22.11.2008

Der Weg in die Musik der Moderne (4)

(Themenanfang)

Über die Vieldeutigkeit des Tristan-Akkords hatte ich bereits berichtet. Seine zweite - und vielleicht zentrale - Eigenart findet sich in der Wirkung einer sich lösenden Spannung, wenn ihm eine weitere Dissonanz folgt. In der Sequenz, in der sich der Tristanakkord in einen Dominantseptakkord bewegt, findet sich jenes Muster von Spannung-Auflösung wieder, das bis zu diesem Zeitpunkt in der Musikgeschichte dem Verhältnis von Dominante und Tonika vorbehalten war; hier hingegen erscheint die Dominate als Ruhepunkt.

In zahllosen theoretischen Untersuchungen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß man es an dieser Stelle letztlich mit atonaler Musik zu tun hat, einer Harmonik also, die kein tonales Zentrum mehr kennt, sondern ruhelos umherirrt und in endlosen Schleifen kein Ende findet.

Der Effekt des Ungefähren, nicht wirklich zuende Geführten ist natürlich genau jener, den Wagner hier sucht, und an dem er - bis auf wenige Ausnahmen - in der gesamten Oper festhält. Eine "Kunst des Übergangs" wolle er schaffen, betont er in während des Entstehens des Werkes geschriebenen Briefen immer wieder. Tatsächlich wirken die wenigen Einschübe, in denen Dreiklänge in klaren Kadenzen erscheinen, wie Fremdkörper, fast schon, als seien sie jetzt die eigentlichen Dissonanzen. - An der Faszination über diese Wirkung hat sich seit der Uraufführung (1865) bis heute nichts geändert.

Dennoch greift es zu kurz, wenn man Wagner die alleinige Autorenschaft an diesem Umbruch zuschreibt. Bereits bei Beethoven gibt es die Tendenz, das tonale Zentrum nicht einfach als gegeben hinzustellen - und zwar klar erkennbar bereits in dessen erster Sinfonie (uraufgeführt 1800). Der erste Akkord in der langsamen Einleitung ist ein Dominantseptakkord - was heute kaum noch auffällt, wirkte auf die Zeitgenossen durchaus skandlös, wurde doch hier nicht die Tonika einfach etabliert, sondern gewissermaßen begründet. - Im Spätwerk Beethovens finden sich zahlreiche Experimente, sich im ersten Satz erst langsam und unter großen Umwegen der Haupttonart anzunähern, ein Spiel, das die Selbstverständlichkeit, mit der die Zeitgenossen diese fraglos im Zentrum - und damit am Anfang wie am Ende - erwarteten, ähnlich radikal in Frage stellte, wie Wagner dies dann später mit anderen Mitteln tut.

Aber auch die Auffassung, daß mit dem "Tristan" ein gerader Weg beginnt, der mit einer immer weiter fortschreitenden Zersetzung der Kadenz und zunehmender Entfernung vom tonalen Zentrum letztlich konsequent in der Atonalität Schönbergs und dessen Schülern endet, ist so letztlich nicht zu halten.

Damit nähere ich mich dem eigentlichen Thema, nämlich der Beschreibung jener Tendenzen in der Musik nach Wagner, die in ihrem großen Reichtum an völlig unterschiedlichen Stilistiken heute kaum noch richtig wahrgenommen werden. Zuweilen scheint es, als habe die Musik nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem bedingungslosen Anknüpfen an Schönberg und Webern den Blick verstellt auf alternative, völlig anders gestrickte Entwicklungen, die Wagners Erbe mindestens ebenso konsequent hätten fortführen können wie Zwölftontechnik oder Serialismus - die freilich mit Hitlers Machtergreifung ein gewaltsames Ende fanden.

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