstarken Aufbegehren brachte. Schönbergs zweites Streichquartett ist über weite Strecken noch reine Spätromantik - allein die Tatsache, daß in den letzten beiden Sätzen eine Gesangsstimme hinzutritt, hat das Publikum in einen tumultösen Protest geführt[1]. Alban Bergs Lieder nach Postkartentexten Altenbergs haben nicht durch ihre Verwendung von freier Atonalität für einen handfesten Skandal gesorgt, sondern durch ihre zuvor völlig ungekannten Kürze. - Als Gegenbeispiel kann man Richard Strauss' Oper »Salome« anführen: trotz ihrer teilweise atemberaubenden Kühnheit gerade in der Harmonik wurde sie ein Kassenschlager, dem Strauss seinen Ruhm wie seinen Reichtum verdankt.

Ein anderes, wohl deutlich beeindruckenderes Beispiel findet sich in der Wahrnehmung von Filmmusik. Die meisten Menschen nehmen sie kaum bewußt wahr und bemerken es höchstens, wenn sie plötzlich fehlt (es gibt gelegentlich Filme, die völlig auf Musik verzichten und dadurch eine höchst eigenartige und ungewohnte Atmosphäre von Kargheit und Ödnis erzeugen). Wenn man aber einmal bewußt zuhört, ist man häufig überrascht, welch extreme Experimente die Filmkomponisten anstellen - mit welch avancierten Mitteln sie gelegentlich arbeiten, ohne daß dies vom Publikum bestraft würde. Das liegt - um für die oben aufgestellten These Argumente zu sammeln - daran, daß die Bilder und die Schnitte ungemein dabei helfen, formale Zusammenhänge auf die Musik zu übertragen. Sie selber muß kaum eine erhörbare Struktur haben - der Film leiht ihr sozusagen seine formale Schicht.

György Ligetis Orchesterwerk »Atmosphères« kann jedermann problemlos „ertragen”, wenn es Kubriks »2001« unterlegt ist (obwohl es in der Eingangssequenz für mehrere Minuten die gesamte akustische Ebene des Films in Beschlag nimmt, ungestört von Geräuschen oder Dialogen). Wenn man es einem Hamburger Abonnements-Publikum der Konzertreihe am Sonntagvormittag zumutet, kommt es jedoch - immer noch - zu Hohn, Spott und Buhgerufe.

  1. [1] Gattung wie Form des Streichquartetts umwehte eine für heutige Zeiten kaum nachvollziehbare Aura der Heiligkeit - jede Veränderung an ihr wurde als Frevel empfunden und rigoros bestraft.
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