Musik & Form (7) - Komplexität
Wenn musikalische Form sich durch die Erinnerung an etwas bereits zuvor Erklungenes konstituiert, stellt sich die Frage, was denn genau erinnert werden soll. Wiederholung und Variation können ja auf sehr unterschiedlichen Ebenen aufsetzen - es kann sich um einen kompletten Abschnitt, einen speziellen Rhythmus oder eine Melodie handeln, ja es ist sogar möglich, eine klangliche Struktur - die Ebene des „Sound” - so zu verwenden, daß sie formbildend wirkt. Man kann die Frage anders formulieren: wie gelingt es dem Hörer, die Grenzen zwischen musikalischen Ereignissen zu erkennen?
Wenn es sich um ein einfaches Formelement wie z.B. die Strophe in einem Lied handelt, muß man ihre Grenze zum Refrain erfassen, bevor man ihre Wiederkehr erkennen kann. Dies gelingt umso einfacher, je schärfer der Kontrast zwischen den Formelementen deutlich wird. Wenn z.B. in Rhythmik, Klangfarbe (Instrumentierung), und/oder Lautstärke ein deutlicher Unterschied oder sogar ein drastischer Bruch besteht, funktioniert die Abgrenzung problemlos.
Schwieriger wird es, wenn nur ein Teilaspekt verwendet wird, der sich später wiederholt. Wenn z.B. nur eine Melodie wiederkehrt, dies jedoch in einem neuen harmonischen Gewand oder in einer neuen instrumentalen Farbe, wird ein deutlich genaueres und differenzierteres Hinhören verlangt: der Hörer muß - ab einem bestimmten Punkt - in der Lage sein, analytisch die musikalischen Ebenen voneinander zu trennen, um ihre Wiederkehr als formbildend zu erleben. Wo ihm dies mißlingt, weil ihm z.B. Hörerfahrung oder Ausbildung fehlen, wird er die Zusammenhänge verfehlen und möglicherweise ratlos vor einem Werk stehen.
Dabei gibt es eine sehr tiefe Staffelung von immer komplexer „versteckten” musikalischen Ereignissen. Es bedarf z.B. großer Übung, um nicht nur Melodie und Akkordbewegung, sondern auch die Mittelstimmen in einem halbwegs komplexen Satz wirklich wahrzunehmen. Wenn sich in ihnen formale Zusammenhänge verbergen, steht ein Hörer, dem diese Übung fehlt, auf verlorenem Posten. Wenn es sich dann womöglich noch um Melodien handelt, die ohnehin schwer zu erinnern sind, kann es auch für einen ausgebildeten Musiker unmöglich werden, sich die Konstruktion ausschließlich durch das Hören zu erschließen - dort hilft dann nur ein Blick in den Notentext. - Ein Beispiel sind Schönbergs Orchestervariationen op.31: bereits in der ersten Variation ist die Melodie in den Holzbläsern versteckt - wobei hier 1) das gesamte Orchester spielt und das Holz nur Teil eines zusammengesetzten Klanges ist, 2) die Melodie aus einer sehr abstrakten Zwölftonfolge besteht, und 3) auch ihre Urform kaum zu erkennen ist, weil sie fast unkenntlich - weil ohne Kontraste - erst nach einer längeren Einleitung eingeführt wird.