Harzring 2 (2)

Am Sonntag hatte I. - eine kleine, dünne, auf den ersten Blick unscheinbare Frau - ein Einzeltraining. Schon bei der ersten Runde wurde eine derart katastrophale Fahrtechnik sichtbar, daß ich ihrem Fahrlehrer sowie dem Prüfer, der ihr den Führerschein gegeben hat, gerne mal die Meinung gesagt hätte.

Später, beim Mittagessen, nahm ich I. das zweite Mal bewußt wahr, als ich ihr vom Restaurant aus zusehen konnte - und ich war wirklich verblüfft, was sich nach gerade mal vier Turns an Fortschritt zeigte. Von der anfänglichen Schräglagenscheu war nur noch wenig übrig, man konnte einen Lenkimpuls erkennen, und in den Linien in den Kurven war klar ersichtlich, daß da jemand begriffen hatte, wie das geht.

Am Ende des Tages habe ich noch einmal genauer zugeschaut - und konnte ein zweites Mal nicht recht glauben, was da zu sehen war: trotz nasser Fahrbahn war I. da in einem wirklich flotten Tempo unterwegs, das locker ausreichen dürfte, um so manchem routinierten Tourenfahrer die Tränen in die Augen zu treiben.

Nach dem letzten Turn schließlich hörte ich im Vorbeigehen, wie sie sich darüber beschwerte, daß ihr Hauptständer in der Schräglage auf der Fahrbahn aufgesetzt sei, was ihr einen heftigen Schreck eingejagt habe.

Unglaublich.

Noch unglaublicher ist freilich der Hintergrund: I. ist in ihrer fünften Fahrstunde so schwer gestürzt, daß sie anschließend zehn Monate im Krankenhaus verbracht hat - mit diversen schweren bis schwersten Verletzungen. Für mich wäre das wahrscheinlich ein Grund, sehr ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich je wieder auf ein Moped steige. Nicht so I.: kaum aus dem Krankenhaus entlassen, nimmt sie wieder Fahrstunden, macht, nachdem sie den Führerschein in den Händen hat, ein Fahrtraining mit, bei dem sie sich in Rekordzeit von einer absoluten Anfängerin in eine engagierte Kurvenräuberin verwandelt.

Ganz so unscheinbar kommt mir diese Frau jetzt nicht mehr vor.