Waltraud Meier - Frauenliebe und -leben

Waltraud Meier ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Sängern und Sängerin ihrer Generation: sie kann Wagners „Isolde” ebenso souverän singen wie den Alt in Mahlers „Lied von der Erde”, die Marie in Alban Bergs „Lulu", und Lieder von Schumann. Ihre Stimme trifft völlig mühelos das dreigestrichene C, und kommt herunter bis in die Tenorlage drei Oktaven tiefer. Die hohen Töne haben nichts angestrengtes und sind vom Geschrei himmelweit entfernt - dabei hat die mittlere und tiefe Lage eine Kraft und Wucht, wie man das sonst allenfalls von gelernten Altstimmen kennt.

Gewöhnlich lassen sich Stimmen in zwei Kategorien unterteilen: in O- und in A-Stimmen. Viele „dunkel” klingende Stimmen gehören in die erste Kategorie, weil sie alle Vokale in Richtung des „O” verschieben, ein „A” etwa eher wie ein geöffnetes „O” klingen lassen; umgekehrt sind die „hellen” und „offenen” Stimmen dadurch geprägt, daß sie eher die „A”- und „E”-Laute betonen, und die dunkleren Vokale in diese Richtung ziehen (ein „o” wird zum „ö”).

Bei Waltraud Meier ist von solcher Disbalance nichts zu spüren: sie wechselt völlig mühelos zwischen beiden Ebenen, als wenn es nur eine Marotte wäre, wenn andere dies nicht so tun. Die Folge ist - neben anderem - eine außergewöhnliche Textverständlichkeit: man braucht definitiv kein Textbuch, wenn man ihren Interpretationen folgen will.

Dann hat ihre Stimme eine große gestische Kraft: man sieht sie, selbst wenn sie nur durch die Lautsprecherboxen zu hören ist, förmlich vor sich. M.E. liegt das daran, daß sie über ein großes Spektrum von Gestalten für ihre Stimme gebietet, was ihren Gesang sehr sprechend macht - und wenn man jemand Sprechen hört, assoziiert man sehr leicht dazugehörige Gesten. Dazu dient zunächst die erwähnte die Sprachverständlichkeit.

Hinzu kommt ihr ganz unglaublicher Umgang mit dem Vibrato. Wenn in Schumanns "Frauenliebe" die Gesangsstimme vor Glück jubelt, muß die Meier nicht schreien, um das Klavier komplett zu übertönen; statt dessen macht sie die Stimme mit einem schnellen Vibrato erdrückend breit – und zwar ohne hörbar hoch- und runter zu eiern, wie man das sonst so oft hört. Umgekehrt ist sie aber auch in der Lage, ihre Stimme komplett ohne jedes Vibrato in einen Ton tiefster Traurigkeit zu versetzen, mit dem man fast zwangsläufig das Bild eines Menschen verbindet, der einem mit hängenden Schultern und zugewandten Handflächen gegenübersteht.

Es mag sein, und das klingt jetzt etwas euphorisch. Dazu hat es aber auch jeden Grund: es braucht nur eines kurzen Beispiels – Schumann, Frauenliebe, 4. Lied – um das zu belegen (allein wie die Meier hier das "ausgeträumet"[1] (Anfang der zweiten Phrase, Takt 17+18) ausgestaltet, ist eine Doktorarbeit wert).

  1. [1] Man kann das ja mal ausprobieren: man muß auf einem Ton von "O" nach "I" gehen, so daß das hinterher immer noch nach "äum" klingt - dabei muß man aber nicht nur den Ton halten, sondern auch noch den Ausdruck (um das mal billig zu machen: z.B. im Grad des Vibratos). Über das Timing, das es da braucht, spreche ich erst gar nicht.