2.10.2008

Joseph Haydn - Streichquartette Op.20 nos.1-6

Wenn Adornos These zutrifft (zu der ich einen durchaus kritischen Stand vertrete), daß sich ein Streichquartett Schönbergs leichter hören läßt als eines von Beethoven, dann gilt sie für die Werke Haydns[1] erst recht. Im ersten Eindruck trifft man hier auf eine Musik, die geradezu das Klischee dessen vertritt, was man sich gemeinhin unter „Klassik” vorstellt: einfachste Strukturen, nette Melodien, darunter ein simples Gerüst aus Dreiklängen: man sieht die Musiker in ihren Barockkostümen vor sich, und riecht förmlich das Puder auf ihren weißbezopften Perücken.

Wenn man an den Werken der Spätromantik geschult versucht, sich in der Tonalität im Übergang zwischen Barock und Klassik zurechtzufinden, hat man zwangsläufig den Eindruck allergrößter Einfachheit –- und unterliegt dem nahe liegenden Kurzschluß, es mit dem „Papa Haydn” zu tun zu haben, der zeitlebens im fürstlichen Haus schrullig vor sich hin werkelte, und auf dem Höhepunkt seines Schaffens seinen Arbeitgeber auf den ausstehenden Urlaub hinwies, indem er im letzten Satz einer Sinfonie einen Musiker nach dem anderen von der Bühne schickte.

Man kann Haydn nur gegenübertreten, wenn man bereit ist, gewohntes Hören nahezu komplett aufzugeben. Wenn man dies tut, betritt man freilich einen Wundergarten mit ganz einmaligen Farben und betörenden Düften, wie es ihn in der Geschichte der Musik nur ein einziges Mal gegeben hat.

Von den 24 Sätzen im op. 20 gleicht keiner dem anderen. Jeder von ihnen hat nicht nur einen völlig eigenem Charakter: auch die Probleme, die es zu lösen gilt, sind immer neu und anders. Der komplette Ausdrucksraum, den ein Streichquartett bietet, wird ausgelotet: es gibt Passagen, die in so tiefe Lage gesetzt sind, wie dies irgend geht. Woanders sind die Streicher so hoch gesetzt, daß man vermuten könnte, Wagner habe hier für das Vorspiel zum Lohengrin geübt. Alle Instrumente bekommen thematische Arbeit, wobei das Cello manchmal höher geführt wird als die erste Geige. Die technischen Anforderungen an die Ausführenden sind z.T. enorm, insbesondere die erste Geige ist von einem Amateur definitiv nicht mehr zu bewältigen. Es gibt Fugen, die dokumentieren, wie versiert Haydn das Handwerkszeug seiner barocken Lehrer zu benutzen vermochte.

Die Menuette, Tänze und Arien mögen sich einer Zeit verdanken, in der Kompositionen für das festliche Diner, nicht jedoch den verdunkelten Konzertsaal bestellt wurden. Dennoch aber gibt es dramatische Verwicklungen, die zum Besten gehören, was die Musik aller Zeiten hier zu bieten hat – es gibt ein geradezu dialektisches Abarbeiten an extrem gegensätzlichen Charakteren. Man muß den zweiten (langsamen) Satz von op.20, Nr.2 hören (Klangbeispiel unten): hier ist Haydn dort, wohin danach Beethoven in seinem Spätwerk gelangt, und dessen Komplexität und Zerrissenheit man erst bei Mahler wiederfindet.

Außerdem kann man hier – fast schon beiläufig – miterleben, wie die Form des Sonatenhauptsatzes die Bühne der Musikgeschichte betritt (die sie – bis heute – nicht mehr verlassen hat). Im 1. Quartett Es-Dur sieht man noch, wie der erste Satz in seiner Struktur fast ein wenig klappert im Bemühen, die Vergangenheit der Divertimenti mit ihrer Folge von Tanzsätzen zu verlassen (wobei alle sechs Quartette das „Divertimento” noch im Titel tragen). Da findet sich ein klarer Plan im Verhältnis der Tonarten: im ersten Teil wird aus Es- B-Dur; die Reprise hingegen verbleibt in Es-Dur, und nimmt die Spannung der Exposition zurück. Etwas wie ein Seitenthema sucht man hingegen vergeblich: man findet weitgehend Variationen des Hauptthemas, so daß dem harmonischen Kontrast keine Entsprechung im Kontrast zweier Themen gegenüber steht. – In den folgenden Quartetten dieser Reihe findet man nach und nach immer mehr Spuren eines „echten” zweiten Themas – am deutlichsten vielleicht in 3. und 5. Quartett, weil sie in Molltonarten kommen, und das Auftauchen der Durparallele im Seitensatz fast schon notwendig neues melodisches Material erfordert.

  1. [1] Das Wörterbuch vom Firefox kennt den Namen nicht, und schlägt als Ersatz vor: „Handy” – ein hübsches Beispiel für das Wirken des Algorithmus, der vermeidliche Dreher entdeckt.
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