15.11.2008

Tori Amos - Live At Montreux / Little Earthquakes

Die erst kürzlich erschienene DVD mit Live-Aufnahmen aus den Jahren 1991/92 dokumentiert Tori Amos' erste Schritte ihrer Karriere mit zwei Sets, die sie komplett solo am Klavier absolvierte. Beim Auftritt von 1991 ist sie noch völlig unbekannt; das ändert sich noch im Laufe jenes Jahres, nachdem ihr Debutalbum "Little Earthquakes" bei Kritik und Publikum auf enorm positive Resonanz stößt - beim Gig ein Jahr später tritt sie vor ein Publikum, das weiß, was es erwartet. Mußte sie zunächst auf einer Bühne spielen, die bereits für den nächsten Act vorbereitet war und mit einem (elektrischen) Fenderpiano Vorlieb nehmen, hat sie beim Auftritt ein Jahr später die Bühne für sich und einen vernünftigen Flügel zur Verfügung. Bei beiden Gelegenheiten hat sie Material von "Little Earthquake" gespielt, was eine hervorragende Gelegenheit gibt, alle möglichen Vergleiche anzustellen.

Zunächst - und obwohl ich stets Künstler und Kunst strikt voneinander trenne, läßt sich das nicht ignorieren - ist erstaunlich, in welch kurzer Zeit Amos sich von einem unsicheren Mädchen, das vor dem letzten Stück die Uhr aus der Hosentasche zieht (wohl um zu gucken, ob noch Zeit für einen Song übrig ist), dann dem Publikum eine Erklärung schuldig zu sein glaubt und fast verlegen sagt: "I pull my watch in my pocket, because it would mess up my outfit" - wie aus diesem unsicheren Mädchen eine Diva wird, die mit ausgesprochen arrogant wirkender Attitüde ein Jahr später das erste Stück kurzerhand unterbricht, um dem Publikum mitzuteilen, daß man mit dem Gequassel aufzuhören und gefälligst zuzuhören habe, und zum Schluß nur kurz den Arm hebt, in der Tür zum Bühnenausgang fast mit dem Moderator der Show zusammenrasselt, der ihr Blumen überreichen will, diese kurz angebunden noch in der Tür an sich nimmt, und ohne einen weiteren Blick entschwindet. Tori Amos steht wohl im Ruf, etwas - well: exzentrisch zu sein; hier zeigt sich, daß das erst zutage tritt, als sie Erfolg hat.

Wie auch immer: ihre Songs sind unglaublich reich an wirklich originellen Einfällen; gerade in der Harmonik wird man immer wieder von Wendungen überrascht, die völlig unüblich, aber im Nachhinein ebenso plausibel sind. Ihre Art Klavier zu spielen geht weit darüber hinaus, einfach den Gesang zu begleiten. Im Grunde steckt sämtliches musikalische Material, das sich in den Arrangements der Studioaufnahme findet, bereits in der Klavierbegleitung; im Studio wurde das Klavier stark zurückgenommen und einzelne Stimmen und thematische Einfälle über andere Instrumente verteilt.

Was sie jedoch vor allem anderen auszeichnet, ist ihre ganz außerordentliche Stimme. Was man auf dem Studioalbum hört, ist mehr oder weniger identisch mit dem, was sie auch live macht: da ist nicht eine einzige unsauber oder ungenau intonierte Stelle zu hören. Sie verfügt über zwei echte Oktaven, wobei der Übergang in die Kopfstimme sauber und unmerklich ist - wenn sie ihn nicht gerade absichtlich betont. Man findet eine schier unglaubliche Anzahl unterschiedlicher Farben, die sie kontrolliert abrufen kann: so gibt es ein Spektrum von fast unhörbarem Flüstern, bis hin zu mächtigem Druck, neben sich überschlagenden oder "sprechend" gesungenen Tönen - usf. Dabei ist das streckenweise von großer Virtuosität, mit großen Sprüngen oder mit Melismen in hohem Tempo.

Ich kannte von Tori Amos bisher nur zwei Alben aus neuerer Zeit, die ich zwar auch großartig finde, bei denen ich aber stets das Gefühl habe, daß sie dazu neigen, mit allzu großer Geste daher zu kommen, daß sie tendenziell überarrangiert sind. Ich denke, ich kann jetzt etwas genauer benennen, was mich stört: das ist Tori Amos' Verhältnis zur Ebene der Rhythmik.

Bei ihren Soloauftritten geht es definitiv nicht darum, das Publikum zu rocken: Amos entwickelt keinen Groove. Das ist zunächst überhaupt kein Qualititätsurteil (die gesamte Klassik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, tut dies ebenso wenig) - zumal sie durchaus einen Sinn für Timing an den Tag legt, und mit einer deutlich ausgeprägten Agogik arbeitet. Bei dem Studioalbum bleibt das jedoch komplett auf der Strecke. Von einer Nummer abgesehen, die auch auf der CD nur vom Klavier begleitet ist ("Mother"), wurde komplett zum Clicktrack (i.e. gleichförmigen Metronom) aufgenommen. Das hat zunächst natürlich technische Gründe: wenn man mit dem Computer an Arrangements arbeitet, kann man an in "freier" Time aufgenommenem Material leicht verzweifeln, weil man kein "Raster" hat, anhand dessen man zusätzliches Material zeitlich ausrichten könnte. Dadurch entfällt aber jede Agogik, jede Möglichkeit also, mit leichten Verzögerungen und Beschleunigungen Bögen zu betonen und Zusammenhänge zu verdeutlichen.

Dem steht dann eine Behandlung von Schlagzeug und Percussion gegenüber, die das Desinteresse an der Rhythmik bestätigt: das sind völlig einfallslose Beats, die die Drums letztlich nur aus klanglichen Gründen einsetzen - und damit ähnlich motiviert sind wie in Marschmusik, wo Becken und Pauke dazu dienen, die Aufmerksamkeit mit Gewalt statt Überzeugung auf sich zu ziehen.

Aber ich bin gerade dabei, einen Punkt der Kritik unverhältnismäßig zu betonen. Im Moment sitze ich hier mit aufgesetztem Kopfhörer, "Winter" von den "Earthquakes" auf den Ohren, und mit der Mission beschäftigt, die Nachbarschaft endgültig gegen mich aufzubringen - meinem Mitgesinge dürfte man im Stockwerk unter mir nämlich eher kritisch gegenüberstehen.

(Die Songtexte von Tori Amos findet man u.a. hier)

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