29.9.2008

Über Rhythmik (9)

(Themenanfang)

Ich habe den Graphen noch ein wenig geändert – und mich dabei gefragt, was für einen Nutzen man aus dieser Systematik[1] eigentlich ziehen kann, außer musikalische Beispiele abstrakt zu ordnen (mir ist klar, daß ich mich im Folgenden auf emotional vermintem Gelände bewege; was folgt, sind ein paar Ideen und keine abschließenden Bewertungen).

Musik auf den extremen Polen dieser Systematik ist ohne rhythmische Spannung. Die Computergrooves der Popmusik etwa sind eindimensional und ebenso automatisiert erzeugt wie automatisch durchschaubar. Sie sind – in aller Paradoxie eines im Vordergrund stehenden Schlagzeugs – letztlich ohne jeden Rhythmus. Diese Aussage gilt aber ebenso für das Theatergrollen der tremolierenden Streicher in einer Wagneroper – das hat schlicht überhaupt keine rhythmische Struktur, kein Raster also, von dem abgewichen werden könnte, wodurch dann etwas wie Spannung entstünde.

Selbst wenn diese These stimmt, kann man aus ihr keine Werturteile ableiten. Es spielt für die Qualität von Musik nicht die geringste Rolle, wo man sie in rhythmischer Hinsicht wiederfindet – selbst die Abwesenheit von Spannung mag eine ästhetisch-inhaltliche Rechtfertigung haben. – Man kann jedoch gewisse Forderungen an Notation wie Interpretation ableiten, auch ohne über „Qualität” zu befinden.

Zum einen scheint es mir wenig sinnvoll, eine Rhythmik, die derart komplex ist, daß sie letztlich mit dem Ohr nicht nachvollziehbar ist, überkomplex zu notieren. Mir fallen die Arbeiten von Brian Ferneyhough ein: sie wimmeln vor N-Tolen, die sich noch überlagern, so daß man einen Rechenschieber braucht, um heraus zu bekommen, ob sie im Taktmaß aufgehen. Selbst wenn man sie vom Computer spielen ließe, würden sie dem Ohr nicht den mindesten Sinn ergeben – bei einem Vortrag durch z.B. ein Streichquartett ganz zu schweigen. – Wohlbemerkt: ich stelle nicht das klingende Resultat in Frage. Mir kommt es aber so vor, als ob hier ein völlig überzogener Aufwand für dessen Realisierung betrieben wird.

Im Gegenzug glaube ich, daß es überall dort, wo es um komplexe rhythmische Strukturen geht, sinnvoll ist, sie so exakt wie nur irgend möglich umzusetzen. Ein gutes Beispiel wäre der letzte Satz von Mahlers „Lied von der Erde”, in dessen Partitur man zahlreiche „Vier-gegen-Drei”-Überlagerungen findet. Wenn man da noch versuchte, mit schwankendem Tempo „Ausdruck” und „Bedeutung” zu erreichen, hätte der Hörer keine Chance, eine Rhythmik zu entschlüsseln, die in ihrem Hin- und Herschwanken eine ganz entscheidende Ebene von Bedeutung transportiert: ich würde hier einen Dirigenten fordern, der stur das Tempo schlägt.

  1. [1] Einer Systematik übrigens, bei der ich nicht schlicht vergessen habe, die Quelle zu zitieren, sondern die, soweit mir bekannt, in diesem Blog erstmals auftaucht (womit nichts über ihren Wert gesagt wäre).
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