Gnosis
Am Anfang der Menschheitsgeschichte gibt es noch keine Differenz zwischen dem Leben der Menschen und jenem der Natur: alles ist lebendig, das Wasser, das Feuer, ja selbst die Bäume und Steine. Irgendwann gewinnt die erste Abstraktion immer mehr Einfluß - die Götter werden erfunden, Verkörperungen der feindlichen Natur, aber nicht mehr diese selbst. Dabei erscheinen zuerst Vertreter von sehr konkret erfahrenen Naturgewalten, der Sonnengott etwa (eine Konstante in wohl allen frühen Gesellschaften), aber auch der des Windes, des Feuers, usf.
Neben dieser frühen Abstraktion gibt es ein Zurücktreten des Menschen vor sich selbst in einem Akt der Demut - der Kult um das Opfer entsteht. Dabei geht es darum, den Göttern etwas abzutreten, was man selber braucht; man läßt bei der Ernte die letzten Früchte am Baum stehen, oder legt die ersten Körner bei der Aussaat neben die Furche - immer mit dem Gedanken, die Götter gnädig zu stimmen, indem man sich selber zurücknimmt.
Dabei ist die Erfahrung, daß ein Opfer vor Unheil nicht immer schützt, kein Anlaß, die Praxis selber in Frage zu stellen - die Folgerung lautet stets, daß man zu wenig gegeben hatte. Also muß man beim nächsten Mal nicht nur ein paar Ähren, sondern ein Tier opfern, und als auch daß nichts hilft, einen Menschen. Die Praxis, junge Mädchen als Opfer zu bringen - die nicht nur im Märchen und bei den Maja eine Rolle spielt, sondern für eine Vielzahl von frühen Kulturen nachweisbar ist -, weist nicht etwa auf deren Entbehrlichkeit und Geringschätzung hin. Im Gegenteil: das höchste Opfer ist das, welches der Sippschaft das meiste abverlangt, und das ist die Hergabe des Lebens einer gebärfähigen Frau.
Die Natur wird mehr und mehr durchschau- und beherrschbar, und verliert ihren unmittelbaren Schrecken. Die Gedankenwelt der Menschen wird gleichzeitig immer abstrakter, weniger auf das konkrete Ereignis fokussiert, sondern immer mehr auf Regeln von dessen Wiederkehr: die Anbetung des Sonnengotts weicht einem immer genaueren Kalender.
Der erste, der den Opferkult verbietet, ist Zarathustra (seine Lebensdaten liegen im Dunklen, zwischen 1900 - 1200 v.d.Z.): der Gang der Natur ist soweit durchschaut, daß es keiner konkreten Götter mehr bedarf, sondern man damit beginnt, sich auf abstrakte Werte zu beziehen. Von Zarathustra geht die bahnbrechende Idee aus, daß der Gang der Welt sich im Kampf zwischen Gut und Böse erklären läßt - er gilt als der Erfinder der Moral.
Gleichzeitig - und das macht diese Geschichte in meinen Augen so bemerkenswert - geht diese neue Unabhängigkeit einher mit dem Zweifel an der Zuverlässigkeit und Bedeutung der Sinne für das Erkennen der Welt. Als der Mensch sich von der unmittelbaren Bedrohung durch die Götter befreit, wird er gleichzeitig auf sich selber zurückgeworfen - und erlebt umgehend die Grenzen der Rationalität.
Was bei Zarathustra noch mit Ritualen verknüpft ist, in denen sich die Priester durch Rauschmittel in Ekstase versetzten, wird im antiken Griechenland zu einem Thema, das seinerseits der Rationalität unterworfen ist: die Philosophie entsteht. Die bedeutendste von ihnen, jene Platons, stellt dieselben Fragen, die zuvor schon in allen Religionen jener Zeit jeweils gleich beantwortet wurden, und die auch Platon letztlich nur variiert: man macht immer wieder die Erfahrung von der Fehlbarkeit der menschlichen Sinne - und vermutet dennoch das Zentrum der Welt im eigenen Selbst.
Gnosis (griechisch: "Erkenntnis") ist ein religiöser Begriff, der das ekstatische Verschmelzen vom Bewußtsein mit der Welt bezeichnet, in dem es kein Individuum mehr gibt, kein Geschiedensein von Subjekt und Objekt[1]. Diese Idee bzw. die dazugehörigen Praktiken gibt es in jeder Religion - Mystiker und Sufiten in Christentum und Islam; der Buddhismus ist komplett um sie gebaut. Das philosophische Gegenstück findet sich bei Plato, geht im Mittelalter fast verloren (die Kirchenväter greifen auf Aristoteles zurück), und wird - ausgerechnet - vom größten Philosophen der Aufklärung wieder aufgegriffen, von Immanuel Kant.
Die Dialektik, in der bei der zunehmenden Beherrschung der äußeren Natur gleichzeitig eine unbeherrschbare innere Natur sichtbar wird, ist vergleichbar mit einem Albtraum, aus dem man erwacht - nur um festzustellen, daß man auch das Wachsein nur träumt.
- [1] Vergl. Peter Watson: Ideen. München 2008. S.301. - Es scheint, daß Peter Watson in dieser Definition des Begriffs auf einsamem Posten steht - die Wikipedia faßt zusammen, was wohl allgemeiner Konsens ist. Es gibt leider keinen anderen Begriff, zu dem die Definition paßt; deshalb werde ich hier bis auf weiteres Watson folgen.
Nachtrag: Ich habe zu dem Thema denEntwurf einer Erzählung beizutragen.