Joseph Haydn - Streichquartette Op.20 nos.1-6 (CD)
Joseph Haydn
The Complete String Quartets
The Angeles String Quartet
Philips Classics
Der Schuber ist teuer (~€150 für immerhin 21 CDs), aber lohnend.
Das Angelis-Quartett war mir vorher unbekannt, kann sich aber durchaus mit weit berühmteren Streichquartetten messen. Die Intonation – selbst bei Spezialisten wie dem Julliard–Quartett zuweilen eine heikle und brüchige Angelegenheit – ist stets hervorragend. Rhythmische Akkuratesse mit sehr sparsamer Agogik läßt auch die langsamen Sätze nicht in gesuchter „Bedeutung” und „Tiefe” ersaufen. Das Zusammenspiel ist tadellos und läßt vermuten, daß ausgiebig geprobt wurde [1]. Nicht zuletzt ist auch die Aufnahmequalität hervorragend – wobei ich allenfalls über den etwas mächtigen (Kirchen)Hall des Aufnahmeortes mäkeln kann.
Ein Detail zu der Interpretation fällt auf, das zu grundsätzlichen Überlegungen anregt: obwohl in den Noten ausdrücklich verlangt, verweigert das Angelis-Quartett im jeweils ersten Satz der Quartette die Wiederholungen von Durchführung&Reprise.
Normalerweise würde ich angesichts eines derart eklatanten Verstoßes gegen den Notentext ganz schlechte Zensuren verteilen; hier jedoch geschieht er aus gutem Grund. Anders als Haydn wissen die Interpreten nämlich, worauf der Sonatenhauptsatz hinausläuft: auf einen Spannungsbogen, der mit der Reprise des Seitenthemas in der Gundtonart unwiderruflich zu Ende ist, und der sich eben nicht wiederholen läßt.
Wenn Haydn im zweiten Teil Wiederholungszeichen setzt, greift er auf alte Muster zurück, und zeigt, daß er mit etwas experimentiert, dessen Implikationen er selber noch nicht vollständig versteht – es ist kein Zufall, daß alle sechs Werke mit „Divertimento” überschrieben sind.
Die Interpretation setzt nicht dort ein, wo die Subjektivität eines Interpreten eine Partitur „aufbläht” (und genau das passiert beim „Spielen mit Gefühl”), sondern da, wo man die Partitur ihre eigenen Bahne verfolgen und ihre eigenen Ziele ansteuern läßt. Die Bewegung, die von der reinen Reproduktion eines Musikstücks fortführt, kommt also nicht von außen, von der Subjektivität des Interpreten, sondern ist eine Bewegung, die potentiell in jeder Partitur angelegt ist und darauf wartet, von einem Interpreten freigesetzt zu werden. Das Ereignis bei einer echtem, angemessenen Interpretation besteht nicht darin, daß der Interpret seine Gefühle ausdrückt, sondern daß sich die Musik postum neu erfindet.
(Alessandro Baricco – Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin (Nachdenken über Musik), München 1999)
- [1] Eigentlich ist es ja unglaublich, daß man das ausdrücklich vermerken muß.