11.1.2009

Musik & Form (1) - Wiederholung, Kontrast, Variation

(Komplettes Essay)

Mein Essay über Rhythmik beginnt mit der Behauptung, daß Musik eine Kunst sei, die in der vierten Dimension strukturiert ist, der Zeit. - Während die Ebene der Rhythmik durch den »Puls« (gewissermaßen das Ticken des Sekundenzeigers) etabliert wird, braucht es formale Gestaltung, um größere Zusammenhänge herzustellen - den Verlauf eines Stückes von mehreren Minuten etwa, oder womöglich die fünf Stunden einer Wagner-Oper.

Wenn man von »Form« redet, tendiert man leicht dazu, letztlich nach Formeln zu suchen, denen Musik zu folgen scheint. Jede große Musik definiert jedoch ihre eigene Form - mehr noch: Musik wird erst dann „groß“, wenn sie sich jedem Schema verweigert. Dadurch wird es schwierig, verbindliche Regeln aufzustellen, und z.B. präzise zu definieren, wie der Sonatenhauptsatz funktioniert; es wird sogar schwer, so etwas wie eine geschichtliche Entwicklung der Formen zu behaupten und nachzuzeichnen, weil man dann unterstellen würde, daß es einen Werkzeugkasten der Formen gibt, aus dem die Komponisten sich bedienen, und dem sie bei Gelegenheit eigene Erfindungen hinzutun. Statt dessen muß man letztlich jedes einzelne Werk darauf abklopfen, wie seine Architektur aussieht und „funktioniert“. Es genügt nicht, bei einem Stück etwa festzustellen, daß es dem Schema des Sonatenhauptsatzes folgt – man muß herausbekommen, warum es dies tut. Man hat es also letztlich mit der individuellen Organisation jedes einzelnen Werks zu tun. - Dennoch gibt es einige Aspekte allgemeiner Natur.

Ich bin der Meinung, daß man alle Aspekte musikalischer Form unter drei Kategorien zusammenfassen kann: Wiederholung, Kontrast, und Variation.


Wiederholung


Ein „Vorher“ rückt nur dann ins Bewußtsein, wenn man es als Differenz zum „Jetzt“ erlebt, und dies geschieht durch unsere Fähigkeit des Erinnerns. Musikalische Abläufe benutzen diesen Mechanismus, indem sie bestimmte Aspekte wiederholen, sei dies eine Melodie, eine Folge von Akkorden, oder eine bestimmte rhythmische Figur. Wenn der Hörer sie wiedererkennt, kann er einen zeitlichen Bezug herstellen – völlig chaotische Abläufe ohne jede Wiederholung wären wie ein tickender Sekundenzeiger ohne dessen Wiederkehr ganz oben im Display der Uhr zu jeder Minute, oder den Schlag zur vollen Stunde.

Musik, die mit kurzgliedrigen Wiederholungen arbeitet, steht dabei am Anfang und sogar noch vor jeder Kunstmusik: Volksmusik etwa, Tänze, aber auch die gängigen Hits unserer Popkultur bestehen aus einer ständigen Wiederholung von nur zwei oder drei Teilen, Refrain und Strophe etwa. Je komplexer und kunstvoller Musik wird, desto weiter voneinander entfernt sind die sich wiederholenden Teile; das geht so weit, daß in einer Sinfonie von mehr als einer Stunde Länge vom Hörer erwartet wird, daß er sich im Finale an ein Thema erinnert, das er im ersten Satz gehört hat.

[Wird fortgestzt]

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