Der Weg in die Musik der Moderne (Teil 3) - Tristan-Akkord

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Dies ist eine der berühmtesten Sequenzen der Musikgeschichte:

Klangzitat (Daniel Barenboim / Berliner Philharmoniker):

Der Pfeil markiert den sog. Tristan-Akkord – ein Konstrukt, das die Musikwissenschaften seit 1865 immer wieder beschäftigt hat[1]. Es gehört(e) zum guten Ton für jeden Musiktheoretiker, eine eigene Meinung zur Funktion dieses Akkords für den Zusammenhang zu haben, und zwar am besten eine, die kein anderer zuvor vertrat. Die Glaubensstreitigkeiten in diesem Fall haben sich verflüchtigt; die Wikipedia gibt den Stand der Dinge recht gut wieder. – Der entscheidende Punkt ist aber, daß man an dieser Stelle eine Debatte mit einigem Recht überhaupt führen kann.

Die Harmonik hatte sich bis zu diesem Punkt in der Musikgeschichte zur Funktionsharmonik entwickelt, in der genau eine Tonart im Zentrum einer Komposition steht, die von allen anderen Tonarten gewissermaßen umkreist wird. In C-Dur ist G-Dur die Dominante, F-Dur die Subdominante; in der Folge aus F-G-C definiert sich die C-Dur-Kadenz. Die übrigen Dreiklänge, die sich aus den Tönen der C-Dur-Tonleiter bilden lassen, können als Stellvertreter für die drei Kadenzakkorde dienen. Drei- oder gar Vierklänge, die Töne enthalten, die nicht in C-Dur vorkommen, haben noch entferntere Verwandschaftsverhälnisse zur Ausgangstonart, sind aber immer hierarchisch auf sie bezogen. – Ohne das an dieser Stelle ausufern zu lassen: entscheidend ist, daß jeder Akkord eine eindeutige (well: schon hier mindestens zweideutige) Funktion hat. Alle harmonische Entwicklung gewinnt ihre Spannung aus der Gravitation im Abstand zur Haupttonart.

Im Tristan-Akkord findet sich das erste Beispiel einer Harmonik, die mehrdeutig (besser: vieldeutig) ist – man kann von hier in verschiedene Richtungen weiter gehen; Schönbergs Analyse spricht von „vagierenden” Akkorden, die in ihrer Vieldeutigkeit als Schaltstelle für überraschende harmonische Sprünge dienen können.

So bezieht sich der Tristan-Akkord auf die Dominante von a-moll, „löst” sogar sich scheinbar in sie „auf”, so daß er den Charakter einer Zwischendominante bekommt (tatsächlich gibt es im Verlauf der Oper einige Stellen, wo die Sequenz nach a-moll bzw. A-Dur weitergeführt wird). Ebenso könnte man ihn aber auch – wenn man „dis” und „gis” enharmonisch nach „es” und „as” verwechseln darf, und das kann man hier zweifellos tun - als zweite Stufe (Stellvertreter der Subdominante) in Es-Moll deuten (was nur Theorie ist – zumindest was den „Tristan” betrifft). Dann könnte es sich aber auch um ein Konstrukt handeln, das sich wirklich jeder funktionsharmonischen Deutung entzieht, nämlich – ich weiß, das klingt jetzt etwas ausgeklinkt – um die Dominante der Vermollung der Subdominante mit hochalterierter Terz. Genau so erscheint der Akkord dann aber auch, und zwar ausgerechnet in den allerletzen Takten der Oper, nach ca. vier Stunden, für die finale Schlußwirkung – die sich dann sogar einstellt (E-Dur mit kleiner Septe geht nach H-Dur).

[Wird fortgesetzt]