Musik und Form (1)

In jedem Kunstwerk bedingen sich Form und Inhalt, Struktur und Aussage, Konstruktion und Material. Man kann eine literarische Erzählung nicht auf ihre inhaltliche Ebene reduzieren, ohne aus ihr einen Zeitungsartikel zu machen; ebenso wenig läßt sich ein Gemälde ausschließlich aus der Perspektive seiner formal-gestalterischen Merkmale betrachten, ohne es auf eine Konstruktionszeichnung zu reduzieren. Form und Inhalt bedingen einander. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben und bildet ein Ganzes, das - bei dem Versuch, die Ebenen dennoch voneinander zu trennen - zu einem Schema zerfließt, dem keine Wirklichkeit entspricht.

Ein Fachgebiet wie die "Musikalische Formenlehre" produziert totes Wissen, wo es sich darin übt, konkrete Musik unter abstrakte Schemata zu subsumieren; der Erkenntnisgewinn geht dann dort gegen Null. Der Versuch, etwa die Sonatenform auf ein Modell zu reduzieren[ 1], produziert sogar schlimmeres als ein Klischee: dem verzerrenden Blick auf die Wirklichkeit, der jede Simplifizierung erzeugt, steht hier eine Verzerrung entgegen, die sich noch als Erkenntnis tarnt.

Solche Reduktion auf abstrakte Formen, in denen jede konkrete Gestalt eingeordnet und wiedergefunden werden soll, ist ganz besonders gefährlich in einem Bereich, der ohne Worte ist. In der Musik sind Inhalt und Form nicht ohne weiteres wenigstens abstrakt voneinander zu trennen. Dies ist anders in der Literatur, in der das Benannte - wenigstens vorläufig - als etwas anderes erscheint als die Art und Weise, es in Worte zu fassen. Musik hingegen scheint zunächst, um ein berühmtes Wort aufzunehmen, nichts anderes zu sein als tönend bewegte Form.

Was ist die inhaltliche Ebene von Musik? Was ist ihr "Material", das sie in einen formalen Zusammenhang stellt, welches jedoch nicht dieser formale Zusammenhang selber ist?

  1. [1] Ein Modell, demzufolge zwei kontrastierende Themen aufeinander treffen, nach bestimmten Regeln erst gegeneinander antreten, um schließlich in der gleichen Tonart versöhnt friedlich dem Ende entgegen zu gehen.